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Mauerfall: Wie sich zwei Kinder der DDR zurückerinnern


Zwei DDR-Söhne über 1989
"Die Mauer ist offen? Was für ein blöder Witz!"

MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 09.11.2019Lesedauer: 6 Min.
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Der Maler Norbert Bisky und der Fotograf Andreas Mühe, beide Kinder der DDR, blicken auf ihre Erinnerungen an die DDR zurück.Vergrößern des Bildes
Der Maler Norbert Bisky (l.) und der Fotograf Andreas Mühe, beide Kinder der DDR, blicken auf ihre Erinnerungen an die DDR zurück. (Quelle: imago-images-bilder)

Blick zurück nach vorn: Ein Maler und ein Fotograf, Kinder der DDR, die im vereinten Land Karriere machten, unterhalten sich vor Publikum über ihr Leben damals und heute.

In diesem Jahr des Jubiläums trafen sich zwei Freunde, die nach dem Mauerfall zu Künstlern wurden und erzählten sich ihre Geschichte. Und weil sie einerseits mit ihren Familien tief in der DDR wurzelten und andererseits im vereinten Deutschland Fuß fassten, beschlossen sie, ein öffentliches Gespräch zu führen. Da sie schön selbstironisch und ernsthaft zugleich über ihr Leben mit und ohne Mauer redeten, waren Zuhörer wie ich fasziniert, lachten viel und fühlten sich bereichert.

Andreas Mühe und Norbert Bisky

Der eine der beiden ist Andreas Mühe. Sein Vater ist Ulrich Mühe, der fabelhafte Schauspieler aus "Das Leben der Anderen", der viel zu früh starb. Der Sohn ist ein bemerkenswerter Fotograf, der als Merkel-Porträtist bekannt wurde. Mittlerweile widmet er sich eigenen Projekten.

Der andere ist Norbert Bisky, ein bemerkenswerter Maler, Meisterschüler von Georg Baselitz. Farbintensiv malt er kraftvolle Männer, der sozialistische Realismus wirkt nach, allerdings werden bei ihm Kinder gefressen und abgerissene Gliedmaßen bluten aus.

Die beiden sitzen sich gegenüber und fragen sich gegenseitig aus. Nichts ist einstudiert, sie improvisieren, aber natürlich sind sie es gewohnt, vor Publikum Auskunft über sich zu geben. Das Eindrucksvolle ist die Lakonik, mit der der Fotograf und der Maler Episoden aus ihrem Leben früher und heute erzählen. Bei aller Ironie und Selbstironie ist der Ernst unüberhörbar. Es ist ja ihr Leben. Es ist ihre Existenz. Damals wie heute.

Theater und Nomenklatura

Am 9. November 1989 war Andreas Mühe zehn Jahre alt und sorgte sich darum, ob seine Mutter nach Hause kommen würde. Sie lehrte an der Ernst-Busch-Schule und war Intendantin an der Volksbühne. Solche Leute waren nicht unbedingt linientreu und deshalb lag das wachsame Auge der Staatssicherheit beständig auf ihnen.

Mühe erzählt, seine Mutter hätte zu ihm und seinem kleinen Bruder gesagt: Wenn ich mal nicht heim komme, esst ihr Knäckebrot und müsst nicht in die Schule gehen.

Norbert Bisky war zehn Jahre älter und Soldat der Nationalen Volksarmee, stationiert in Mecklenburg-Vorpommern. Ich habe nichts mitbekommen, was in Ost-Berlin los war, erzählt er. Beim Morgenappell sagte unser Vorgesetzter: Die Mauer ist offen. Und wir sagten: Was für ein blöder Witz!

Mühe wie Bisky stammen aus nicht ganz gewöhnlichen DDR-Familien. Die Mühes waren eine Theaterfamilie. Sie lebten auf ihrem eigenen Planeten, sie waren prinzipiell verdächtig und standen folgerichtig unter steter Beobachtung.

Die Biskys waren eine Kommunisten-Familie und gehörten der Nomenklatura an. Vater Lothar ging 1958, da war er 18 Jahre alt, aus dem Westen in die DDR, trat zwei Jahre nach dem Mauerbau in die SED ein und leitete 1989 die Filmhochschule in Babelsberg. Seine Frau war Inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit (IM), wie sich nach der friedlichen Revolution zum Entsetzen der beiden Söhne herausstellte. Der jüngere Sohn Jens, ein bekannter Journalist, schrieb ein Buch über die Brüche seiner Familie.

Wäre die Mauer nicht gefallen ...

Nach der Wende wechselte Lothar Bisky in die Politik und ließ sich zum Vorsitzenden der PDS wählen, das war die Nachfolgepartei der SED. Biografisch ein konsequenter Schritt.

Sohn Norbert probierte dieses und jenes aus, wusste nicht, was er wollte. Er versuchte es mit Germanistik und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität. Nichts davon berührte ihn dauerhaft tief. Und dann, sagt er halb im Spaß und halb im Ernst, habe er sich gedacht: Wenn mein Vater Parteichef wird, kann ich auch Künstler werden.

Mit 24 traute er sich endlich zu, Kunst an der Hochschule der Künste zu studieren, und entwickelte sich ziemlich schnell zu dem Maler, der er heute ist. Wäre die Mauer nicht gefallen, sagt Norbert Bisky, hätte ich niemals Kunst studiert.

Erinnerungen an den Sozialismus

Die DDR: Woran erinnerst du dich?, fragt der ältere Bisky den jüngeren Mühe. Dass ich schon in der 1. Klasse über KZs reden musste. In der 1. Klasse, sagt er zu Bisky, stell dir vor.

Und du?, fragt Mühe zurück, woran erinnerst du dich? An Nachmittage in schlecht gelüfteten Klassenzimmern, in denen wir glauben sollten, dass Tschernobyl eine Erfindung des Westens war und wir mit 13 über den Nato-Doppelbeschluss diskutieren mussten.

Von der DDR bleibt bei ihnen das Absurde zurück, die Überforderung, das Schwere, aber auch die Angst, dass die Mutter verhaftet wird und das Tragische, dass die andere Mutter heimlich der Stasi zu Diensten war, worüber aber bei dieser Gelegenheit nicht geredet wird.

Was hat dich stärker geprägt, der Mauerfall oder die Neunzigerjahre?, fragt der Maler den Fotografen. Na ja, sagt Andreas Mühe, ohne Mauerfall nicht die Freiheit dieser Jahre. Ausführlich schwärmt er von den weiten Flächen in der Stadt, in denen er sich unbeobachtet bewegte, auch den Bombenlöchern aus dem Zweiten Weltkrieg, die einfach sich selbst überlassen blieben und Abenteuerspielplatz waren.

Ein kleines Stück Freiheit

Sie konnten machen, was sie wollten, als Kinder und Heranwachsende in dieser Zeit. Der alte Überwachungsstaat war weg und der neue Staat noch nicht da.

Für mich, beantwortet Norbert Bisky seine eigene Frage, waren die Neunzigerjahre Freiheit und Anarchie. Der gedachte freie Mensch durfte seine Grenzen ausloten, was er selbst ausgiebig tat. Als er genug ausgelotet hatte, ging er zum Ernsthaften über und begann das Kunststudium.

Beide kosteten die Freiheit aus. Sie breiteten sich im neuen Lebensraum aus. Sie wussten, dass die Anarchie nicht von Dauer sein würde und genossen sie, solang es ging. Irgendwann drang der neue Staat mit seinen Kontrollinstitutionen in den Freiraum ein und Normalität zog ein.

Bisky war 24, als er in festere Bahnen trat. Mühe begann mit 16 eine Lehre als Fotolaborant und fotografierte danach zehn Jahre lang Aufträge ab. Dann schwenkte er zu seinen Projekten um.

Vater Bisky bekam noch vor seinem Tod 2013 den Ruhm des Sohnes mit. Vater Mühe, gestorben 2007, natürlich auch, nahm aber weniger Anteil, hört man aus den Worten des Sohnes heraus.

Eines der härtesten Themen

In einem Projekt beschäftigte sich Andreas Mühe eindringlich mit seiner Familie. So viele sind schon tot: der Vater, dessen zweite Frau Jenny Gröllmann, dessen dritte Frau Susanne Lothar. Für ein Tableau ließ der Fotografen-Sohn sie als Skulpturen lebensecht nachbauen und stellte die Toten und die Lebenden miteinander in ihr altes bürgerliches Ambiente. Er nannte das Projekt "Mischpoche". Im Museum Hamburger Bahnhof war sein Familienbild bis Mitte August ausgestellt.

Wie kannst du das, wie kriegst du das hin?, fragt Norbert Bisky und wird todernst. Für mich ist Familie, sagt er, eines der härtesten Themen. Ganz nah.

Immerhin unternahm Bisky einen Versuch. Seine Ausstellung in der Schweiz, in der Villa Langmatt in Baden (Kanton Aargau), nannte er "Fernwärme", ein Synonym dafür, was für ihn Familie ist. Allerdings ging er einen Umweg. Er malte nämlich nach historischen Fotos aus dem Archiv der Familie, die 1900 die Villa Langmatt gebaut hatte, nicht nach Fotos aus der Vergangenheit seiner eigenen Familie.

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Meine Mutter oder meinen Vater, sagt er und das klingt nach Kapitulation, konnte ich einfach nicht malen.

Sind sie Ossis oder Wessis?

Andreas Mühe und Norbert Bisky waren im besten Alter, als die DDR implodierte. Sie kamen aus privilegierten, aber eben auch hochschwierigen Familien. Jung sind sie gestartet und in ihnen steckt noch DDR, wie denn auch nicht. Sie wissen, was sie verloren haben und was sie gewonnen haben. Mit ihren Lebensgeschichten pflegen sie souveränen Umgang. Das macht das Zuhören sehr angenehm und lohnend.

Sind sie Ossis oder Wessis? Diese Frage stellt keiner von ihnen. Sie sind weder das eine noch das andere. Sie sind etwas Drittes, in dem beides aufgehoben ist. Deshalb fällt es ihnen leicht, ohne Zorn zurückzuschauen und ohne Tamtam über die Gegenwart zu plaudern.

Beim Zuhören wurde es mir warm ums Herz. Mir ging diese Mischung aus Selbstbewusstsein und Nüchternheit nahe. Dieser Ton fehlt den meisten Selbstbetrachtungen, was damals war und was heute daraus geworden ist. Etwas von diesem Wirklichkeitssinn täte uns allen gut.


Vielleicht kommt das Land eines Tages auch so weit ins Freie mit sich selbst. Wäre doch schön, dieser dritte Weg, den die ehemals beiden deutschen Staaten gemeinsam gehen. Norbert Biskys Bilder zu DDR und Mauerfall sind übrigens ab heute in der Potsdamer Villa Schöningen und ab morgen in der Berliner Matthäus-Kirche in einer Doppelausstellung anzuschauen. Lohnt sich bestimmt.

Verwendete Quellen
  • eigene Recherchen
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