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SMA-Kinder: Verzweifelte Eltern sammeln fürs Millionen-Euro-Mittel Zolgensma


Kinder mit SMA
Verzweifelte Eltern sammeln für Millionen-Euro-Medizin

  • Lars Wienand
Von Lars Wienand

Aktualisiert am 13.07.2021Lesedauer: 7 Min.
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SMA-Kind: Ali Yildirim ist eines der Kinder, die von dem seltenen Gendefekt betroffen sind. Die Familie versucht seit Monaten, mehr als 2 Millionen Euro für eine Therapie mit dem teuersten Medikament der Welt zu sammeln.Vergrößern des Bildes
SMA-Kind: Ali Yildirim ist eines der Kinder, die von dem seltenen Gendefekt betroffen sind. Die Familie versucht seit Monaten, mehr als 2 Millionen Euro für eine Therapie mit dem teuersten Medikament der Welt zu sammeln. (Quelle: Instagram/dreamof_ali_daaden)

In den sozialen Netzwerken häufen sich seit Wochen millionenschwere Spendenaufrufe. Eltern wollen das teuerste Medikament der Welt für ihre Kinder finanzieren.

Es ist ein enormer Betrag: 2.334.920,02 Euro stehen auf dem Kostenvoranschlag des Universitätsklinikums Saarland. Die fälligen 315 Euro dafür, dass Mama oder Papa ein Bett beim zweijährigen Ali Yildirim bekommen, wirken darin wie eine vernachlässigbare Summe. 2,3 Millionen Euro sind für die Arznei Zolgensma fällig.

Ali leidet unter einer spinalen Muskelatrophie (SMA). SMA ist die häufigste genetisch bedingte Todesursache bei Kleinkindern und wird mit Zolgensma, dem teuersten Medikament der Welt, behandelt. Weil den Kindern ein funktionierendes Gen fehlt, sterben ohne Behandlung die sogenannten Motorneuronen im Rückenmark ab.

Eltern wollen für ihre Kinder immer nur das Beste. Aber was ist, wenn das Beste mehr kostet als eine Villa?

Deutschland untersucht Neugeborene auf SMA

In Deutschland ist das kein Problem, hier zahlen die Kassen die Therapie. Seit diesem Jahr werden alle Neugeborenen zusätzlich standardmäßig auf SMA untersucht, um möglichst früh behandelt werden zu können. Das Millionen-Euro-Präparat hat erst seit Mai 2020 in der EU die bedingte Marktzulassung.

Nur: In anderen Teilen der Welt ist das nicht so. Entsprechend wissen Eltern wie die von Ali oft nicht mehr weiter. In ihrer Verzweiflung versuchen sie, Spenden zu mobilisieren für eine Behandlung in Deutschland, den USA oder auch Kuwait. Sie suchen international Spender über soziale Netzwerke wie Instagram. Ein Heer von manchmal übereifrigen Helfern unterstützt sie.

Die Hilferufe landen auch in den Postfächern von Prominenten. Eine deutsche Moderatorin mit 200.000 Abonnenten teilte einen Spendenaufruf für eines der Kinder erst auf Instagram – und löschte ihn dann wieder. Sie trieb die Sorge um, dass mit dem schweren Schicksal von Kindern betrogen werde.

Zu Recht? t-online ist der Frage nachgegangen, warum die Kampagnen für SMA-Kinder zuletzt so oft zu sehen sind.

Verein wirbt für elf betroffene Kinder

Alis Foto ist mit Bildern von zehn anderen Kindern auf der Homepage des Dürener Vereins One World Charity e.V zu sehen. Die Mädchen und Jungen kommen aus der Türkei, aus Russland, aus der Ukraine oder aus Polen – und sie alle hoffen auf die lebensrettende Gentherapie.

Bei Ali wurde SMA schon mit anderthalb Monaten entdeckt. Die Kinder entwickeln sich geistig normal, schaffen es aber nicht, sich aufzurichten. Lähmung bei Gliedmaßen und Rumpf setzt ein, das Schlucken und das Atmen werden immer schwerer.

Zolgensma schleust funktionierendes Gen ein

Bei der schwersten Form sterben mehr als 90 Prozent der Kinder bis zum zweiten Lebensjahr oder müssen ständig beatmet werden. Es zerreißt Eltern das Herz, dabei zuschauen zu müssen. Und die Hoffnung ist groß, dass sich mit dem Mittel Zolgensma das Blatt wendet. Das Millionen-Euro-Präparat von Novartis schleust eine neue, funktionierende Kopie des entsprechenden Gens in die Zellen des kleinen Patienten und stoppt das Fortschreiten der Erkrankung.

In der Produktionsstätte von Novartis Gene Therapies in Libertyville in den USA kleben mehr als 1.000 bunten Handabdrücke an den Wänden. Einer für jedes Kind, das die Therapie bekommen hat – das Herkunftsland des Kindes steht dabei. Zolgensma ist eine der ersten Genersatz-Therapien, ein Blick in die Zukunft der Medizin.

Damit Kinder diese Zukunft erleben, sind ganze Familien im unermüdlichen Einsatz für die Infusion. Für Ali sammeln seine Tanten Meral und Dilek Boz seit einigen Wochen im Norden von Rheinland-Pfalz nahe Siegen. "Die Eltern müssen sich 24 Stunden um ihn kümmern", sagt Dilek Boz. "Schon zum Abhusten braucht er Hilfe." Ali trägt auf Fotos eine Art Rüssel, gehalten von einer Maske, die kindgerecht gelb-braun gemustert ist wie eine Giraffe. Ali braucht sie zur Beatmung. Es sieht zwar niedlich aus, ist aber bitterernst.

Erfolge ermutigten weitere Eltern

Auf der Seite von One World Charity gab es von einigen der Kinder Giraffenfotos wie das von Ali. "Man bewirbt sich dort um Aufnahme, und dann werden die Unterlagen überprüft, ein Vertrag wird abgeschlossen", berichtet Meral Boz. Einnahmen gehen nicht an die Eltern oder Verwandte, sondern an eine beteiligte Organisation, die Spendenbescheinigungen ausstellen dürfe. Sie selbst haben bei der örtlichen Bank eine notariell beglaubigte Übersetzung der Diagnose für Ali eingereicht, um sammeln zu können.

Fotos wie das von Ali sind in den vergangenen Wochen häufiger auf Instagram und Facebook zu sehen, wo ein Großteil der Spendenkampagnen beworben und Nutzer auf verschiedene Spendenmöglichkeiten verwiesen werden. Das lege vor allem daran, dass es Zolgensma noch gar nicht lange gebe und erste Erfolgsgeschichten anderen Eltern Mut machten, es zu versuchen, erklärt Murat Basaranoglu aus Nassau an der Lahn, der vor einem Jahr zum SMA-Spendensammler geworden ist.

Basaranoglu, selbst Familienvater, hat 30.000 Euro für ein fremdes Mädchen gesammelt, das inzwischen Zolgensma bekommen hat. Er trägt nun für das nächste Kind Geld zusammen: Didem. Mehr als 100.000 Euro liegen bereits für das Mädchen auf einem von ihm betreuten Paypal-Account. Er ist ebenfalls deutscher Ansprechpartner auf einer GoFundMe-Seite und als Jugendtrainer beim örtlichen Fußball-Klub will jetzt sogar einen eigenen Verein gründen, um Zolgensma-Kindern zu helfen.

Im Lockdown vergangenen Jahres hatten Basaranoglu und seine Frau, die eine Schneiderei betreibt, genug Zeit und waren auf eine der ersten Spendenkampagnen in der Türkei gestoßen. "Kinder sind doch das Wichtigste, was wir haben." In der Folge kam es dazu, dass seiner Frau der Instagram-Account gesperrt wurde: Sie hatte zu viele Nachrichten in zu kurzer Zeit verschickt, um mögliche Unterstützer zu finden. In einer Gruppe von aktiven Helfern wird sich gegenseitig angefeuert.

Prominente im Dauer-Fokus

Der glühende Eifer gehe manchmal zu weit", sagt Christopher Schäfer, Gründer von One World Charity e.V. Er kennt Fälle, in denen Prominente regelrecht mit Hilferufen zugespamt wurden. "Teilweise 20 bis 30 Mal am Tag wird eine Person unter einem Bild markiert, von diversen Helfern, die einfach verzweifelt sind." One World Charity hat inzwischen 24 Kinder auf seiner Website präsentiert und von denen, die nicht mehr im Programm sind, haben bis auf eines alle das Mittel bekommen. Oftmals hat sich ein Superreicher gefunden, der eine noch zu erbringenden Restsumme übernahm.

Der kleine Kostya ist der jüngste Fall. Auch für ihn gab es eine Kostenschätzung des Homburger Klinikums, und seit einigen Tagen ist die Summe zusammen. Er könnte das elfte Kind werden, das dort mit Zolgensma behandelt wird. "Auch ausländische Familien suchen Rat bei den erfahrensten Zentren in Deutschland, zu denen das UKS aufgrund der klinischen und wissenschaftlichen Beiträge gehört", sagt Marina Flotats-Bastardas, Oberärztin der Neuropädiatrie in der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie.

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Oligarch schloss Finanzlücke

Für die Behandlung von Kostya hat ein aus Usbekistan stammender Milliardär die noch fehlenden 115 Millionen Rubel, rund 1,3 Millionen Euro, zugesagt. Es ist das dritte SMA-Kind, bei dem Alischer Usmanow, früherer Anteilseigner des FC Arsenal, eingesprungen ist: Nach Monaten hatten Kampagnen zwar schon die Million erreicht, stockten aber.

Bei Christopher Schäfers Verein One World Charity ist NFL-Moderator Carsten Spengemann ein Aushängeschild. Die Vereinsarbeit drehte sich zuerst viel um Nachwuchsförderung im American Football und um krebskranke Kinder. Dann wurde Schäfer im vergangenen Jahr auf das Thema SMA aufmerksam.

Eine Frau im engen Bekanntenkreis hatte Spenden für ihre Nichte in Polen gesammelt. Schäfer war beeindruckt: "Wir waren sehr schnell der Überzeugung, dass SMA eines der schlimmsten Schicksale ist, das einer Familie widerfahren kann." Der Verein bekam nun ein neues Aufgabenfeld.

Und Spendenkampagnen bekommen mehr Glaubwürdigkeit, weil sie auf einen deutschen Verein verweisen können. Eine Art Siegel soll es sein, wenn der Verein beteiligt ist.

Helferinnen in WhatsApp-Gruppe

Die Bekannte Schäfers, mit der das begonnen hat, ist heute eine von drei SMA-Beauftragten bei One World Charity. Sie sind in einer WhatsApp-Gruppe zusammen mit je einem Mitglied der Helferteams der Kinder. "Da diese Gruppen der Kinder aber täglich wachsen, wissen wir nie, wer jetzt gerade welchem Kind hilft", sagt Schäfer. "Und das macht die Sache manchmal undurchsichtig und schwer."

Zudem gab es auch Betrugsversuche. Türkische Medien berichteten, dass Unbekannte die Geschichte und Fotos eines Kindes nutzten, um auf die Tränendrüse zu drücken. In der Türkei ist die Anteilnahme besonders groß. Dort gibt es mit 1 Fall auf 6.000 Neugeborene nicht nur statistisch mehr Betroffene als im weltweiten Schnitt von 1 Fall auf 10.000 Geburten. Dort haben es Eltern auch besonders schwer.

Am Jahresanfang wütete der Gesundheitsminister Fahrettin Koca, er wolle keine SMA-Kinder als "Versuchskaninchen der Pharmaindustrie". Es gebe eine ausreichende Behandlung. Er meinte Spinraza, ein Mittel, das alle vier Monate verabreicht werden muss. In der Türkei muss vorher eine Kommission der Behandlung zustimmen. Ein Damoklesschwert, das über den Eltern hängt. "Man bekommt das genehmigt oder nicht", sagt Meral Boz, die bei Ali das Bangen vor der Entscheidung schon erfahren hat. Eltern von SMA-Kindern haben bereits vor dem türkischen Gesundheitsministerium demonstriert.

Zugleich gibt es für Spendenkampagnen in der Türkei zusätzliche Hürden. Eltern müssen oft vor Gericht ziehen, weil der zuständige Gouverneur nicht die nötige Genehmigung zum Sammeln erteilen will. Die Folge ist für die Spendenplattform GoFundMe zu spüren: "Etliche Eltern von türkischen Kindern mit SMA haben durch Familienmitglieder oder Unterstützer in Deutschland Spendenaktionen bei uns gestartet", berichtet eine Sprecherin.

Staat durch Spendenkampagnen fein raus

Die Summe irgendwann zusammenzubekommen, bedeute Glücksmomente für die jeweiligen Eltern, sagt Michael Kolodzig, der seit 18 Jahren zum SMA-Thema aktiv und seit der Gründung 2011 Vorsitzender der Deutschen Muskelstiftung ist, die Betroffenen unterstützt und Forschung fördert. Es entlasse aber die jeweilige Regierung aus der Pflicht. Eine Novartis-Sprecherin sieht das ähnlich: "Obwohl wir den Wunsch der Eltern nach dem bestmöglichen Ergebnis für ihr Kind verstehen, unterstützen wir keine Crowdfunding-Aktivitäten. Dies eröffnet nicht nachhaltig einen Zugang zu Zolgensma."

Die Deutsche Muskelstiftung hat sich nur an einer Spendenaktion für eine Zolgensma-Therapie beteiligt und geht nun nicht den Weg wie One World Charity. Anfragen gibt es auch dort weiter. Herzzerreißende Geschichten seien das, sagt Kolodzig, aber die Abwicklung sei nur mit sehr hohem Aufwand zu verfolgen. "Und wir erreichen mehr, wenn wir uns mit allen unseren Mitteln auf die Forschung konzentrieren." Die Kampagnen schafften aber Aufmerksamkeit für die Erkrankung.

Schon Spinraza sei eigentlich eine Sensation gewesen, so Kolodzig. "Es hieß lange, es gebe zu wenige Betroffene, die Krankheit sei zu selten." Aber es erfordere wiederholte Dosierungen über das gesamte Patientenleben hinweg, während Zolgensma nur einmal gegeben werden müsse. Dafür posten und teilen Menschen gerne eifrig Hilfeaufrufe.

Bis 2.334.920,02 Euro beisammen sind, ist es auch ein weiter Weg. Für Alis Infusion sind aktuell etwas mehr als 20 Prozent eingegangen.

Verwendete Quellen
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