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Streit um Schach-WM: Menschen mit Rückgrat sind rar geworden


Streit um Schach-WM
Menschen mit Rückgrat sind rar geworden

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

29.12.2017Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Schachspielerin Anna Musitschuk: Verweigert sich den erzkonservativen Regeln der Saudis.Vergrößern des Bildes
Schachspielerin Anna Musitschuk: Verweigert sich den erzkonservativen Regeln der Saudis. (Quelle: Sergei Karazy/reuters)

Die Weltklasse-Schachspielerin Anna Musitschuk boykottiert eine Weltmeisterschaft, weil diese im islamisch-fundamentalistischen Saudi-Arabien stattfindet. Sie zeigt Haltung in Zeiten von Polarisierung und Internetprangern. Das verdient Anerkennung. Anders als die Politik des Westens.

Eigentlich sollte ich kurz vor Silvester einen persönlichen Jahresrückblick zu meinem Kolumnenthema Islam und Migration schreiben. Aber was würde dabei herauskommen? Ich müsste wieder über die AfD reden, die es in den Bundestag geschafft hat, wieder über die anderen Parteien, die es in ihren Versuchen zur Regierungsbildung vermutlich abermals nicht schaffen werden, eine engagierte Integrations- und Migrationspolitik zu entwerfen, wieder über Islamismus, Antisemitismus, islamfeindliche Stimmungsmache von dieser oder jener Seite.

Vielleicht hätte ich auch nochmal über Tarek Mohamads und meine Anti-Terror-Demo im Sommer in Köln geschrieben oder über meinen ersten Bildband, den ich mit dem Fotografen Lutz Jäkel über die geschundene Heimat meiner Eltern – Syrien – realisieren durfte, oder über mein neues Forschungsprojekt an der Uni Duisburg-Essen. Aber zu all dem hatte ich keine Lust.

Ein Zeichen gegen die Unterdrückung von Frauen

Stattdessen möchte ich meine letzte Kolumne in diesem Jahr Anna Musitschuk widmen. Sie kommt aus der Ukraine und ist eine Weltklasse-Schachspielerin. Sie wird dieser Tage ihre Weltmeistertitel im Schnell- und im Blitzschach verlieren, weil das Turnier im islamisch-fundamentalistischen Saudi-Arabien stattfindet. Sie will sich der Frauenunterdrückung dort nicht fügen und reist nicht an. Zwar waren die Veranstalter so gnädig, Frauen während der Spiele nicht unter eine Verschleierung zu zwingen, aber außerhalb des Turnierorts sollten sie einen Überwurf, genannt Abaya, inklusive Kopfbedeckung tragen.

Sich diesen Vorgaben zu verweigern, ist eine aufrichtige Geste der 27-Jährigen. Ein Kopftuch darf kein Zwang sein – nicht für Musliminnen und erst recht nicht für Nicht-Musliminnen und schon gar nicht an Orten, die mit Religion nichts zu tun haben.

Menschen mit Rückgrat sind rar geworden

Mir geht es dieses Mal aber weniger um Verschleierung, sondern um Prinzipien. Anna Musitschuk zeigt Haltung und bringt dafür als Sportlerin ein echtes Opfer. Das verdient Anerkennung. Menschen mit Rückgrat sind rar geworden in Zeiten von Polarisierungen und Internetprangern. Menschen, die für eine Sache einstehen und bereit sind, deshalb Nachteile in Kauf nehmen, statt für schnellen Profit und billigen Applaus Werte zu verkaufen, sind ein Pfeiler unserer demokratischen Kultur.

Die Kraft dafür kann nicht jeder aufbringen und das muss auch nicht sein. Ich möchte nicht die Spielerinnen, die nach Saudi-Arabien gereist sind, verurteilen, ich möchte Menschen wie Anna Musitschuk positiv hervorheben.

Sie weiß, wovon sie spricht. Sie wurde Anfang des Jahres Zweite bei der Schach-Weltmeisterschaft der Frauen, und die fand im Iran statt. Dort musste sie sich sogar beim Turnier bedecken, während Aufpasser daneben standen, um die Spielerinnen zu ermahnen, wenn ihre Kopftücher verrutschten. Schon damals hatten Großmeisterinnen das Turnier boykottiert, und nun sollen sie für die Blitz- und Schnellschach-WM dreimal hintereinander nach Saudi-Arabien – auch 2018 und 2019 sind die Saudis Gastgeber.

Prinzipien stehen hinter dem Geld zurück

Wie kommt der Weltschachbund Fide darauf, die Titelkämpfe an Saudi-Arabien und Iran zu geben – zwei der autoritärsten Staaten der Welt? Riad verweigert israelischen Spielern die Einreise, mit anderen gibt es ebenfalls diplomatische Probleme. Warum also diese Länder? Liegt es daran, dass die Wurzeln des Schachs auch in Persien liegen und Araber das Spiel mit nach Europa gebracht haben?

Nein. Saudische Religionsvertreter haben das Spiel für islamisch unerwünscht erklärt. Die Gründe haben primär mit Geld und der Suche nach Sponsoren zu tun. Niemand außer Iran wollte die WM ausrichten, Saudi-Arabien lockt mit Rekordpreisgeldern. Müssen Prinzipien so offensichtlich hinter Geld zurückstehen? Warum sind der Fide die hingerichteten, ausgepeitschten, ausgebeuteten Opfer dieser Regimes gleichgültig? Sollte unsere Aufklärung uns nicht genau davor bewahren?

Manche argumentieren, der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman wolle sein Land behutsam öffnen und verändern, dabei könnten Sportveranstaltungen helfen. Dem möchte ich entgegenhalten: Spätestens seit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin oder der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien könnte man wissen, dass diese Gleichung nicht unbedingt aufgeht.

Der Westen nimmt keine klare Haltung ein

Die Welt und insbesondere der Westen sollten die Geduld aufbringen und warten, bis sich in Saudi-Arabien an den Menschenrechten tatsächlich etwas grundlegend verbessert, bevor sie sich den Herrschen dort in den Arm werfen. Die Entwicklungen in dem Wüstenstaat gehen jeden Staat mit muslimischem Bevölkerungsanteil etwas an. Saudi-Arabien versucht seit Jahrzehnten über seine Öl-Millionäre Einfluss auf Muslime in jedem Winkel der Erde zu nehmen und seine radikale Lesart des Islams, Wahhabismus genannt, zu verbreiten.

Bis heute schafft es der Westen nicht, gegenüber dem hochproblematischen Königreich eine klare Haltung einzunehmen. Mit dem Verweis auf Realpolitik werden ideelle Aspekte im politischen Handeln stets kurz gehalten – man denke nur an die Rechtfertigungen für Waffenlieferungen. Was Regierungspolitiker natürlich nicht davon abhält, sich moralisch zu erheben und Saudi-Arabien zu verurteilen. Doch ihre Worte sind scheinheilig. Auch deshalb ist es so wichtig, dass Menschen wie Anna Musitschuk aus der Phalanx ausbrechen und Taten sprechen lassen.

Gewiss, Sport sollte Sport sein und nicht Politik. Aber manchmal erzwingen die Umstände es einfach, Verantwortung zu übernehmen. In den USA, wo Spieler in Zeiten Donald Trumps zur Nationalhymne niederknien, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen, oder in Saudi-Arabien, wo Spieler eine Schach-WM boykottieren.

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