t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikTagesanbruch

Ukraine-Krieg, Corona, Klimakrise: So kann Olaf Scholz das Land nicht führen


Tagesanbruch
Der Kanzler verschweigt etwas

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 20.06.2022Lesedauer: 8 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Die Kommunikation von Olaf Scholz und Angela Merkel unterscheidet sich durchaus (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Die Kommunikation von Olaf Scholz und Angela Merkel unterscheidet sich durchaus (Archivbild). (Quelle: Kay Nietfeld/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

vor vielen Menschen sprechen zu dürfen, ist ein Privileg. Die meisten Redner machen sich das gar nicht klar. Sie plappern einfach drauf los, werfen mit Floskeln und Phrasen um sich, verheddern sich in Nebensätzen oder langweilen ihr Publikum mit Selbstverständlichkeiten. Ob im Bundestag, im Fernsehen, am Arbeitsplatz oder auf Familienfeiern: Die meisten Reden werden für die Zuhörer schnell zur Qual.

Gute Redner machen sich bewusst, dass jeder Satz sitzen muss. Ohne Ähs, Öhs und Füllworte. Dafür mit einem fulminanten Start, rotem Faden und einem Paukenschlag zum Schluss. "Mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern", hat der legendäre Hollywood-Mogul Samuel Goldwyn das Prinzip auf den Punkt gebracht.

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Wer vor Menschen spricht und sichergehen will, dass er seine Zuhörer nicht langweilt, bereitet sich sorgfältig vor. Gepflegte Kleidung. Zugewandte Körperhaltung, Rückgrat durchgedrückt. Reihum in die Augen der Zuhörer blicken (oder aufmerksam in die Kamera). Die Stimme modulieren, statt eintönig daherzuraunen. Vor besonders wichtigen Sätzen eine Kunstpause und an passenden Passagen eine Geste mit den Händen einbauen, um die Aussage zu unterstreichen. Nach zwei Dritteln der Rede vielleicht ein Hinweis, dass man nun zum Ende kommt. Und während der gesamten Ansprache die Gewissheit: Es geht hier nicht darum, was ich sage, sondern darum, was ihr hört. Ich zeige euch, dass ich wirklich an das glaube, was ich sage. Und dass ich mich dafür interessiere, wie ihr damit umgeht. Ach ja, nicht zu vergessen, falls es das Thema zulässt: eine Prise Humor oder wenigstens eine originelle Bemerkung. All das ist keine Geheimwissenschaft, all das kann jeder lernen.

Der Bundeskanzler will es nicht lernen. Oder will es nicht beherzigen. Er setzt in seinen Reden nichts von all dem ein. Weil die Kritik an Olaf Scholz anschwillt und die Umfragewerte purzeln, haben die Berater des Kanzlers eine Kommunikationsoffensive gestartet: Seit einigen Wochen gibt Scholz ein Interview nach dem anderen, twittert und instagramt, was das Zeug hält, äußert sich zu so vielen Themen, dass man einen Tag später schon vergessen hat, was er eigentlich gesagt hat. Das neueste Instrument, mit dem er die Bürgerschaft zu adressieren versucht, ist ein Videoformat: An jedem Wochenende veröffentlicht die Regierungszentrale nun eine anderthalbminütige Ansprache mit dem Titel "Kanzler kompakt".

Da wird man als Journalist natürlich neugierig: Worüber spricht der Kanzler? Hat er mehr zu sagen als seine Vorgängerin in ihrem wöchentlichen Podcast? Vor allem aber: Wie spricht er? Nutzt er das neue Format, um endlich mitreißend zu formulieren?

Wer darauf gehofft hat, ist zumindest von der ersten Ausgabe enttäuscht. "Kanzler kompakt" klingt genauso dröge wie die meisten öffentlichen Ansprachen, Stellungnahmen und Pressekonferenzen des Ampelchefs. Zu seinen Erlebnissen während der Kiew-Reise vergangene Woche hat Scholz durchaus etwas zu sagen – doch wie er es sagt, lockt niemanden hinterm Ofen hervor. Wie schon bei seiner jüngsten Fernsehansprache scheint er sogar zeitweise in die falsche Kamera zu schauen (was offenbar Absicht der Regie ist, aber merkwürdig wirkt).

Scholz spricht, aber er überzeugt nicht. Er redet viel, aber wenig bleibt haften. Wie schwach seine Auftritte sind, wird umso deutlicher, wenn man sie mit Angela Merkels Fernsehansprache zu Beginn der Corona-Pandemie vergleicht: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst" – ein Satz, und das ganze Land stand still.

Warum kommt Scholz nicht überzeugender rüber? Was macht er falsch, obwohl er doch ein erfahrener Politikprofi ist? Das habe ich den Rhetoriktrainer Tilman Billing gefragt. Er coacht seit Jahren Politiker, Firmenchefs und Journalisten und bringt ihnen die Kunst der überzeugenden Rede bei. Seine Antwort leuchtet mir ein:

"Olaf Scholz' größtes Problem: Er hat einen Kontrollwahn. Sein Hauptziel: keine Fehler zu machen. Deshalb traut er sich nicht, in der Öffentlichkeit und vor der Kamera sich und seine Persönlichkeit zu zeigen. Die Folge: Er ist erstarrt. Sichtbar ist das an seiner steifen Körperhaltung und an seiner starren Mimik und Gestik. Das Problem: Als Roboter ist es unmöglich, Menschen zu überzeugen. Glaubwürdig, sympathisch und kompetent kann man nur wirken, wenn man als authentischer Mensch mit Empathie in Erscheinung tritt, der eine lebendige Körpersprache zeigt. Als Roboter wird Olaf Scholz als Kanzler scheitern. Im persönlichen Umgang kann er durchaus andere, menschliche Seiten von sich zeigen. Scholz hätte das Potenzial, auch vor Kameras zu überzeugen. Dafür müsste er aber über seinen Schatten springen und seine Angst, sich als Persönlichkeit zu zeigen, überwinden."

Und woran hapert es rhetorisch?

"Zunächst ist Scholz in seinem neuen Videoformat durchaus überzeugend und verwendet eine klare, direkte Sprache, vor allem, wenn er von seinen Erlebnissen in der Ukraine spricht. Doch dann driftet er in floskelhafte Politikersprache ab. Das Ende seiner Ansprache, das entscheidend ist, ist ganz schwach. Und auch eine überzeugende Rhetorik zu zwei Dritteln hilft nichts, wenn die Körpersprache erstarrt ist. Wenn Inhalt und Körpersprache nicht übereinstimmen, hat die Körpersprache immer eine sehr viel stärkere, in diesem Fall eine für Olaf Scholz fatal negative Wirkung."

Soweit der Rhetorikprofi. Ich ahne, dass es unter Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einige gibt, die nun ausrufen: Immer diese barschen Journalisten! Auch der Harms mit seinem Tagesanbruch! Jetzt lasst den Scholz doch einfach machen, statt ständig an ihm rumzukritteln! Deshalb darf ich, auch stellvertretend für meine Kolleginnen und Kollegen, antworten: Wir loben gern, wenn es etwas zu loben gibt. Aber wenn Kritik angebracht ist, bringen wir sie vor. Und ein Regierungschef, der 83 Millionen Menschen durch Kriegswirren, den Corona-Schlamassel, die Klimakrise und eine beginnende Rezession führen will, muss klar und überzeugend reden können. Er muss Empathie zeigen, statt seine wahren Gefühle zu verbergen. Sonst gehen ihm die Leute eher früher als später von der Fahne. Und ein orientierungsloses Land ist echt das Letzte, was wir jetzt brauchen.


Was steht an?

Kalendarischer Sommeranfang ist erst morgen, die erste Rekordhitze und Waldbrände bestimmen aber schon jetzt die Schlagzeilen. Besonders hart trifft es die Kleinstadt Treuenbrietzen in Brandenburg, wo die Bewohner dreier Ortsteile auf der Flucht vor den Flammen ihre Häuser verlassen mussten. Auf einer Fläche von rund 200 Hektar wütete das Feuer; die Löscharbeiten wurden erschwert, weil das betroffene Gebiet teilweise munitionsbelastet ist. Unser Reporter Jannik Läkamp war vor Ort und hat mit Feuerwehrleuten und Anwohnern gesprochen. Er berichtet von einer dramatischen und für die Einsatzkräfte äußerst gefährlichen Lage. Bleibt zu hoffen, dass die Meteorologen mit ihren Prognosen recht behalten: Heute sollen Regenschauer die Region abkühlen.

Loading...
Loading...
Loading...
Täglich mehr wissen

Abonnieren Sie kostenlos den kommentierten Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen. Datenschutzhinweis


Nach der Parlamentswahl stehen die neuen Machtverhältnisse in Frankreich fest. Präsident Emmanuel Macron muss sich auf Partnersuche begeben, denn er braucht eine Mehrheit der Abgeordneten, um seine Reformpläne durchzusetzen. Die Ergebnisse erfahren Sie hier.


Nach mehr als zwei Jahren Rechtsstreit wird vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) das Urteil über die Klage eines Imkers gegen ein Agrarunternehmen erwartet. Der Imker, der seine Bienenkästen neben einer Fläche aufgestellt hatte, die die Firma mit glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln behandelte, musste den belasteten Honig vernichten und seinen Betrieb aufgeben. Nun fordert er Schadenersatz. Beobachter erwarten ein Präzedenzurteil mit Signalwirkung für Landwirtschaft und Politik.


Ja, Schloss Elmau in den bayerischen Bergen ist ein pittoresker Ort. Wer erinnert sich nicht an das ikonische Foto von Angela Merkel und Barack Obama beim dortigen G7-Gipfel 2015? Dass die Großen der Weltpolitik nun sieben Jahre später erneut in dem entlegenen Gebirgstal zusammenkommen, hängt allerdings weniger mit der weiß-blauen Klischee-Idylle zusammen. Eher damit, dass es sich hermetisch abriegeln lässt: Zäune unterteilen das Gelände in einen inneren und einen äußeren Sicherheitsbereich, bis Garmisch-Partenkirchen werden die Gullydeckel versiegelt, rund um den Gipfel am kommenden Wochenende sollen sage und schreibe 18.000 Polizisten Dienst schieben.

Heute macht sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ein Bild vom Stand der Sicherheitslage. Aber auch die Gegenseite macht mobil: Am Vormittag lädt das G7-Demo-Bündnis in München zur Pressekonferenz, um über die geplante Großdemonstration am 25. Juni zu informieren. Von Attac Deutschland über den Bund für Umwelt- und Naturschutz bis zur Welthungerhilfe reicht die Allianz, die die Staats- und Regierungschefs lautstark an die Bekämpfung der Klimakrise, des Artensterbens und der Ungleichheit erinnern will. Wenn es friedlich bleibt: gut so!


Das Leben des Brian

Wie man sich fühlt, das hat man nicht allein selbst in der Hand. Aber mit einem guten Song auf den Ohren fühlt man sich gleich besser – selbst wenn man nicht gut hört. Brian Wilson war schon als Kind auf dem rechten Ohr taub, vielleicht lag es an den Schlägen seines tyrannischen Vaters. Trotzdem liebte er die Musik und begann im Teenager-Alter, Harmonien zu komponieren. Gründete mit 19 Jahren gemeinsam mit seinen Brüdern Dennis und Carl, ihrem Cousin Mike Love und dem Schulfreund Al Jardine eine Band. Brian komponierte die Songs, die anderen sangen, trommelten und schrabbelten auf den Gitarren ihre drei Akkorde.

Gleich ihr erster Song wurde ein Hit: "Surfin'" vertonte das federleichte Lebensgefühl Kaliforniens. Aufnahmen von damals zeigen die smarten Jungs in den Dünen der Pazifikküste. Querelen mit der Plattenfirma und ein Nervenzusammenbruch hielten den empfindsamen Brian nicht vom Komponieren ab. Er schrieb Song um Song, einer nach dem anderen eroberte die Musikcharts. Als drüben in England die Pilzköpfe von den Beatles ihr Album "Rubber Soul" veröffentlichten, fühlte Brian sich herausgefordert. Das konnte er doch besser, hier in der kalifornischen Sonne! Also schrieb er neue Songs und arrangierte sie zu einem Gesamtkunstwerk: "Pet Sounds" hieß das Album, und als es 1966 erschien, tönten verzückte Jubelschreie durch Amerika, Europa und Asien. Die Platte und das nachgereichte Lied "Good Vibrations" wurden zu weltweiten Gassenhauern. Sieht man das Originalvideo dieses Jahrhundertsongs, fällt es nicht schwer, das Lebensgefühl der damaligen Jugend nachzuempfinden: Es transportiert Unschuld, Lässigkeit und zugleich eine Tiefe, die heutzutage viele vermissen.

Brian haderte trotzdem mit dem Erfolg. Vielleicht waren es Depressionen, vielleicht eine Schizophrenie, vielleicht einfach nur sein empfindsamer Geist. Mal erschien er himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt. Er zog sich zurück, versteckte sich vor der Welt, begann Kompositionen und stellte sie nicht fertig. Ein Comeback missglückte, immer tiefer driftete er in die Höhle der Schwermut hinab. Drogen, Fresssucht, vergrätzte Gefährten; das Genie drohte vor die Hunde zu gehen. Dank Freunden, Therapien und einem starken Willen fing er sich wieder, komponierte wieder, lachte sogar wieder. Aber die federleichte Genialität seiner Jugendjahre war dahin.

Trotzdem hat er es geschafft, die Jahrzehnte nach seinen Welterfolgen durchzustehen. Heute feiert das Musikgenie Brian Wilson, dessen Name in einem Atemzug mit John Lennon und Paul McCartney genannt werden darf, seinen 80. Geburtstag. Wir gratulieren aus vollem Herzen und wünschen ihm, dass er die dunkle Höhle seines Geistes heute für ein paar Stunden verlassen kann, um ein bisschen zu feiern. Ohne ihn hätte es die Beach Boys nie gegeben. Ohne ihn wäre die Welt ärmer.


Was lesen?

Auch Paul McCartney hat am Wochenende seinen 80. Geburtstag gefeiert. Worin die Genialität des Beatles gründet, hat mein Kollege Marc von Lüpke aufgeschrieben.



Warum klappt es nicht mit zügigen Waffenlieferungen an die Ukraine? Grünen-Chef Omid Nouripour erzählt im Interview mit unseren Reportern Johannes Bebermeier und Fabian Reinbold von tiefem Frust.


Unser Wochenend-Podcast über eine Dienstpflicht für alle Deutschen hat kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Falls Sie ihn noch nicht gehört haben, können Sie das hier nachholen.


Was amüsiert mich?

In Kassel ist wieder das große Kunstspektakel eröffnet worden.

Ich wünsche Ihnen heute Good Vibrations.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

Anmerkung: In der Passage zu Olaf Scholz wurde ein Satz geändert. Dass der Kanzler in seinem neuen Video kurzzeitig von der Seite statt frontal gefilmt ist und am Zuschauer vorbeizuschauen scheint, ist offenbar ein absichtliches Stilmittel der Regie.

Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.

Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.

Alle Nachrichten lesen Sie hier.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website