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Corona-Ausbruch in Deutschland: 83 Millionen Idioten


Tagesanbruch
83 Millionen Idioten

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.11.2021Lesedauer: 7 Min.
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In einer Diskothek im niedersächsischen Friesoythe kam es während einer Polizeikontrolle zu einer Panik mit Verletzten: Viele Gäste hatten ohne Impfpasskontrolle Einlass erhalten.Vergrößern des Bildes
In einer Diskothek im niedersächsischen Friesoythe kam es während einer Polizeikontrolle zu einer Panik mit Verletzten: Viele Gäste hatten ohne Impfpasskontrolle Einlass erhalten. (Quelle: Andre van Elten/TNN/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Ja, Sie. Warum verhalten Sie sich wie ein Idiot? Doch, ich meine Sie. Oder waren Sie etwa nicht kürzlich im Supermarkt, sind mit der S-Bahn gefahren und haben Ihre Freundin auf einen Kaffee getroffen? Absolut unverantwortlich! Angesichts der katastrophalen Corona-Lage wäre es das einzig Vernünftige, dass Sie sich zu Hause einbunkern: Tür zusperren, morgens, mittags, abends Konservenfraß essen, fertig. Und das wochenlang, nein, Moment: monatelang. Der komplette Verzicht auf menschliche Kontakte ist das Einzige, was angesichts der explodierenden Infektionszahlen jetzt noch hilft, sagen Epidemiologen, alle anderen Maßnahmen greifen zu kurz. Eine Zumutung. Kein Wunder, dass die Kanzlerin, der künftige Kanzler und die Ministerpräsidenten bei ihrem Treffen gestern Nachmittag eher ratlos als beherzt wirkten. "Ihre neuen Maßnahmen sind zu wenige, und sie kommen zu spät", schreibt mein Kollege Tim Kummert in seinem Kommentar. "So wird sich die Pandemie kaum eindämmen lassen."

Deutschland hat die rote Linie überschritten. Die Zahl der freien Intensivbetten schrumpft stündlich, Rettungswagen kutschieren Schwerkranke durchs Land, dringende Operationen werden verschoben. Und das Schlimmste kommt wohl erst noch. Wir sind drauf und dran, den Kampf gegen Corona zu verlieren, weil wir unvorsichtig waren, zu langsam geimpft und die Warnungen der Mediziner zu lange ignoriert haben.

Wir? Ja, Sie haben richtig gelesen: Sie und ich und 83 Millionen weitere Bürger dieses Landes. Aber wieso, rufen Sie jetzt empört aus, ich habe mich doch impfen lassen, ich trage eine Maske, wasche mir regelmäßig die Hände und verhalte mich auch sonst sehr vorsichtig! Machen Sie bestimmt, und das ist natürlich gut. Doch im Ringen mit einem übermächtigen Gegner reicht es nicht, wenn Sie und Millionen unserer Mitmenschen sich verantwortungsvoll verhalten – ein paar Millionen andere aber nicht. Dann gewinnt das Virus, dann frisst es sich durch die gesamte Gesellschaft, bis alle immunisiert oder tot sind. Erst dann stirbt das Virus aus. Oder es mutiert, und das Drama beginnt von vorn. So sieht es aus, und wir lassen es uns gefallen: Das ist das Bild, das nachfolgende Generationen von uns haben werden, wenn sie auf die Jahre 2020 und 2021 zurückschauen und sich fragen, warum ihre Vorfahren eigentlich solche Idioten waren. Warum wir diese Krise nicht schneller in den Griff bekommen haben.

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Dabei sind Antworten nicht so schwer zu finden: Ob wir es wollen oder nicht, wir sitzen alle in einem Boot. Wir können uns abmühen, doch diese Krise überfordert unsere Gesellschaft. Vielleicht geht es uns einfach zu gut, vielleicht haben wir verlernt, was echte Not bedeutet und wie man darauf reagiert. Vielleicht ist der Grund zu einem Teil auch in unserem politischen System zu suchen. Frau Merkel kann nicht Eingänge von Hochhäusern zumauern lassen, wie es Herr Xi in China befohlen hat. Die Bundesregierung ist kein Politbüro, das in zwei Stunden beschließt, Millionenstädte von der Außenwelt abzuriegeln. Der Bundestag, der Bundesrat und die Ministerpräsidentenkonferenz sind kein Volkskongress, der jeden Befehl eines Diktators artig abnickt. Unsere Demokratie basiert auf Gewaltenteilung, Pluralismus, parlamentarischer Kontrolle und rechtsstaatlichen Regeln. Das braucht Zeit. Das ist manchmal furchtbar zäh. Das verhindert drastische Entscheidungen so lange, bis es nicht mehr anders geht. Und das führt in der Regel nie zur besten, sondern immer nur zu einer möglichst guten Lösung. Deshalb greifen sich viele Bürger und erst recht wir Journalisten, die wir eh immer alles besser wissen, an den Kopf: Wieso lavieren die da oben so lange herum, statt schnell zu handeln? Wieso lassen die zu, dass uns das Virus schon wieder überrumpelt?

Auch darauf gibt es eine Antwort: Weil die da oben in Wahrheit genauso sind wie wir. Die Leute in der Bundesregierung, in den Landesregierungen, im Bundestag und in den Länderparlamenten stammen aus unserer Mitte, wir haben sie direkt oder indirekt gewählt und ihnen Macht auf Zeit verliehen. Sie entscheiden, und wenn sie schlecht entscheiden, können wir sie abwählen. Sie haben die Aufgabe, in jeder Situation die Belange aller Bürger zu berücksichtigen, das gelingt ihnen mal besser, mal schlechter (und in Wahlkampfzeiten manchmal gar nicht). Und natürlich müssen sie genauso Kompromisse machen, wie wir alle immerzu Kompromisse machen. Sogar in einer Weltkrise. Ein Müllmann kann sich in einer Pandemie ebenso wenig zu Hause einschließen wie ein Polizist oder eine Journalistin. Der eine holt den Dreck ab, der zweite sorgt dafür, dass auf der Straße keine Anarchie ausbricht, die dritte berichtet ihren Lesern in Form von Nachrichten und Reportagen, was überall los ist. Dafür muss man mit Kollegen zusammenarbeiten, recherchieren, Menschen treffen. In einer Diktatur kann ein ganzes Land eingefroren werden, in einer Demokratie nicht.

Eine offene Gesellschaft geht anders mit Krisen um als eine autoritäre. Sie funktioniert nicht mehr, wenn sich 83 Millionen Menschen zu Hause einbunkern. Sie lebt vom Austausch. Sie wägt ab, sie berücksichtigt alle Interessen und Befindlichkeiten, sie sucht Kompromisse. Das dauert länger, es ist schmerzhaft, aber es ist systemimmanent. Und sie braucht manchmal sehr lange, um aus ihren Fehlern zu lernen. Hätten Frau Merkel und Herr Spahn vor anderthalb Jahren geahnt, was in dieser Krise noch alles auf das Land zukommt, hätten sie eine Impfpflicht wohl niemals ausgeschlossen.

Es heißt immer, die Corona-Pandemie sei die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch ich habe das schon geschrieben, aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Natürlich ist die Lage gegenwärtig übel. Aber auch diese Katastrophe werden wir überwinden. Um in Tagen wie diesen nicht vollkommen schwarzzusehen, hilft es gelegentlich, den Blick historisch zu weiten. Betrachtet man die Kosten, die Opfer und die langfristigen Verwerfungen, war die Weltfinanzkrise ab 2007 womöglich gar nicht weniger folgenschwer als Corona: Auf das Platzen der amerikanischen Immobilienblase folgten rund um den Globus jahrelange Erschütterungen. Tausende Unternehmen stürzten in die Pleite, Millionen Menschen verloren ihre Arbeit und viele ihre Existenzgrundlage. Staaten stürzten in die Zahlungsunfähigkeit und mussten mit Abermilliarden an Steuergeld gerettet werden. Die Zinsen fielen ins Bodenlose, die Ersparnisse von Millionen Menschen schrumpften, auch hierzulande. Die Preise für Weizen explodierten, was den Ausbruch der Revolutionen in Nordafrika und des Syrienkriegs beförderte. Flüchtlingswellen überrumpelten Europa, Terroristen folgten. Die Levante-Staaten und Westafrika sind zu Dauerkonfliktherden geworden, die europäischen Militär- und Hilfseinsätze verschlingen Milliarden. Noch heute, fast 15 Jahre nach ihrem Ausbruch, kämpfen wir mit den Folgen der Weltfinanzkrise – und um sie zu bewältigen, werden wir wohl nochmals 15 Jahre brauchen.

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Was bedeutet das für unsere gegenwärtige Lage? Vielleicht einfach nur dies: Manche Krisen sind so groß, dass sie unsere Kräfte übersteigen. Ihre Bewältigung braucht Zeit. Langfristig, aber auch im Moment ihrer heftigsten Eruption. Auch Erkenntnisprozesse brauchen Zeit, das ist oben in der Gesellschaft nicht anders als unten. Dann werden Fehler gemacht, das ist schlimm, aber es ist menschlich. Vielleicht sollten wir gelegentlich daran denken, wenn wir wieder mal auf die trägen Politiker schimpfen. Sie brauchen leider lange, um den Ernst der Lage zu begreifen und entschlossen zu handeln. Aber sie sind genauso wenig Idioten wie Sie und ich und die allermeisten anderen Bürger dieses Landes. Wir sind Menschen in einem System, das nur im Konsens funktioniert. Und das ist, so bitter es manchmal klingt, gar nicht schlecht.

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Jetzt entscheidet der Bundesrat

Der Bundestag hat das von SPD, Grünen und FDP vorgelegte Infektionsschutzgesetz nach hitziger Debatte beschlossen: Es soll den Bundesländern die Rechtsgrundlage verschaffen, weiterhin harte Corona-Regeln zu verhängen, wenn die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" am 25. November ausläuft. Weil aber Ausgangsbeschränkungen und Veranstaltungsverbote nicht mehr vorgesehen sind, geht das Regelwerk vielen Experten und auch CDU und CSU nicht weit genug.

Um in Kraft treten zu können, muss das Gesetz heute den Bundesrat passieren. Dort könnte die Union, die an 10 von 16 Landesregierungen beteiligt ist, eine Zustimmung verhindern. Der nordrhein-westfälische Regierungschef Hendrik Wüst, gegenwärtig Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, nennt das Auslaufen der epidemischen Lage "unverantwortlich" und drohte zunächst, das Gesetz abzulehnen. Am Abend lenkte er dann aber doch ein. Damit ist eine zähneknirschende Zustimmung, wie sie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bereits angekündigt hat, wahrscheinlich.


Schiff ahoi

Erst kostete die Sanierung statt 10 enorme 135 Millionen Euro, dann kritisierten Naturschützer die Verwendung von seltenem Teakholz, schließlich verhinderten auch noch Keime in der Trinkwasseranlage das planmäßige Auslaufen des Bundeswehr-Segelschulschiffs "Gorch Fock". Heute aber soll der traditionsreiche Dreimaster
endlich in See stechen
: Von seinem Heimathafen Kiel aus nimmt er unter dem Kommando von Kapitän Nils Brandt mit 120-köpfiger Besatzung Kurs in Richtung Lissabon, anschließend geht's weiter nach Teneriffa. Vielleicht denkt der eine oder andere Matrose währenddessen darüber nach, was man mit den 135 Millionen Euro stattdessen hätte anstellen können.


Lichtblick des Tages

Corona, graues Wetter, Winterbeginn: Da bekommt man schnell schlechte Laune. Wir aus der t-online-Redaktion wollen Ihnen deshalb nun öfter eine kleine Aufmunterung offerieren. Ich beginne mit einem Schnappschuss von zwei Gesellen, die mir jedes Mal, wenn ich sie treffe, außerordentlich zufrieden vorkommen:


Was lesen?

Um einen bundesweiten Lockdown werden wir wohl nicht herumkommen, sagt der Covid-Simulator Thorsten Lehr. Im Gespräch mit meiner Kollegin Christiane Braunsdorf erklärt er, warum.


Was ist eigentlich bei den "Querdenkern" los? Unser Rechercheur Lars Wienand hat ein bemerkenswertes Video entdeckt.


Millionen Menschen wollen jetzt möglichst schnell die dritte Impfung haben. Unser Reporter Jannik Läkamp hat die Stimmung in einem Berliner Impfzentrum eingefangen.


Was amüsiert mich?

Was sagt man eigentlich Leuten, die eine Corona-Impfung aus Furcht um ihr Erbgut ablehnen? Hier weiß es jemand.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Wochenausklang. Lassen Sie sich nicht verdrießen, es kommen auch wieder bessere Tage. Morgen erscheint unser Wochenend-Podcast, diesmal mit einem Bericht von einem brisanten Einsatz unseres Reporters Tim Kummert. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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