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Das Problem mit den Abschiebungen


Debatte um Abschiebungen
Einfach unmöglich


Aktualisiert am 26.01.2023Lesedauer: 5 Min.
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Abschiebung in Baden-Württemberg (Archivbild): Für Rückführungen gibt es viele rechtliche Hürden. (Quelle: Marcus Brandt)

Der Mann, der in einem Zug auf Menschen eingestochen haben soll, ist schon durch Gewalttaten aufgefallen. Nun wird die Frage laut: Warum wurde er nicht abgeschoben?

Es ist eine erschreckende Tat, die ganz Deutschland erschüttert: Offenbar wahllos hat am Mittwoch ein Mann in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein mit einem Messer auf zahlreiche Menschen eingestochen. Zwei Teenager, 17 und 19 Jahre alt, starben, weitere Reisende wurden schwer verletzt.

Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um Ibrahim A., einen anerkannten Asylbewerber ohne Staatszugehörigkeit, der offenbar aus dem Gaza-Streifen stammt – und sich laut Medienberichten einiges hat zuschulden kommen lassen.

Seitdem er 2014 in Deutschland ankam, ist er offenbar schon mehrfach auffällig geworden. Zwölfmal ist er laut der Zeitung "Welt" polizeilich in Erscheinung getreten – wegen Diebstahls, gefährlicher Körperverletzung und sexueller Nötigung. Erst im August 2022 war er wegen zwei Gewaltdelikten in Hamburg verurteilt worden. Einem "Spiegel"-Bericht zufolge hatte er vor einer Essensausgabe für Wohnungslose mehrfach auf einen anderen Mann eingestochen. Erst vergangene Woche kam der mutmaßliche Täter von Brokstedt aus der Untersuchungshaft frei. Mehr dazu lesen Sie hier.


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"Natürlich müssen wir über Abschiebungen sprechen"


Grünen-Chef Omid Nouripour


Angesichts dieser Polizeiakte fragen sich viele: Wieso wurde Ibrahim A. bislang nicht abgeschoben?

Theoretisch ist die Sache klar: Im Koalitionsvertrag hatte die Ampelkoalition eine "Rückführungsoffensive" angekündigt, bezogen insbesondere auf Gefährder und Straftäter. "Natürlich müssen wir über Abschiebungen sprechen", sagte Grünen-Chef Omid Nouripour dazu am Mittwochabend in der ZDF-Talksendung "Markus Lanz". In der Praxis aber sind Abschiebungen nicht nur ein politisch heikles Thema, sondern auch schwierig umzusetzen, wie das Beispiel von Ibrahim A.s zeigen dürfte. Ein Überblick:

Gab es bei dem mutmaßlichen Täter Abschiebe-Überlegungen?

Ob deutsche Behörden erwogen hatten, Ibrahim A. abzuschieben, ist bislang noch nicht bekannt. Fest steht: Als ausreisepflichtig galt A. nicht, eine Abschiebung wäre derzeit nicht möglich.

Das Innenministerium von Schleswig-Holstein, wo der mutmaßliche Täter zuletzt gewohnt haben soll, verweist auf die Innenverwaltung von Hamburg, wo der mutmaßliche Täter zuletzt in U-Haft saß. Man vertraue darauf, dass die Überlegungen für eine Abschiebung dort angestrengt worden sind, teilte eine Sprecherin mit. Der Innensenat in Hamburg wiederum teilte mit, dass das ausländerrechtliche Verfahren nicht bei der Hansestadt liege und er eine Abschiebung dementsprechend nicht anstoßen könne.

Während seiner ersten Jahre in Deutschland hatte Ibrahim A. in Nordrhein-Westfalen gewohnt, hier soll er verschiedenen Medienberichten zufolge auch mehrfach polizeilich aufgefallen sein. Das nordrhein-westfälische Integrationsministerium wiederum verweist auf Schleswig-Holstein. Bis zum August 2021 habe der Tatverdächtige zwar noch in Nordrhein-Westfalen gelebt. Mit dem Umzug nach Kiel aber habe auch die ausländerrechtliche Zuständigkeit gewechselt, teilte das Ministerium t-online mit.

Unabhängig von der Zuständigkeit gilt: Eine Ausweisung des mutmaßlichen Täters, sollte sie denn angestrengt werden, ist vermutlich schwierig – unter anderem, weil er offenbar keine Staatsangehörigkeit besitzt. Dieser Umstand wiederum ist nicht ungewöhnlich: Viele Menschen, die im Gaza-Streifen geboren worden sind, gelten als staatenlos, da die Gebiete der palästinensischen Autonomiebehörde nicht als Staat anerkannt werden.

Zwar sind Abschiebungen in die palästinensischen Gebiete theoretisch trotzdem möglich, wie Gerichte festgestellt haben. In einem solchen Fall aber kommt es dann auf die Behörden des Heimatlandes an: Stellen sie die benötigten Papiere für eine Abschiebung aus oder nicht? Fakt ist: Abschiebungen in die palästinensischen Gebiete sind selten. Jüngsten Zahlen zufolge gab es etwa im gesamten Jahr 2021 sowie im ersten Halbjahr 2022 keine Rückführungen dorthin.

Warum wurde Ibrahim A. als Asylbewerber anerkannt?

Das ist derzeit offen. Fest steht bislang nur: Er erhielt im Jahr 2016 subsidiären Schutz. Das heißt: Die Behörden gingen in seinem Fall per Definition davon aus, dass ihm im Herkunftsland ein ernsthafter Schaden wie Todesstrafe, Folter oder die Bedrohung durch einen bewaffneten Konflikt droht.

Sollte sich an dieser Einschätzung nichts geändert haben, würde das eine Abschiebung so gut wie unmöglich machen. So darf anerkannten Asylbewerbern ihr Status zwar nach schweren Straftaten entzogen werden. Droht der Person im Heimatstaat allerdings Gefahr für Leib und Leben, darf sie nicht abgeschoben werden.

Eine weitere wichtige Frage: Ist der mutmaßliche Täter von Brokstedt bereits rechtskräftig verurteilt worden, ist er also überhaupt schon ein verurteilter Straftäter? Es gab in Nordrhein-Westfalen verschiedene Ermittlungen, die nach Informationen des Focus in Geldauflagen endeten oder eingestellt wurden. Auch das Urteil wegen des Messerangriffs in Hamburg ist derzeit noch nicht rechtskräftig, da Ibrahim A. Berufung eingelegt hatte. Oberstaatsanwalt Carsten Ohlrogge sagte in einer Pressekonferenz, es habe sich um die erste Inhaftierung gehandelt. "Er gilt nach der Regelung in Schleswig-Holstein nicht als Intensivtäter."

Sein Beispiel zeigt exemplarisch, wie kompliziert Abschiebungen sind. Oft scheitern sie etwa, weil sich das Herkunftsland weigert, die Person zurückzunehmen – vor allem, wenn es sich um Straftäter handelt. Bei anderen Ausreisepflichtigen ist die Identität ungeklärt. Und wieder andere entziehen sich einer Abschiebung, indem sie kurzfristig untertauchen oder sich verletzen. (Was Abschiebungen um mehrere Monate verzögern kann, berichtete der Bundespolizist Lars Wendland im Dezember bei "Markus Lanz", das Video sehen Sie hier.)

Was plant die EU?

Die Thematik rund um Abschiebungen ist nicht nur in Deutschland ein Politikum, sondern auch auf Ebene der EU. Die Kommission hatte noch 2018 das Ziel festgelegt, dass 70 Prozent der Ausreisepflichtigen abgeschoben werden sollen.

2021 waren es EU-weit allerdings nur 21 Prozent. Das Urteil des Europäischen Rechnungshofs dazu fällt vernichtend aus: Das derzeitige EU-Rückkehrsystem sei "in hohem Maße ineffizient", heißt es in einem Bericht von 2021. Viele Staaten setzen ihre Entscheidungen nicht konsequent um, zudem gebe es zu wenige Abkommen mit Drittstaaten.

Das ist an diesem Donnerstag auch Thema in Stockholm: Dort beraten die Innenminister und -ministerinnen der EU darüber, wie die Quote gesteigert werden könnte. Ein Streitpunkt dabei: Soll die EU ihre Visapolitik und Entwicklungshilfe als Druckmittel nutzen, um mehr Rückführungsabkommen zu schließen?

Weigert sich ein Staat, seine Angehörigen zurückzunehmen, könnten etwa die Bearbeitungszeit von Visa-Anträgen oder die Gebühren angehoben werden. Die EU-Kommission hat bislang vier Länder vorgeschlagen, bei denen dieses Druckmittel angewendet werden könnten. Angenommen haben die EU-Staaten das bislang nur für ein Land: Gambia.

Denn dieses Druckmittel ist durchaus umstritten. Die schwedische Regierung etwa hält es für überaus effektiv. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hingegen äußerte sich skeptisch: "Ich glaube, dass der Weg über Migrationsabkommen der bessere ist." Erst im Dezember hatte Deutschland eine solche Vereinbarung mit Indien geschlossen.

Aus der EU hieß es, der eigentliche Sinn sei ohnehin nicht die Anwendung, sondern die Drohung. So sei die Zusammenarbeit mit Bangladesch allein durch die von der Kommission vorgeschlagenen Druckmittel besser geworden, heißt es in Brüssel. Noch in dieser Woche will die Kommission eine neue Strategie vorlegen, wie mehr Menschen abgeschoben werden können.

Verwendete Quellen
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