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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Deutsche Raketen auf Russland: Sind wir längst im Krieg?


Der Westen und Russland
Nichts gelernt aus der Geschichte?

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 06.06.2024Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Luftabwehreinheit der Ukraine im Gefecht (Archivbild): Eine als "unbesiegbar" geltende Waffe sollen die truppen ebenfalls abgewehrt haben.Vergrößern des Bildes
Luftabwehreinheit der Ukraine im Gefecht (Archivbild). (Quelle: Vyacheslav Madiyevskyy/imago-images-bilder)

Mit 5.000 Schutzhelmen hat es angefangen. Nun darf die Ukraine mit deutschen Waffen Russland beschießen. Wieder zu wenig, zu spät, finden viele, die unseren Kolumnisten wohl für einen Hasenfuß hielten.

Gut möglich, dass sich die beiden sogar persönlich kennen: Der eine über Jahrzehnte eine namhafte publizistische Stimme in der Außenpolitik, der andere einer der ranghöchsten deutschen Militärs der vergangenen Jahre, sowohl in der Bundeswehr als auch bei der Nato, immer an der Nahtstelle zur Politik.

Jedenfalls haben der Kollege Richard Herzinger und der frühere Generalsinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, dieser Tage bei LinkedIn meine Aufmerksamkeit erregt. Beide nahmen Bezug auf eine abermalige Erweiterung der Kampfzone im Verteidigungskrieg der Ukraine gegen den Aggressor Russland. Abweichend von der bisherigen strikten Linie, hatten sich erst US-Präsident Joe Biden und dann auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dafür ausgesprochen, dass die Ukraine nun auch Waffen von Nato-Staaten, also den USA und Deutschland, dafür einsetzen darf, Ziele auf russischem Gebiet zu beschießen.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war.

Es ist ein abermalig großer Schritt vor allem Deutschlands, dessen Unterstützung, wir erinnern uns alle, seinerzeit mit 5.000 Stahlhelmen begann. Interessant bei den beiden sachkundigen Antipoden Herzinger und Kujat ist, dass sie bei fast gleichem Befund der Lage zu einer komplett anderen Schlussfolgerung kommen.

"Will Präsident Biden den Dritten Weltkrieg nicht mehr vermeiden?", fragt Harald Kujat nach der strategischen Richtungsänderung aus Washington. Und zitiert ein Wort des US-Präsidenten aus dem Oktober 2022, als dieser dekretierte: "Zum ersten Mal seit der Kuba-Krise haben wir es mit einer direkten Drohung (gemeint war Putin) mit dem Einsatz von Atomwaffen zu tun, wenn sich die Situation tatsächlich so weiterentwickelt wie bisher." Biden habe seinerzeit von der Gefahr eines "nuklearen Armageddon" gesprochen.

Angriff auf die interkontinentale russische Abwehr

Inzwischen, so führt Kujat weiter aus, habe sich die Situation weiterentwickelt, denn die Ukraine habe mindestens zweimal das russische Radarfrühwarnnetz gegen Angriffe mit interkontinentalstrategischen Nuklearraketen angegriffen: am 23. Mai das Woronesch-System in Armawir in der Region Krasnodar und am 27. Mai in der Region Orsk bei Orenburg. Möglicherweise erfolge ein weiterer Angriff auf ein Frühwarnradar in der Nähe von Sankt Petersburg. Das Ziel dieser Angriffe sei es offensichtlich, die russische Fähigkeit einzuschränken, interkontinentalstrategische Angriffe zu erkennen und darauf zu reagieren. Fazit Kujat: "Die Absicht, die interkontinentalstrategischen Nuklearstreitkräfte Russlands zu destabilisieren und zu schwächen, kann man nur als das Werk verantwortungsloser Hasardeure bezeichnen."

Video | Angriffe auf Russland: So weit reichen die westlichen Waffen
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Quelle: t-online

Gegenschnitt zu Richard Herzinger: Er intoniert bei LinkedIn, wenn Kanzler Scholz und andere führende deutsche Politiker darauf beharrten, Deutschland dürfe bei aller notwendigen Unterstützung für die Ukraine auf keinen Fall "Kriegspartei" werden, befestigten sie damit "eine gefährliche Lebenslüge". Denn die Wahrheit sei: "Wir befinden uns de facto längst im Krieg."

Kujat und Herzinger trennen im Befund also Millimeter. Der eine sieht die Gefahr des Weltkriegs, der andere hält ihn schon für gekommen. In der Schlussfolgerung liegen Welten zwischen den beiden. Der eine, der erfahrene Militär, plädiert dafür, eher einen Schritt zurückzutun. Der andere, ein kundiger Zivilist, sagt: Ist eh schon da, der große Krieg, also voll rein. Bodentruppen à la Macron. Alles. Nur so halten wir Putin auf. Nur diese Sprache versteht er. Wo Herzinger den einzigen Weg zur Weiterexistenz eines freien Europa sieht, befürchtet Kujat die Spirale in die nukleare Katastrophe, die mit der Vernichtung der Menschheit und dem Untergang der Welt einherginge.

Der indirekte Schlagabtausch von Herzinger und Kujat ruft eine Einlassung von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in Erinnerung. "We are fighting a war against Russia", sagte sie Ende Januar vergangenen Jahres vor dem Europarat. Und weiter: "We can fight this war only together", verbunden mit der Forderung nach mehr Waffen für die Ukraine.

Baerbocks größter Bock

Wir sind gemeinsam im Krieg gegen Russland? Es war der entsetzlichste Satz ihrer Amtszeit. Das Ministerium tat danach alles, diesen Satz wieder einzufangen, weil er als Kriegserklärung an Russland verstanden werden konnte. Sie hätte diesen Satz in ihrer Rolle nie sagen dürfen, niemals. Eine katastrophale Fehlleistung einer politischen Schlüsselfigur in seismischen Zeiten. Das darf ihr niemals passieren. Aber das sagt ja nichts über den Wahrheitsgehalt des Satzes aus. Vielleicht stimmt er ja trotzdem.

Bis hierher habe ich mich in dieser Kolumne mit der eigenen Meinung zurückgehalten. Jetzt aber gestehe ich: Ich ringe mit mir. Sehr. Bin am Ende aber eher bei Kujat. Vermutlich wird mich Herzinger dafür einen Hasenfuß nennen, wie er es unverblümt in dem Essay, der dem LinkedIn-Post zugrunde liegt, mit Bundeskanzler Olaf Scholz auch tut.

Kujat kann seinen Standpunkt fachkundig militärpolitisch und geopolitisch herleiten, bis hinein in einzelne US-Waffensysteme, die jetzt in Rede stehen für Gegenangriffe der Ukraine auf Russland.

 
 
 
 
 
 
 

Der Frosch im Wassertopf

Ich will es lieber mit einem Frosch und dem Historiker Christopher Clarke versuchen. "Sleepwalkers", Schlafwandler heißt sein grundstürzendes Werk zum Ersten Weltkrieg und vor allem dessen Zustandekommen. Der Titel sagt alles. Und damit zum Frosch. Der hat zwar kein Buch geschrieben. Aber eine Parabel begründet. Die besagt, wenn man einen Frosch in einem Topf Wasser garen will und vermeiden möchte, dass er rechtzeitig herausspringt, dann muss man das Wasser ganz langsam erhitzen. Sodass er die Temperaturänderung nicht spürt. Bis es zu spät ist.

Letzte Meldungen von der Herdplatte – 28. Mai: Ein Bündnis aus Belgien, den Niederlanden und Dänemark sagt der Ukraine 30 F-16-Kampfjets bis 2028 fest zu. Die ersten 19 aus Dänemark sollen in den nächsten Wochen geliefert werden. 4. Juni: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt, die Nato solle sich für den Fall eines Bodenkriegs vorbereiten, berichtet der britische "Telegraph".

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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