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Deutschland und die Ukraine: Zeit für eine besondere Geste


Tagesanbruch
"Alles voller Blut"

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 21.09.2021Lesedauer: 5 Min.
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Deutsche Schützen durchsuchen nach dem Massaker in der Schlucht Babi Jar bei Kiew Kleiderberge der ermordeten Juden. Das Bild machte der Fotograf Johannes Hähle, Mitglied einer deutschen Propagandakompanie.Vergrößern des Bildes
Deutsche Schützen durchsuchen nach dem Massaker in der Schlucht Babi Jar bei Kiew Kleiderberge der ermordeten Juden. Das Bild machte der Fotograf Johannes Hähle, Mitglied einer deutschen Propagandakompanie. (Quelle: Archiv des Hamburger lnstituts für Sozialforschung)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

"wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten", hat Helmut Kohl vor einem Vierteljahrhundert gesagt. Heute ist sein berühmter Satz ebenso wahr wie damals. Ohne ein starkes Europa stünde Deutschland ziemlich verloren in der Weltgeschichte herum, und ohne ein gedeihliches Verhältnis zu den Nachbarstaaten der EU ist in unserer bewegten Weltregion kein dauerhafter Frieden möglich. Das erscheint so selbstverständlich, dass derzeit kein Wahlkämpfer auf den Gedanken kommt, mehr als ein paar Phrasen darüber zu verlieren. Dabei ist die Eintracht zwischen Europas Völkern alles andere als selbstverständlich. Wer auf einem Kontinent aus unzähligen Kulturen sicher leben will, muss verstehen, was die Bürger anderer Staaten bewegt, warum sie manchmal dünnhäutig reagieren – und wann ihnen eine freundschaftliche Geste besonders wichtig ist.

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Der Zeitpunkt für eine besondere deutsche Geste an die Bürger der Ukraine ist jetzt. Um das zu begreifen, müssen wir 80 Jahre zurückschauen: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion lag noch keine drei Monate zurück, als die Wehrmacht am 19. September 1941 in Kiew einmarschierte – gefolgt von rund 120 Männern des Sonderkommandos 4a der "Einsatzgruppe C". Was wie eine Abteilung von Bürokraten klingt, war in Wahrheit ein Trupp der nationalsozialistischen Todesschwadronen: ehemalige Polizisten, Juristen und Gestapomänner mit dem Auftrag, die jüdische Bevölkerung Osteuropas auszurotten.

Sie führten ihn mit glühendem Eifer und kaltem Gemüt aus. Als sie in Kiew anrückten, hielten sich dort noch rund 50.000 Juden auf, überwiegend Frauen, Kinder und ältere Männer. Mehrere Bombenanschläge des sowjetischen Geheimdiensts dienten den Eroberern als willkommener Vorwand: Sie würden "umgesiedelt", gaukelten sie den Juden vor, und ließen sie in kilometerlangen Kolonnen aus der Stadt marschieren. "Die Menschenmassen bewegten sich in ununterbrochenem Zug über die Lwowskaja-Straße, während auf den Bürgersteigen die deutschen Patrouillen standen", berichten Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg in ihrem monumentalen "Schwarzbuch" über den Genozid an den sowjetischen Juden. "Seit dem frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein bewegten sich so viele Menschen auf der Fahrbahn, dass es schwierig war, von einer Straßenseite der Lwowskaja auf die andere zu gelangen. Dieser Todesmarsch dauerte drei Tage und drei Nächte. Die Stadt verstummte."

Ziel der Kolonnen war Babi Jar, die "Altweiberschlucht" vor der Stadt. Dort ließen die Männer des Einsatzkommandos die Menschen in Gruppen antreten: "Aus der Menschenmenge wurden je dreißig bis vierzig Personen herausgeholt und unter Bewachung zum 'Registrieren' geführt", berichten Grossman und Ehrenburg. "Ihnen wurden die Dokumente und Wertsachen abgenommen. (...) Dann zwangen die Deutschen alle – auch Mädchen, Frauen, Kinder und Alte –, sich völlig zu entkleiden. Die Kleidungsstücke wurden eingesammelt und akkurat zusammengelegt. Den unbekleideten Menschen – Männern und Frauen – rissen sie die Ringe von den Fingern. Dann stellten die Henker die Todgeweihten in Gruppen am Rande eines tiefen Abgrunds auf und erschossen sie von hinten. Die Körper stürzten den Steilhang hinunter. Die kleinen Kinder wurden bei lebendigem Leibe in die Schlucht gestoßen."

Die Autoren zitieren den Bericht einer Frau, die das Massaker wie durch ein Wunder überlebte: "Gegen 12 Uhr nachts gaben die Deutschen Befehl, uns aufzustellen. Ich wartete den nächsten Befehl nicht ab, sondern stieß sofort mein Töchterchen in den Graben und warf mich auf sie. Eine Sekunde später begannen die Leichen auf mich herabzustürzen. Dann wurde es still. (...) Ich fühlte, dass meine Tochter sich schon nicht mehr bewegte. Ich wälzte mich zu ihr, bedeckte sie mit meinem Körper, ballte die Hände zur Faust und schob sie dem Kind unter das Kinn, damit es nicht erstickte. (...) Um uns herum war alles voller Blut. Die Erschießungen dauerten bis 9 Uhr morgens an. Über mir und unter mir lagen Leichen."

33.771 waren es am Ende, so meldeten es die Täter pflichtschuldig an ihre Vorgesetzten in Berlin. 33.771 Menschen, ermordet am 29. und 30. September 1941, das größte einzelne Massaker an Juden, für das die Wehrmacht mitverantwortlich war. Es folgten viele weitere. Allein in der Ukraine erschossen die Deutschen mehr als eine Million Juden, doch bis heute ist der "Holocaust durch Kugeln" hierzulande vielen Menschen kein Begriff. Auschwitz und Dachau, damit verbindet man etwas – aber Babi Jar, Odessa, Charkow, Berditschew?

Es sind blutgetränkte Namen. Namen unendlichen Leids und Namen deutscher Schande. Wer heute die Ukraine besucht, wird fast in jeder Familie auf Erinnerungen an Vorfahren treffen, die den deutschen Überfall vor 80 Jahren nicht überlebten. Dass die Bundesrepublik heute trotzdem in Osteuropa hohes Ansehen genießt, ist mehr als ein Wunder. Es ist die Kraft der Vergebung, die uns dort entgegenwächst. Und es ist an uns, sie mit Dankbarkeit, Anteilnahme und Verbundenheit zu beantworten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reist Anfang Oktober in die Ukraine, um an einer Gedenkveranstaltung in Babi Jar teilzunehmen. Ein starkes Signal. Aber nicht genug für unser Land. Frieden und Stabilität in Europa erhalten wir nur alle gemeinsam: Indem wir uns auf unserem bewegten Kontinent füreinander interessieren, indem wir um die Schrecken der Geschichte wissen und Lehren daraus ziehen. Dann kann das Gute stärker sein als das Böse. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht gestalten: Da hat er schon recht gehabt, der alte Kohl.


Vereint gegen das Virus

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Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
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Mit Material von dpa.

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