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Experte über neuen Corona-Beschluss: "Vielleicht setzt man auf Glück"


Experte über Corona-Beschluss
"Die Notbremse wird notwendig sein"

  • Annika Leister
InterviewVon Annika Leister

04.03.2021Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Corona-Krise in Deutschland: Die neuen Beschlüsse von Bund und Ländern am 3. März sorgen für Diskussionen.Vergrößern des Bildes
Corona-Krise in Deutschland: Die neuen Beschlüsse von Bund und Ländern am 3. März sorgen für Diskussionen. (Quelle: Lukas Schulze/getty-images-bilder)

Lockerungen schon bei Inzidenzen unter 100? Dirk Brockmann, Experte für das Robert Koch-Institut, kritisiert den Beschluss von Bund und Ländern. Ein neuer Lockdown sei so bald unvermeidbar.

Bund und Länder haben am Mittwochabend nach vielen Stunden der Verhandlung Lockerungen nach einem mehrstufigen System beschlossen – dabei steigen die Infektionszahlen vielerorts wieder und Experten warnen weiterhin vor der britischen Virusmutante B.1.1.7. Ergibt das Sinn?

Ein Gespräch mit dem Mobilitätsexperten Dirk Brockmann, der Professor für Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin ist und in der Corona-Krise das Robert Koch-Institut und die Wissenschaftsakademie Leopoldina berät.

t-online: Herr Brockmann, wie bewerten Sie den gestrigen Beschluss von Bund und Ländern?

Dirk Brockmann: Es wird schrittweise wieder geöffnet, obwohl die Fallzahlen stagnieren oder leicht ansteigen, obwohl man bei der neuen Virusvariante B.1.1.7. schon einen exponentiellen Anstieg sieht. Das ist ein riskanter Weg. Ich rechne damit, dass wir sehr schnell wieder bei Inzidenzwerten über 100 sind und die Notbremse gezogen werden muss. Viele Elemente dieses Plans werden dann gar nicht greifen – weil wieder ganz zugemacht wird.

Wochenlang hat die Bundesregierung vor Mutationen gewarnt und postuliert, dass Lockerungen frühestens ab 50, eher ab einer Inzidenz von 35 möglich seien sollen. Jetzt geht plötzlich vieles schon mit einer Inzidenz von 50 bis 100. Ist das aus Sicht des Infektionsschutzes überhaupt zu erklären?

Offenbar ist der Druck in der Gesellschaft unfassbar hoch. Die Leute wollen keinen Lockdown mehr. Aber wir wissen ja inzwischen, wie diese Pandemie funktioniert. Und wir haben es jetzt mit der neuen britischen Virusvariante zu tun, die sich noch rascher verbreitet und das gesamte Infektionsgeschehen übernehmen wird. Das Virus ernährt sich von unseren Kontakten. Und die neue Variante macht das noch wesentlich effizienter. Das Einmaleins dieser Pandemie besagt: Lockerungen werden das Infektionsgeschehen beschleunigen, die Fallzahlen erhöhen. Alles andere halte ich für ausgeschlossen.

Tests und Impfungen sollen das verhindern – bei beidem schneidet Deutschland aber zurzeit denkbar schlecht ab.

Wenn wir mit dem Impfen hinterherhinken, müssen die Öffnungen durch Tests begleitet werden, da sind sich Experten einig. Wenn die Infrastruktur für systematisches Testen noch nicht da ist, brauchen wir über Öffnungen gar nicht zu sprechen.

Warum ist Deutschland jetzt auch bei den Schnell- und Selbsttests so viel langsamer als andere Länder?

Die Pandemie ist etwas Neues, sie ist auch hochdynamisch. Ich habe das Gefühl, dass man in Deutschland oft versucht, diese Ausnahmesituationen mit Routineprozessen zu lösen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Doch jetzt ist pragmatisches, mutiges, schnelles Handeln gefragt. Da sind wir offensichtlich nicht Weltspitze. Und leider auch nicht darin, aus unseren Fehlern zu lernen. Im angelsächsischen Raum ist die Fehlerkultur eine ganz andere, da ist man eher bereit, Fehler einzuräumen und aus ihnen zu lernen.

Österreich setzt Schnell- und Selbsttests bereits im großen Stil ein und lockert auch. Die Infektionszahlen gehen zurzeit aber weiter nach oben. Ist das Grund zur Beunruhigung?

Studien zeigen: Wenn man hochfrequent testet, identifiziert man sehr viel schneller Menschen, die andere anstecken. Man verringert also die Infektionsdauer effektiv. Solange die Bevölkerung noch nicht durchgeimpft ist, ist das eigentlich ein sehr gutes Werkzeug, gerade auch, um Lockerungen zu begleiten. In Österreich hat man das Testen und Öffnen aber auf einem sehr hohen Inzidenzniveau beschlossen. Das war vermutlich zu früh.

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Macht Deutschland jetzt genau denselben Fehler?

Die Situation ist anders. Österreich setzt sehr stark auf Testen. Auf welches "Pferd" in Deutschland gesetzt wird, ist mir nicht ganz klar. Glück vielleicht. Es ist doch offensichtlich, dass durch Öffnungen der Anstieg der Fälle durch die zunehmende Dominanz der B.1.1.7-Variante noch verstärkt wird. Welcher Teil der Lockerungen begleitenden Maßnahmen dem entgegenwirken soll, kann ich nicht erkennen.

Der Beschluss für Deutschland sieht vor, Erwachsene über die Arbeitgeber zu testen – oder in einem kommunalen Testzentrum. Warum sind diese Testzentren überhaupt nötig? Selbsttests wurden doch gerade zugelassen. Mit denen könnte jeder den Test bequem zu Hause machen, ohne Personalaufwand.

Auch hier zeigt sich wieder der Trend zur Risikominimierung durch Routinevorgehen: Das Selbsttesten birgt Risiken – zum Beispiel, dass die Leute den Abstrich falsch machen oder falsch damit umgehen, wenn sie ein positives Ergebnis erhalten. Das will man vermeiden, indem man sie in Testzentren und an geschultes Personal verweist. Wir sind aber in einer Notsituation. Ich kann es nur wiederholen: Routine ist nicht angezeigt.

Blockiert der Beschluss der Regierung effizientes Testen so sogar?

Wenn es möglich ist, dass Bürger sich Selbsttests besorgen, werden sie das auch tun. Dass sie trotzdem in kommunale Testzentren gehen, ist wishful thinking, denke ich. Es ist ein bisschen, als würde man einen langen, geschwungenen, sicheren, stabilen Fußweg bauen – und die Leute gehen trotzdem über den Rasen, weil der Weg sehr viel kürzer ist. Wichtiger als das Testen zu Hause oder in den Testzentren ist aber zunächst auch das Testen über Arbeitsstellen und die Bildungseinrichtungen.

Warum?

Eine Schule mit 500 Schülern ist ein Knotenpunkt für 500 Familien. Stellt man Infektionen hier oder in den Betrieben rasch fest, kann die Ausbreitung im Netzwerk Familie – Schule – Unternehmen am effektivsten durchbrochen werden.

Auch das Impfen hat großen Einfluss auf mögliche Lockerungen. Wo steht Deutschland da zurzeit?

In den Alten- und Pflegeheimen wurden die über 80-Jährigen größtenteils durchgeimpft. Wir müssen jetzt sehr viel schneller impfen und die Impfungen endlich auch in die Gruppen hineinbekommen, die das Pandemiegeschehen maßgeblich beeinflussen – also in die jüngeren Bevölkerungsgruppen. Dazu müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden und Pragmatismus stärker wirken.

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Die Kanzlerin hat bei der Vorstellung des Beschlusses mehrfach auf die eingebaute Notbremse hingewiesen: Steigen die Infektionszahlen wieder über 100, kehren wir zurück zu den jetzigen Regeln.

Dass Frau Merkel auf die Notbremse so explizit hingewiesen hat, ist für mich ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie genau verstanden hat, wie die Dynamik der Pandemie funktioniert. Sie hat das Werkzeug betont, das notwendig sein wird.

Der Beschluss ist extrem kompliziert, er widerspricht den Aussagen von vor wenigen Wochen. Ist er für die Bevölkerung überhaupt nachvollziehbar?

Flexibilität in Entscheidungen, die auch widersprüchlich zu vorherigen Entscheidungen stehen, finde ich generell gut. Das ist notwendig in einem so hochdynamischen Prozess. Was mich stutzig macht, ist, dass man in diesem Plan so viel Gewicht darauf legt, dass die Infektionszahlen in niedrigem Bereich stabil bleiben werden. Das ist ein völlig unwahrscheinliches Szenario.

Ist das ein Stück weit Realitätsverweigerung?

Das glaube ich nicht. Ich hätte mir aber gewünscht, dass man die Regionalisierung viel stärker betont, dass man da viel näher an die Realität rangeht. Am Beispiel Sachsen erklärt: Ein großer Teil sächsischer Gemeinden hat eine Inzidenz von unter 10, manche sind schon infektionsfrei. Da kann man sofort über Lockerungen in Verbindung mit Tests nachdenken.

Nur in einigen Städten gibt es hohe Inzidenzen, nur in diesen Hotspots muss man anders reagieren. Diese spezifische, regionale Betrachtung und auch Betonung auf dieses differenzierte Vorgehen fehlen mir im Beschluss. In der #NoCovid-Initiative wird gerade dieser regionale Ansatz verfolgt.

Schleswig-Holstein hat heute bekannt gegeben, dass es den Einzelhandel ab Montag wieder öffnet – mit noch nicht näher benannten Ausnahmeregeln für Hotspots. Die landesweite Inzidenz liegt bei 47,7, in Flensburg liegt sie aber zum Beispiel bei 144,2. Wie würden Sie in einem solchen Fall vorgehen?

Klug wäre es, nur die Gemeinden zu öffnen, die Inzidenzwerte unter 10 haben, oder schon ganz infektionsfrei sind. Aber in Flensburg sollte man unbedingt auf Öffnungen verzichten, hier hat man das Infektionsgeschehen nicht im Griff.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Dirk Brockmann
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