83 Millionen Idioten
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Ja, Sie. Warum verhalten Sie sich wie ein Idiot? Doch, ich meine Sie. Oder waren Sie etwa nicht kΓΌrzlich im Supermarkt, sind mit der S-Bahn gefahren und haben Ihre Freundin auf einen Kaffee getroffen? Absolut unverantwortlich! Angesichts der katastrophalen Corona-Lage wΓ€re es das einzig VernΓΌnftige, dass Sie sich zu Hause einbunkern: TΓΌr zusperren, morgens, mittags, abends KonservenfraΓ essen, fertig. Und das wochenlang, nein, Moment: monatelang. Der komplette Verzicht auf menschliche Kontakte ist das Einzige, was angesichts der explodierenden Infektionszahlen jetzt noch hilft, sagen Epidemiologen, alle anderen MaΓnahmen greifen zu kurz. Eine Zumutung. Kein Wunder, dass die Kanzlerin, der kΓΌnftige Kanzler und die MinisterprΓ€sidenten bei ihrem Treffen gestern Nachmittag eher ratlos als beherzt wirkten. "Ihre neuen MaΓnahmen sind zu wenige, und sie kommen zu spΓ€t", schreibt mein Kollege Tim Kummert in seinem Kommentar. "So wird sich die Pandemie kaum eindΓ€mmen lassen."
Deutschland hat die rote Linie ΓΌberschritten. Die Zahl der freien Intensivbetten schrumpft stΓΌndlich, Rettungswagen kutschieren Schwerkranke durchs Land, dringende Operationen werden verschoben. Und das Schlimmste kommt wohl erst noch. Wir sind drauf und dran, den Kampf gegen Corona zu verlieren, weil wir unvorsichtig waren, zu langsam geimpft und die Warnungen der Mediziner zu lange ignoriert haben.
Wir? Ja, Sie haben richtig gelesen: Sie und ich und 83 Millionen weitere BΓΌrger dieses Landes. Aber wieso, rufen Sie jetzt empΓΆrt aus, ich habe mich doch impfen lassen, ich trage eine Maske, wasche mir regelmΓ€Γig die HΓ€nde und verhalte mich auch sonst sehr vorsichtig! Machen Sie bestimmt, und das ist natΓΌrlich gut. Doch im Ringen mit einem ΓΌbermΓ€chtigen Gegner reicht es nicht, wenn Sie und Millionen unserer Mitmenschen sich verantwortungsvoll verhalten β ein paar Millionen andere aber nicht. Dann gewinnt das Virus, dann frisst es sich durch die gesamte Gesellschaft, bis alle immunisiert oder tot sind. Erst dann stirbt das Virus aus. Oder es mutiert, und das Drama beginnt von vorn. So sieht es aus, und wir lassen es uns gefallen: Das ist das Bild, das nachfolgende Generationen von uns haben werden, wenn sie auf die Jahre 2020 und 2021 zurΓΌckschauen und sich fragen, warum ihre Vorfahren eigentlich solche Idioten waren. Warum wir diese Krise nicht schneller in den Griff bekommen haben.
Embed
Dabei sind Antworten nicht so schwer zu finden: Ob wir es wollen oder nicht, wir sitzen alle in einem Boot. Wir kΓΆnnen uns abmΓΌhen, doch diese Krise ΓΌberfordert unsere Gesellschaft. Vielleicht geht es uns einfach zu gut, vielleicht haben wir verlernt, was echte Not bedeutet und wie man darauf reagiert. Vielleicht ist der Grund zu einem Teil auch in unserem politischen System zu suchen. Frau Merkel kann nicht EingΓ€nge von HochhΓ€usern zumauern lassen, wie es Herr Xi in China befohlen hat. Die Bundesregierung ist kein PolitbΓΌro, das in zwei Stunden beschlieΓt, MillionenstΓ€dte von der AuΓenwelt abzuriegeln. Der Bundestag, der Bundesrat und die MinisterprΓ€sidentenkonferenz sind kein Volkskongress, der jeden Befehl eines Diktators artig abnickt. Unsere Demokratie basiert auf Gewaltenteilung, Pluralismus, parlamentarischer Kontrolle und rechtsstaatlichen Regeln. Das braucht Zeit. Das ist manchmal furchtbar zΓ€h. Das verhindert drastische Entscheidungen so lange, bis es nicht mehr anders geht. Und das fΓΌhrt in der Regel nie zur besten, sondern immer nur zu einer mΓΆglichst guten LΓΆsung. Deshalb greifen sich viele BΓΌrger und erst recht wir Journalisten, die wir eh immer alles besser wissen, an den Kopf: Wieso lavieren die da oben so lange herum, statt schnell zu handeln? Wieso lassen die zu, dass uns das Virus schon wieder ΓΌberrumpelt?
Auch darauf gibt es eine Antwort: Weil die da oben in Wahrheit genauso sind wie wir. Die Leute in der Bundesregierung, in den Landesregierungen, im Bundestag und in den LΓ€nderparlamenten stammen aus unserer Mitte, wir haben sie direkt oder indirekt gewΓ€hlt und ihnen Macht auf Zeit verliehen. Sie entscheiden, und wenn sie schlecht entscheiden, kΓΆnnen wir sie abwΓ€hlen. Sie haben die Aufgabe, in jeder Situation die Belange aller BΓΌrger zu berΓΌcksichtigen, das gelingt ihnen mal besser, mal schlechter (und in Wahlkampfzeiten manchmal gar nicht). Und natΓΌrlich mΓΌssen sie genauso Kompromisse machen, wie wir alle immerzu Kompromisse machen. Sogar in einer Weltkrise. Ein MΓΌllmann kann sich in einer Pandemie ebenso wenig zu Hause einschlieΓen wie ein Polizist oder eine Journalistin. Der eine holt den Dreck ab, der zweite sorgt dafΓΌr, dass auf der StraΓe keine Anarchie ausbricht, die dritte berichtet ihren Lesern in Form von Nachrichten und Reportagen, was ΓΌberall los ist. DafΓΌr muss man mit Kollegen zusammenarbeiten, recherchieren, Menschen treffen. In einer Diktatur kann ein ganzes Land eingefroren werden, in einer Demokratie nicht.
Eine offene Gesellschaft geht anders mit Krisen um als eine autoritΓ€re. Sie funktioniert nicht mehr, wenn sich 83 Millionen Menschen zu Hause einbunkern. Sie lebt vom Austausch. Sie wΓ€gt ab, sie berΓΌcksichtigt alle Interessen und Befindlichkeiten, sie sucht Kompromisse. Das dauert lΓ€nger, es ist schmerzhaft, aber es ist systemimmanent. Und sie braucht manchmal sehr lange, um aus ihren Fehlern zu lernen. HΓ€tten Frau Merkel und Herr Spahn vor anderthalb Jahren geahnt, was in dieser Krise noch alles auf das Land zukommt, hΓ€tten sie eine Impfpflicht wohl niemals ausgeschlossen.
Es heiΓt immer, die Corona-Pandemie sei die grΓΆΓte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch ich habe das schon geschrieben, aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. NatΓΌrlich ist die Lage gegenwΓ€rtig ΓΌbel. Aber auch diese Katastrophe werden wir ΓΌberwinden. Um in Tagen wie diesen nicht vollkommen schwarzzusehen, hilft es gelegentlich, den Blick historisch zu weiten. Betrachtet man die Kosten, die Opfer und die langfristigen Verwerfungen, war die Weltfinanzkrise ab 2007 womΓΆglich gar nicht weniger folgenschwer als Corona: Auf das Platzen der amerikanischen Immobilienblase folgten rund um den Globus jahrelange ErschΓΌtterungen. Tausende Unternehmen stΓΌrzten in die Pleite, Millionen Menschen verloren ihre Arbeit und viele ihre Existenzgrundlage. Staaten stΓΌrzten in die ZahlungsunfΓ€higkeit und mussten mit Abermilliarden an Steuergeld gerettet werden. Die Zinsen fielen ins Bodenlose, die Ersparnisse von Millionen Menschen schrumpften, auch hierzulande. Die Preise fΓΌr Weizen explodierten, was den Ausbruch der Revolutionen in Nordafrika und des Syrienkriegs befΓΆrderte. FlΓΌchtlingswellen ΓΌberrumpelten Europa, Terroristen folgten. Die Levante-Staaten und Westafrika sind zu Dauerkonfliktherden geworden, die europΓ€ischen MilitΓ€r- und HilfseinsΓ€tze verschlingen Milliarden. Noch heute, fast 15 Jahre nach ihrem Ausbruch, kΓ€mpfen wir mit den Folgen der Weltfinanzkrise β und um sie zu bewΓ€ltigen, werden wir wohl nochmals 15 Jahre brauchen.

Erhalten Sie jeden Morgen einen Γberblick ΓΌber die Themen des Tages als Newsletter.
Was bedeutet das fΓΌr unsere gegenwΓ€rtige Lage? Vielleicht einfach nur dies: Manche Krisen sind so groΓ, dass sie unsere KrΓ€fte ΓΌbersteigen. Ihre BewΓ€ltigung braucht Zeit. Langfristig, aber auch im Moment ihrer heftigsten Eruption. Auch Erkenntnisprozesse brauchen Zeit, das ist oben in der Gesellschaft nicht anders als unten. Dann werden Fehler gemacht, das ist schlimm, aber es ist menschlich. Vielleicht sollten wir gelegentlich daran denken, wenn wir wieder mal auf die trΓ€gen Politiker schimpfen. Sie brauchen leider lange, um den Ernst der Lage zu begreifen und entschlossen zu handeln. Aber sie sind genauso wenig Idioten wie Sie und ich und die allermeisten anderen BΓΌrger dieses Landes. Wir sind Menschen in einem System, das nur im Konsens funktioniert. Und das ist, so bitter es manchmal klingt, gar nicht schlecht.
Wenn Sie den Tagesanbruch abonnieren mΓΆchten, kΓΆnnen Sie diesen Link nutzen. Dann bekommen Sie den Newsletter jeden Morgen um 6 Uhr kostenlos per E-Mail geschickt.
Jetzt entscheidet der Bundesrat
Der Bundestag hat das von SPD, GrΓΌnen und FDP vorgelegte Infektionsschutzgesetz nach hitziger Debatte beschlossen: Es soll den BundeslΓ€ndern die Rechtsgrundlage verschaffen, weiterhin harte Corona-Regeln zu verhΓ€ngen, wenn die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" am 25. November auslΓ€uft. Weil aber AusgangsbeschrΓ€nkungen und Veranstaltungsverbote nicht mehr vorgesehen sind, geht das Regelwerk vielen Experten und auch CDU und CSU nicht weit genug.
Um in Kraft treten zu kΓΆnnen, muss das Gesetz heute den Bundesrat passieren. Dort kΓΆnnte die Union, die an 10 von 16 Landesregierungen beteiligt ist, eine Zustimmung verhindern. Der nordrhein-westfΓ€lische Regierungschef Hendrik WΓΌst, gegenwΓ€rtig Vorsitzender der MinisterprΓ€sidentenkonferenz, nennt das Auslaufen der epidemischen Lage "unverantwortlich" und drohte zunΓ€chst, das Gesetz abzulehnen. Am Abend lenkte er dann aber doch ein. Damit ist eine zΓ€hneknirschende Zustimmung, wie sie Bayerns MinisterprΓ€sident Markus SΓΆder bereits angekΓΌndigt hat, wahrscheinlich.
Schiff ahoi
Erst kostete die Sanierung statt 10 enorme 135 Millionen Euro, dann kritisierten NaturschΓΌtzer die Verwendung von seltenem Teakholz, schlieΓlich verhinderten auch noch Keime in der Trinkwasseranlage das planmΓ€Γige Auslaufen des Bundeswehr-Segelschulschiffs "Gorch Fock". Heute aber soll der traditionsreiche Dreimaster
endlich in See stechen: Von seinem Heimathafen Kiel aus nimmt er unter dem Kommando von KapitΓ€n Nils Brandt mit 120-kΓΆpfiger Besatzung Kurs in Richtung Lissabon, anschlieΓend geht's weiter nach Teneriffa. Vielleicht denkt der eine oder andere Matrose wΓ€hrenddessen darΓΌber nach, was man mit den 135 Millionen Euro stattdessen hΓ€tte anstellen kΓΆnnen.
Lichtblick des Tages
Corona, graues Wetter, Winterbeginn: Da bekommt man schnell schlechte Laune. Wir aus der t-online-Redaktion wollen Ihnen deshalb nun ΓΆfter eine kleine Aufmunterung offerieren. Ich beginne mit einem Schnappschuss von zwei Gesellen, die mir jedes Mal, wenn ich sie treffe, auΓerordentlich zufrieden vorkommen:
Was lesen?
Um einen bundesweiten Lockdown werden wir wohl nicht herumkommen, sagt der Covid-Simulator Thorsten Lehr. Im GesprΓ€ch mit meiner Kollegin Christiane Braunsdorf erklΓ€rt er, warum.
Was ist eigentlich bei den "Querdenkern" los? Unser Rechercheur Lars Wienand hat ein bemerkenswertes Video entdeckt.
Millionen Menschen wollen jetzt mΓΆglichst schnell die dritte Impfung haben. Unser Reporter Jannik LΓ€kamp hat die Stimmung in einem Berliner Impfzentrum eingefangen.
Was amΓΌsiert mich?
Was sagt man eigentlich Leuten, die eine Corona-Impfung aus Furcht um ihr Erbgut ablehnen? Hier weiΓ es jemand.
Ich wΓΌnsche Ihnen einen frΓΆhlichen Wochenausklang. Lassen Sie sich nicht verdrieΓen, es kommen auch wieder bessere Tage. Morgen erscheint unser Wochenend-Podcast, diesmal mit einem Bericht von einem brisanten Einsatz unseres Reporters Tim Kummert. Herzliche GrΓΌΓe,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den tΓ€glichen Tagesanbruch-Newsletter kΓΆnnen Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.