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Nawalny in Lebensgefahr: Deutschland muss sich gegen Putins Politik stellen


Russland
Wem Nawalny auf die Nerven geht, der hat nichts verstanden

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

22.04.2021Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Das Schicksal des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny muss von Deutschland, Europa und den USA genau verfolgt werden, meint t-online-Kolumnistin Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Das Schicksal des Kremlkritikers Alexej Nawalny muss von Deutschland, Europa und den USA genau verfolgt werden, meint t-online-Kolumnistin Lamya Kaddor. (Quelle: reuters)

Seit Monaten ist der russische Oppositionelle Alexej Nawalny in den Medien omnipräsent. Viele sind davon genervt. Andere wiederum finden, seine Rolle werde bloß vom Westen aufgeblasen, um Präsident Wladimir Putin in Verruf zu bringen. Warum dem nicht so ist.

Seit Monaten sind die Medien voll mit Berichten über jede einzelne Wendung im Fall Alexej Nawalny. "Der mediale Hype um einen prominenten russischen Oppositionellen mit dazu fragwürdigen politischen Ansichten hinterlässt bei mir ein unangenehmes Bauchgefühl", finden manche. Nawalny trat früher als beinharter Nationalist auf, wetterte gegen Einwanderung insbesondere aus südlichen Ländern und gegen den Islam. Er sagte Sätze wie: "Alles, was uns stört, muss man mit Vorsicht, aber unbeirrt per Deportation entfernen."

Heute hört man solche Äußerungen von ihm zwar kaum noch, aber einen klar erkennbaren Bruch mit seiner Zeit als Nationalist gebe es nicht, schreibt der Moskau-Korrespondent des Deutschlandfunks, Thielko Grieß.

Warum so viel Aufmerksamkeit für einen einzelnen Mann?

Fraglich ist generell die Bedeutung Alexej Nawalnys für die russische Opposition. Seine Rolle werde vom Westen bloß aufgeblasen, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu diskreditieren, meinen einige. In Russland selbst interessiere "der Typ" niemanden. "Die westlichen und hiesigen liberalen Medien zwingen uns Nawalny künstlich als einzigen und unangefochtenen Führer der Opposition und alternativlosen Gegner Putins auf", donnerte der linke Oppositionelle Sergej Udalzow.


Dagegen frohlockte der wirtschaftsliberale Politiker Leonid Gosman laut "Frankfurter Rundschau" geradezu: "Die ganze Welt hat ihn schon als einzige Alternative zu Putin anerkannt, so wie seinerseits Mandela die Alternative zu de Clerk und Apartheid wurde." Wie bitte? Südafrikas Idol Mandela? Geht’s noch größer? Warum so viel Aufmerksamkeit für einen einzelnen Mann? Ist das schon Apotheose? Geht das in Richtung Heldenverehrung?

Nein. Die freiheitlich-demokratisch gesinnte Welt ist gut beraten, den Gesundheitszustand und das Schicksal des Alexej Nawalny akribisch zu verfolgen und ihm zuzuhören. Er ist nicht nur ein russischer Oppositioneller, er ist "der" russische Oppositionelle. Einer der letzten Großen, die sich noch trauen, vor Ort in Russland selbst lautstark gegen die Unterdrückung von Meinungen und sonstigen Missstände im System des Langzeitherrschers Wladimir Putin aufzubegehren.

Symbol für den Widerstand gegen Putin

Andere prominente Widersacher wurden vergiftet oder auf offener Straße erschossen wie Boris Nemzow, andere zum Schweigen gebracht, indem sie mit Gerichtsverfahren überzogen wurden und vor Bedrohungen ins Ausland flüchteten wie Michail Chodorkowski oder Garri Kasparow.

Alexej Nawalny ist so zwangsläufig zu einem Symbol für den Widerstand in einem der mächtigsten Staaten der Erde geworden: die russische Führung. Und die russische Führung ist Wladimir Putin, und Wladimir Putin ist die russische Führung. Sein Amtssitz ist der Kreml, und der Kreml ist Synonym für das zentralistische System Putin geworden. Ähnliches gibt es weder in den USA noch in Frankreich oder Argentinien, weshalb die große internationale Öffentlichkeit für diesen Kremlkritiker berechtigt ist. Wenn uns Menschenrechte wichtig sind, dürfen wir ihn jetzt nicht fallen lassen, weil uns seine Prominenz nervt. "Die Aufmerksamkeit hilft immens", beteuerte die "Pussy Riot"-Aktivistin Nadja Tolokonnikowa im "Spiegel". Wie Alexej Nawalny heute war sie selbst schon in russischer Lagerhaft: "In der Strafkolonie ist Zuspruch von außen auch eine psychologische Stütze."

Alexej Nawalny redet nicht nur. Er untermauert seine Worte durch Handeln. Er wurde in Russland fast tödlich vergiftet; in ein deutsches Krankenhaus geflogen und weitgehend zur Rekonvaleszenz gebracht; bei seiner Rückkehr verhaftet, abgeurteilt, inhaftiert, durch Schlafentzug gefoltert und noch kränker gemacht. Seit Ende März ist er im Hungerstreik, um eine angemessene medizinische Versorgung zu erzwingen. Und das Ganze ist keine Show. Ein Hungerstreik sei immer das "absolut letzte Mittel", um auf drastische Menschenrechtsverstöße und Gefahren hinzuweisen, erklärte Nadja Tolokonnikowa.

"Sie wollen ihn ausschalten – egal mit welchen Mitteln"

Zuletzt haben sie Alexej Nawalny in ein Gefängniskrankenhaus verlegt. Während unser Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) das für eine gute Nachricht hält, pointiert der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky, der Alexej Nawalny persönlich kennt, dieser sei in ein "Folterlager" verlegt worden: "Sie wollen ihn ausschalten – egal mit welchen Mitteln. Denen würde auch passen, wenn er mit einem solchen Grad der Behinderung versehen wird, dass er keine aktive Gefahr mehr ist."

In der virtuellen Welt werden Videos von Alexej Nawalny und seinen Unterstützern millionenfach angeschaut – allein sein Video von Mitte Januar, das einen riesigen Palast von Wladimir Putin am Schwarzen Meer zeigen soll, wurde auf YouTube mehr als 100 Millionen Mal angeklickt; auch wenn man das nicht mit Zustimmung gleichsetzen kann, ist das eine enorme Reichweite. In der realen Welt gingen gestern erneut Tausende für ihn und gegen den russischen Präsidenten auf die Straße – und das unter den gegebenen Bedingungen: Hunderte Demonstrierende wurden inhaftiert.

Weder all die mutigen Demonstrierenden noch alle ausländischen Unterstützer dürften derweil von Alexej Nawalny politisch überzeugt sein. Aber da es sonst kaum noch führende Oppositionelle gibt, vereinen sie sich eben hinter ihm. "Wir machen keine Gesinnungstests, bevor wir jemanden retten", sagte mir Sergey Lagodinsky und betonte dabei, dass er gewiss nicht immer einer Meinung mit Alexej Nawalny sei und sich schon öffentlich mit ihm gestritten habe.

Das Ergebnis schlechter Russlandpolitik

Der Zuspruch für ihn von Sergey, Nadja Tolokonnikowa, Leonid Gosman und selbst von Sergej Udalzow, der immerhin zugesteht: "Wir respektieren die Teilnehmer der jüngsten Proteste", macht deutlich, es wird nebensächlich, wo jemand im Einzelnen politisch steht, wenn eine Regierung jegliche Kritik unterdrückt.

Alexej Nawalny ist folglich außerordentlich wichtig für die russische Opposition. Der Einsatz Deutschlands und der Europäischen Union für ihn und damit für die Menschenrechte im Land ist mehr als notwendig. Doch die Mühen, die wir nun dafür aufbringen müssen, sind auch das Ergebnis der schlechten deutschen, europäischen und amerikanischen Russlandpolitik in der Vergangenheit. Wir hätten uns viel früher und viel entschlossener gegen das Vorgehen in der Politik Wladimir Putins stellen sollen. Viel zu lange ließen wir ihn gewähren.

In Syrien reißt er ein ganzes Land in Stücke und hält eine brutale Diktatur an der Macht, doch aus dem Westen kamen bloß so entrüstete wie leere Worte. Er schnappt sich die Krim und befördert Krieg in der Ostukraine. Er protegiert den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow ("Solange mich Putin unterstützt, kann ich tun, was ich will. Allahu Akbar!"), der Homosexuelle einsperren und foltern lässt. Er hält die Hand über Trollfabriken.

Wir brauchen kein Säbelrasseln der Nato

Westliche Regierungsvertreterinnen und -vertreter spucken dazu seit Jahren große Töne und verhängen dann freundliche Sanktionen, die niemandem wehtun. So kann Wladimir Putin derzeit ungestört zehntausende Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegen, seinerseits Sanktionen verhängen, Diplomaten ausweisen und scharfe Warnungen ans Ausland richten, wie bei seiner gestrigen Rede zur Lage der Nation: "Ich hoffe, es kommt niemandem in den Sinn, gegenüber Russland die 'rote Linie' zu überschreiten. Wo sie verläuft, entscheiden wir in jedem konkreten Fall selbst."

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Im Umgang mit Wladimir Putin brauchen wir kein Säbelrasseln der Nato, keine Gewaltandrohungen, kein symbolpolitisches Sanktionsregime, keinen Abbruch von diplomatischen Beziehungen. Nötig sind klare Haltungen und klare Handlungen. Zu der vielfach geäußerten Kritik an Wladimir Putin passt jedenfalls definitiv nicht, dass die Regierung des größten EU-Staats – also Deutschland – ein Giga-Projekt wie Nord Stream 2 mit Russland durchzieht. Solche Projekte sollten Deutschland bzw. die EU mit problematischen Staaten wie Russland machen, wenn es dafür auch politische Gegenleistungen gibt. Als es darum ging, Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten, hatte die EU wenig Skrupel, Deals dieser Art mit der Türkei durchzuführen.

Je lautstarker Kritik an Staaten geäußert wird, desto substanzieller müssen die Handlungen sein. Das setzt die Bereitschaft voraus, auch wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Wenn Regierungen bellen wie ein Kampfhund und handeln wie ein Schmusekätzchen, nährt das Politikverdrossenheit und Frust. Außenpolitik ist ein höchst kompliziertes Terrain. Das gilt wahrlich nicht nur in Bezug auf Russland. Wichtig sind da kongruentes Vorgehen und angemessene Kommunikation. Derartige Versäumnisse in der Vergangenheit sorgen heute mit dafür, dass die Aufmerksamkeit für Alexej Nawalny von vielen so kritisch gesehen wird.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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