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9-Euro-Ticket: "Willkommen am Halb-Arsch der Welt"


Wo das 9-Euro-Ticket nichts nutzt
"Willkommen am Halb-Arsch der Welt"

Von Lisa Becke

Aktualisiert am 02.06.2022Lesedauer: 7 Min.
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Auto am Fahrkartenautomat in Landau: "In dieser Region kommst du niemals auf die Idee, keinen Führerschein zu machen."Vergrößern des Bildes
Auto am Fahrkartenautomat in Landau: "In dieser Region kommst du niemals auf die Idee, keinen Führerschein zu machen." (Quelle: Lisa Becke/t-online)

Seit Mittwoch gilt das 9-Euro-Ticket in ganz Deutschland. Aber was wird es wirklich nutzen? Ein Besuch im Landkreis mit der bundesweit schlechtesten Anbindung an den Nahverkehr: Dingolfing-Landau.

"Willkommen am Halb-Arsch der Welt", sagt Ines Helmer. Die 49-Jährige sitzt auf dem gepflasterten Hof vor ihrem Haus im Grünen. In Oberdingolfing reicht der Blick über Wiesen und Felder, aber da sind auch: eine Handvoll Häuser, die kleine Kirche St. Leonhard – und sogar eine Bushaltestelle.

Der außerhalb liegende Stadtteil wird angefahren von einer der Linien der Kreisstadt Dingolfing. Auch in den "grünen Dingo", wie der Bus genannt wird, kann man seit Mittwoch mit dem 9-Euro-Ticket einsteigen. Nur: Nutzt das Ines Helmer etwas?

Von einer "riesigen Chance" für die Bürgerinnen und Bürger sprach Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) vor dem Start der Aktion. Damit könnten die "bisherigen Mobilitätsgewohnheiten" überdacht und "mal etwas Neues" ausprobiert werden, sagte er Mitte Mai im Bundestag.

Mit der Maßnahme möchte die Regierung nicht nur die Menschen in Zeiten steigender Preise entlasten. Sondern sie auch dazu bewegen, klimafreundliche Mobilität auszuprobieren und auch längerfristig auf Bus und Bahn umzusteigen.

Überall sonst ist die Anbindung besser

Dingolfing-Landau, die Heimat von Ines Helmer, ist der Härtetest für diese Idee. Nirgendwo in Deutschland sind Bus und Bahn so weit weg von den Menschen wie in diesem bayerischen Landkreis. So zumindest bewertet ein Ranking der "Allianz pro Schiene" die Situation.

Der Verein hat untersucht, wie es um den Zugang zum öffentlichen Nahverkehr bestellt ist. Demnach leben nur 29,1 Prozent der Menschen in dem bayerischen Landkreis nah genug an einer Haltestelle, die ausreichend oft angefahren wird. In der Erhebung fallen nur die Stationen darunter, an denen mindestens zehnmal pro Tag in jede Richtung ein Bus oder eine Bahn hält. Gleichzeitig darf eine Bushaltestelle maximal 600 Meter, ein Bahnhof maximal 1.200 Meter vom Wohnort entfernt sein. Überall in Deutschland ist das Haltestellennetz nach diesen Kriterien engmaschiger als in Dingolfing-Landau.

Deshalb spreche sie von "Halb-Arsch", sagt Helmer: Ganz abgeschieden sei sie ja nicht, eine Bushaltestelle gebe es ja. Nur bringe ihr diese nichts – sie sei trotzdem auf das Auto angewiesen.

"Ich würde das 9-Euro-Ticket super gern nutzen", sagt die zweifache Mutter, die sich in Dingolfing bei den Grünen engagiert. Doch im Alltag komme sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht von A nach B, so wie sie das brauche.

Dabei wäre der Ort, in dem sie in Teilzeit arbeitet, sogar mit dem Zug aus Dingolfing zu erreichen. Aber sie hat es ausgerechnet: Auf dem Weg muss sie zunächst ihren jüngsten Sohn im Kindergarten absetzen und dann weiterfahren – würde sie das mit Bus und Bahn erledigen, bräuchte sie insgesamt über zwei Stunden, mit dem Auto nur 30 Minuten. Auch, weil sie mit den Öffentlichen jeweils genau den Anschluss verpasse und es deshalb längere Wartezeiten gebe.

Helmer hat nichts davon

Keiner der beiden von der Bundespolitik ausgerufenen Vorteile des 9-Euro-Tickets tritt bei Helmer ein: Weder entlastet es sie finanziell im Alltag noch hilft es ihr persönlich zur einer klimafreundlicheren Fortbewegung.

Deshalb wurde das 9-Euro-Ticket bereits im Vorfeld harsch kritisiert: Die Bewohner von Städten und dicht besiedelten Regionen könnten das Ticket besser nutzen und würden deshalb bevorzugt, klagte zum Beispiel die Deutsche Umwelthilfe.

Das sieht auch Helmer so. Trotzdem hegt sie keinen Groll gegen das Billigticket, auf das ihre Bundespartei drängte – im Gegenteil. Sind die Dingolfinger so uneigennützig? "Verkehrt ist es nicht, es passt nur nicht für alle", sagt die Grüne. Selbst wenn es ihr nichts bringe, sei sie froh, wenn mehr Menschen in den Städten und gut angebunden Regionen durch das Angebot tatsächlich dazu bewegt würden, dauerhaft auf Bus und Bahn umzusteigen. "Was gut ist fürs Klima, bringt uns ja allen was", sagt Helmer.

"Coole Idee", dachte auch Noah Krähn, als er das erste Mal von dem Vorschlag hörte – so erzählt es der 19-Jährige in einem Imbiss in Landau. Auch ihm bringt das Ticket im Alltag nichts, zu seiner Ausbildungsstätte muss er mit dem Auto fahren. Trotzdem will er es kaufen.

Sein Ziel: ein Ausflug nach München. Von Dingolfing aus braucht er mit dem Zug nur etwas mehr als eine Stunde. 9 Euro pro Monat sind damit viel günstiger als das "Bayern-Ticket" für 26 Euro, das er sich sonst lösen müsste und nur einen Tag gültig wäre. Auch Helmer will das Angebot für solche Ausflüge mit ihrer Familie nutzen.

Das Problem liegt woanders

Vor allem als ein solches Freizeitticket könnte das 9-Euro-Ticket bei den Menschen im Landkreis zum Einsatz kommen, denkt auch Siegfried Polsfuß – um nach München, Regensburg oder in die Berge zu fahren beispielsweise.

Der 71-Jährige, der sich seit den 1990er-Jahren beim Verkehrsclub Deutschland für eine ökologischere Mobilität engagiert, sitzt in dem Zug München-Passau und sagt: "Diese Verbindung ist ja eigentlich ganz gut." Sie fährt stündlich und hält an drei Stationen im Landkreis Dingolfing-Landau. Das Problem liege eher woanders: Von den drei Zugbahnhöfen Dingolfing, Landau und Wallersdorf komme man dann mit den Öffentlichen nicht mehr in die umliegenden Orte weiter.

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Davon kann auch der 19-jährige Krähn berichten: Wenn er mit seinen Freunden an einem Wochenende mal abends in die Landeshauptstadt fahre, bestimmen sie trotz Anreise mit dem Zug einen "Fahrer", sagt er – also einen, der an dem Abend keinen Alkohol trinke. Denn kommen sie spätabends aus München zurück, muss einer am Bahnhof ins Auto steigen und von dort die anderen in die umliegenden Orte nach Hause fahren – notgedrungen, anders geht es nicht. "Es nervt, dass wir da so auf das Auto angewiesen sind", sagt Krähn.

"Der Führerschein ist deine Freiheit"

"Während man in der Schweiz mit dem Bus auch in das abgelegenste Bergdorf kommt, sind wir in Deutschland weit davon entfernt", sagt Dirk Flege von der "Allianz pro Schiene" – dem Verein, der das "Erreichbarkeitsranking" erstellt hat, bei dem Dingolfing-Landau Schlusslicht ist.

Ein Alltag ohne Auto, auf dem Land und in der Stadt – diese Idee gibt es auch in Deutschland. Da geht es in großen Konzepten häufig um die Rentnerin, die mangels Dorfladen in der nächsten Stadt einkaufen muss; oder den Schüler, der nach den Hausaufgaben einen Freund besuchen möchte.

Eine "Mobilitätsgarantie" forderten die Grünen noch im Wahlkampf, die SPD ein "Recht auf Mobilität vor allem für den ländlichen Raum". Im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP aber ist nicht mehr von einem "Recht" oder einer "Garantie" die Rede, sondern lediglich davon, dass "Standards" für Erreichbarkeit "definiert" werden sollen.

Erreichbarkeit in der Fläche, ausreichende Taktung der Busse und Bahnen: Von einer solchen Welt träumt die Grüne Helmer. Sie würde sich wünschen, dass ihre beiden Söhne eigenständig mobil sein könnten mit dem Bus. "Aber in dieser Region kommst du niemals auf die Idee, keinen Führerschein zu machen, denn das ist deine Freiheit", sagt die 49-Jährige und zuckt die Achseln. Das war bei ihr, die in Teisbach außerhalb von Dingolfing aufgewachsen ist, damals schon so – und das wird wohl auch bei ihren Söhnen in Oberdingolfing so sein.

Landrat: Angebot kann besser werden

Dass das Angebot im Landkreis deutlich verbessert werden solle, betont Landrat Werner Bumeder. Der CSU-Politiker weist per Mail daraufhin, dass es im Landkreis unter anderem 44 Buslinien gebe, dazu noch Stadtbuslinien in Dingolfing und Landau. Aber einige, mit denen man im Landkreis spricht, zweifeln am politischen Willen in einer Stadt, die von Autos lebt.

Denn in Dingolfing steht das größte BMW-Werk in Europa. Mit einer Besonderheit: Vor mehr als 40 Jahren etablierte der Autohersteller ein Pendelbussystem für seine Mitarbeiter. Dieses erstreckt sich über fast ganz Niederbayern – 250 Busse fahren täglich über 150 verschiedene Linien Dingolfing an und legen dabei insgesamt über 40.000 Kilometer zurück.

Natürlich können in diese Busse nur die Mitarbeiter einsteigen, und ein 9-Euro-Ticket bringt da auch nichts. Ein Großteil der insgesamt rund 17.000 Mitarbeiter nutze dieses Bussystem, teilt das Werk auf Anfrage mit. Demnach sind im Moment über 11.500 Mitarbeiter für die Pendelbusse angemeldet, die damit auch zum Frühschichtbeginn um 5 Uhr morgens gut zur Arbeitsstelle kommen.

Alle in der Umgebung, die ebenfalls zur Arbeit nach Dingolfing kommen müssen, können da nur neidisch werden. Für sie ist das mit dem Bus nahezu unmöglich. So beispielsweise für Carlos Alianza, der am städtischen Gymnasium als Lehrer für Deutsch und Geschichte arbeitet. Um von seinem Wohnort in der Gemeinde Salching zur Arbeit zu kommen, braucht er das Auto.

"Ich würde die Öffentlichen Verkehrsmittel schon nutzen, wenn alles passen würde", sagt Alianza. Das heißt, wenn diese regelmäßig fahren würden und nicht die Gefahr bestünde, auf dem Weg zu stranden. Aber in der jetzigen Situation sei das 9-Euro-Ticket kein "Anreiz" für ihn, mehr mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln zu erledigen – für ihn sei das schlicht nicht zu machen.

Krähn hofft eher auf den "Tankrabatt"

Das sagt auch Krähn, der für seine Ausbildung rund 30 Kilometer pendelt. Um nach Landau zu kommen, wo er eine Ausbildung als Bauzeichner macht, hat er ohne Auto keine Chance. In seinem Wohnort Frontenhausen gebe es zwar eine Bushaltestelle gleich um die Ecke. Doch da halte nur der Schulbus – der fährt nur dann, wenn Schüler in die Schule und zurück müssen.

Ein einziges Mal habe er versucht, mit den Öffentlichen nach Landau zu kommen. Doch das scheiterte kläglich, berichtet er heute: Denn an dem Tag musste er zwar zur Arbeit, aber Schüler nicht in die Schule. Das heißt dann automatisch auch: kein Bus.

Da er zu Beginn seiner Lehre noch nicht volljährig war, musste seine Mutter ihn fast täglich fahren, manchmal nahm ihn eine Arbeitskollegin mit. Seit er 18 ist, fährt er selbst. Für finanzielle Entlastung setzt er jetzt eher auf den "Tankrabatt", der ebenfalls Teil des zweiten Entlastungspakets der Bundesregierung ist.

Minister Wissing will durch das 9-Euro-Ticket auch Erkenntnisse darüber gewinnen, wie der ÖPNV aufgestellt werden muss, damit in Zukunft mehr Menschen regelmäßig in Bus oder Bahn steigen.

In Dingolfing-Landau hätten einige Lust, das zu tun. Aber nicht die Möglichkeit. Hier ist das 9-Euro-Ticket weniger eine "Chance" für die Bürger als ein Auftrag an die Politik.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
  • Gespräch mit Ines Helmer am 1.6. in Oberdingolfing
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