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Corona-Krise: "Unsere Freiheit darf nicht der Sicherheit geopfert werden"


Ex-Verfassungsrichter Papier
Unsere Freiheit darf nicht der Sicherheit geopfert werden

MeinungEin Gastbeitrag von Hans-Jürgen Papier

Aktualisiert am 23.09.2021Lesedauer: 5 Min.
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Deutsches Grundgesetz: Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, mahnt die Bedeutung der Freiheit auch in Zeiten der Corona-Pandemie an.Vergrößern des Bildes
Deutsches Grundgesetz: Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, mahnt die Bedeutung der Freiheit auch in Zeiten der Corona-Pandemie an. (Quelle: U. J. Alexander/imago-images-bilder)

Corona bedroht nicht nur die Gesundheit der Bürger, sondern auch ihre Freiheit. Warum die Sicherheit aber nicht auf Kosten der Grundrechte gehen darf, erklärt der Verfassungsrechtler Hans-Jürgen Papier in einem neuen Buch.

Ob in Hamburg, München, Frankfurt oder Dresden, in Wustrow, Füssen, Mettmann oder anderswo – für uns Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist Freiheit vor allem eins: eine Selbstverständlichkeit.

Hans-Jürgen Papier, Jahrgang 1943, wurde 1998 Vizepräsident und 2002 schließlich Präsident des Bundesverfassungsgerichts. In Papiers Amtszeit fiel unter anderem das Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung. 2010 schied der Jurist aus dem Bundesverfassungsgericht aus und lehrte wieder als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mit "Freiheit in Gefahr. Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können. Ein Plädoyer von Deutschlands höchstem Richter a.D." ist gerade sein neuestes Buch erschienen.

Selbst wenn den meisten von uns bewusst ist, dass wir nicht jede spontane Idee jederzeit sofort verwirklichen können, gehen wir doch davon aus, dass wir grundsätzlich die freie Wahl haben, das heißt in unseren Entscheidungen über die Gestaltung unseres Lebens und unseres Alltags frei sind. Selbstverständlich bestimmen wir, wo wir wohnen oder wann wir das Haus verlassen; mit wem wir einen Kaffee oder ein Bier trinken, selbstverständlich lassen wir uns nicht diktieren, wen wir lieben und mit wem wir befreundet sein sollen.

Ob wir in die Kirche, die Moschee oder die Synagoge gehen, ist in unser eigenes Ermessen gestellt. Wie wir unsere Meinung bilden, sie äußern und verbreiten, ist unserer Entscheidung überlassen. Selbstverständlich sind uns auch die freie Wahl der Ausbildung, des Studiums, des Berufs, der Arbeitsstätte sowie das Recht auf freien Erwerb von Eigentum und nicht zuletzt das Recht auf freie Wahl der Partnerschaft anheimgestellt. Und reisen können wir im Großen und Ganzen, wie und wohin wir wollen.

Wie bedeutsam unsere Freiheit und die Grundrechte, die sie absichern, für unsere Lebensgestaltung sind, wird sofort und schmerzlich spürbar, wenn sie eingeschränkt werden. Genau diese Erfahrung machen wir in Deutschland seit Mitte März 2020, nachdem von einem Tag auf den anderen als Reaktion auf die pandemische Ausbreitung des neuartigen SARS-CoV öffentliches Leben und Wirtschaft in der Bundesrepublik flächendeckend heruntergefahren und die meisten unserer Freiheitsrechte, über die wir uns im Alltag kaum Gedanken machen, ausgesetzt oder stark eingeschränkt wurden.

Diese Zeit der Restriktion war zwar zunächst nur von einer begrenzten Dauer, Lockerungen folgten, und die schrittweise Rückkehr in Richtung Normalität wurde angestrebt. Doch im Herbst 2020 folgte der nächste sogenannte Lockdown, und trotz aller Bemühungen und entgegen der ursprünglichen Beteuerungen der Regierenden war Ende April – sechs Monate später – immer noch kein Ende in Sicht.

Schiller erkannte das Problem

Es zeigte sich, dass der Weg bis zur Aufhebung aller Restriktionen auch mit Zulassung der ersten Impfstoffe noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Wie kein anderes Ereignis machte die Pandemie uns deutlich, dass es uns mit unseren Grundrechten beziehungsweise Freiheitsrechten in etwa so geht wie mit der Luft zum Atmen: Sind sie vorhanden, nehmen wir sie nicht wahr, fehlen sie, leiden wir unter diesem Mangel.

Friedrich Schiller hat diese paradoxe Erfahrung bereits vor über zweihundert Jahren in Worte gefasst, als er schrieb: "… die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt." Ist uns, weil wir als Gesellschaft so lange daran gewöhnt sind, frei zu sein, das Bewusstsein für Freiheit und ihren Wert abhandengekommen? Verstehen wir Freiheit nur noch im konsumistischen Sinn von Freisein in der Wahl von Konsumgütern?

Haben wir, während wir uns ständig mit den neuesten Kleidermoden und Einrichtungstrends, Freizeit und Reisemöglichkeiten beschäftigen und permanent aufgefordert sind, uns zwischen dieser und jener Bedürfnisbefriedigung zu entscheiden, aus den Augen verloren, dass Freiheit auch eine politische Dimension hat? Vielleicht.

Schlusslicht Schweiz

Wir brauchen nur einen Blick auf die ehemalige DDR und die anderen untergegangenen Systeme des Ostblocks zu werfen: Dort war der Wunsch nach Reise- und Meinungsfreiheit die wesentliche Triebkraft für das Erstarken der Bürgerrechtsbewegungen; dazu herrschte aber auch in vielen anderen Bereichen des Lebens häufig schmerzlich empfundene Unfreiheit, so für viele etwa bei der Studien- und Berufswahl oder der Möglichkeit, sich außerhalb des bestehenden Parteiapparats mit seinen Hierarchien und Zwängen politisch zu betätigen.

Und schauen wir uns um: Es gibt immer wieder Länder und Weltregionen, in denen die herrschenden Regime ihre Politik auf unmittelbare Gewalt oder religiöse Dogmen gründen. Im Iran oder im Königreich Saudi-Arabien, aber auch in Ägypten, dem Jemen, den palästinensischen Gebieten, Indonesien, Pakistan, Malaysia, dem Sudan und in Teilen weiterer afrikanischer Staaten existieren etwa islamische Religionspolizeien, die aus der Scharia abgeleitetes Recht zur Unterdrückung abweichender Meinungen durchsetzen, wobei die Anwendung von Körperstrafen keine Seltenheit ist.

Insbesondere den Frauen werden hier viele von uns als selbstverständlich erachtete Rechte vorenthalten. Welche Freiheiten statthaft sind und für wen sie gelten, ist und war immer umkämpft und hängt von vielen Faktoren, wie dem Stand des Wissens und der Wissenschaften sowie den vorherrschenden gesellschaftlichen Einstellungen, ab. So verfügten die Bürger in den antiken Demokratien über ethisch wohlbegründete Freiheitsrechte, die sie vor tyrannischer Willkür und Unterdrückung schützten, was aber nicht für die Sklaven galt, die unter Zwang deren Wohlstand erarbeiten mussten.

Freiheit als Lebensbegleiter

Sie hatte man aus dem philosophischen und rechtlichen Diskurs über die Freiheit ausgegrenzt, und so kamen sie auch nicht in den Genuss ihrer Segnungen. Wer meint, bei diesem Beispiel handle es sich um eine längst überholte Fragestellung, ein philosophisches und rechtliches Problem, das sich seit vielen Jahrhunderten erledigt habe, braucht nur in unser Nachbarland Schweiz zu schauen, das sich selbst als Musterland der Demokratie begreift und erst 1971 das Wahlrecht für Frauen eingeführt und somit das Recht auf politische Mitbestimmung auf den weiblichen Teil der Bevölkerung ausgeweitet hat.

Mich persönlich hat das Thema Freiheit mein gesamtes berufliches Leben begleitet. Als Staatsrechtswissenschaftler, insbesondere aber als Richter, als Richter des Bundesverfassungsgerichts und schließlich als dessen Präsident, war ich immer wieder damit befasst, zu untersuchen und zu beurteilen, was Freiheit für das Zusammenleben der Menschen bedeutet, wie sie in unserer Verfassung, dem Grundgesetz, verankert ist und unser Rechtssystem überhaupt erst begründet.

Viele Male galt es dabei abzuwägen, wie die Spannungen ausbalanciert werden können und sollen, die sich ergeben, wenn staatlich garantierte Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt mit Belangen des Gemeinwohls, etwa den ebenfalls wichtigen Sicherheitserfordernissen, in Konflikt geraten – wenn es zum Beispiel darum geht, das Leben von Bürgerinnen und Bürgern vor terroristischer Bedrohung oder den Folgen von Umweltzerstörungen und anderen Katastrophen zu schützen.

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Das ist selten eine leichte Aufgabe für die Entscheider – wie jetzt in der Corona-Pandemie beobachtet und erfahren werden kann. Ganz pauschal möchte ich aber schon an dieser Stelle sagen, dass die wesentliche Bedeutung der Freiheit für unsere staatliche Ordnung und unser Selbstverständnis immer als Maßstab genommen werden muss.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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