Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Sozialreform Bärbel Bas und das Bürgergeld – Stresstest für Schwarz-Rot

Das Bürgergeld soll künftig "Neue Grundsicherung" heißen. Der Name ist nicht das Problem der Reform, der Inhalt aber schon. Auf Schwarz-Rot kommt die erste Bewährungsprobe zu.
Merz und Klingbeil machen das bisher nicht schlecht: Der Kanzler präsentiert sich in Brüssel, Paris und Washington als souveräner Staatsmann. Der Vize kümmert sich um den Haushalt und seine notorisch nervöse SPD. Beide zusammen zeigen, wie sie die Wirtschaft aus der Rezession führen wollen. Dobrindt lassen sie an den Grenzen sein Ding machen. Schwarz und Rot, das ist keine romantische Beziehung, aber eine belastbare Partnerschaft.
Bleibt das so? Die beiden Männer an der Spitze der Koalition werden alles dafür tun – bloß nicht die Ampel 2.0 werden! Aber der erste Stresstest zeichnet sich ab: Aus dem Bürgergeld soll die "Neue Grundsicherung" werden. Aus Sicht der Union handelt es sich um eine große Reform, um einen Systemwechsel, aus Sicht der Sozialdemokraten eher um einen Namenswechsel. Arbeitsministerin Bärbel Bas will das Thema zügig angehen.
Bas‘ erste öffentliche Äußerung zu diesem Thema war eine Überraschung. Im Interview mit dem "Stern" erzählte sie nicht die sozialdemokratische Geschichte des Bürgergelds, nicht die Geschichte von Solidarität, Gerechtigkeit und Teilhabe, von Alleinerziehenden in prekären Verhältnissen, von der Kinderarmut in einem reichen Land. Bas erzählte eine Geschichte vom systematischen Sozialbetrug: In ihrer Heimatstadt Duisburg gebe es "mafiöse Strukturen". Kriminelle würden Menschen aus Osteuropa nach Deutschland locken, sie mit Minijobs versorgen und ihnen dabei helfen, Bürgergeld zu beantragen. Das Geld vom Jobcenter kassierten sie dann selbst.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche.
Den Totalverweigerer gab es eigentlich nicht
Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link, SPD, hatte schon mehrfach gefordert, der Staat müsse den "massiven Missbrauch der Sozialleistungen" aktiv bekämpfen. Jetzt bestätigte Karin Welge, SPD-OB in Duisburgs Nachbarstadt Gelsenkirchen: Die Sozialsysteme würden systematisch ausgenutzt, das Bürgergeld lande in den Taschen von "Clan-Oberen".
Mafiöse Strukturen, Clan-Obere, massiver Missbrauch – in sozialdemokratischen Kreisen klingt das alles ziemlich shocking. Es ist erst drei Jahre her, dass Hubertus Heil das damals neue Bürgergeld als größte Sozialstaatsreform der letzten zwanzig Jahre lobte. Einen Jobturbo werde man schaffen und den Dialog in der Gesellschaft "entgiften". Das Bürgergeld sollte vor allem Hartz IV unschädlich machen, jene Reform des einstigen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, die vor allem die eigene Partei vergiftete.
Bis zur Bundestagswahl kämpften die Genossen tapfer für ihr Bürgergeld, gegen eine massive Kampagne der Union, auch gegen wachsende Selbstzweifel in der eigenen Basis. Der "Totalverweigerer" wurde zu einer Symbolfigur des Wahlkampfs, obwohl es den laut Heil eigentlich gar nicht gab. Nur 1,3 Prozent der Bürgergeldempfänger lehnten eine angebotene Arbeit ab, wusste der Minister. Der Begriff und die Zahl waren irreführend.
Gerechtigkeit oder Hunger?
Bas macht jetzt Schluss mit der Selbsttäuschung. Sie hat gerade diese Zahlen veröffentlicht: Die Jobcenter haben im vergangenen Jahr etwa 123.000 Fälle möglichen Leistungsbetrugs überprüft. In 102.000 Fällen hat sich der Verdacht bestätigt. Das heißt: Wenn die Mitarbeiterin im Jobcenter einen Betrugsverdacht hegt, dann ist da fast immer was dran.
In der Koalition werden die Verhandlungen über die Reform einfacher, wenn die SPD sich ehrlich macht. Aber macht die SPD sich auch ehrlich? Oder nur Bärbel Bas? Kürzlich forderte Carsten Linnemann (CDU), die Reform des Bürgergelds müsse an die Substanz des Systems gehen. Eine "Attacke auf den Sozialstaat", kritisierte umgehend die für Arbeit und Soziales zuständige SPD-Parlamentarierin Dagmar Schmidt. Als Bas über die Mafia sprach, schwieg die linke Frontfrau ihrer Fraktion. Immerhin.
Die SPD und ihr gesellschaftliches Umfeld trennen Welten von ihrem Koalitionspartner, wenn es ums Soziale geht. Während Linnemann das Bürgergeld als "Chiffre für Ungerechtigkeit in der Gesellschaft" sieht, weil sich Arbeit nicht mehr lohne, fordert Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, ein höheres Bürgergeld; nur so könnten sich die Bedürftigen gesund und ausreichend ernähren. Der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer sagt: "In einem Rechtsstaat ist es nicht vertretbar, Menschen als Sanktion hungern zu lassen." Wer den Missbrauch staatlicher Leistungen unterbindet, treibt Menschen in den Hunger? Das ist die Welt der Jusos. Nicht Duisburg, nicht Gelsenkirchen.
Da passt was nicht zueinander
Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD neben allerlei politischer Lyrik zwei Sätze zum Thema geschrieben, auf die es ankommt. Der erste lautet: "Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen." Direkt anschließend der zweite: "Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten." Leider passen die beiden Sätze nicht zueinander. Weil das Verfassungsgericht festgestellt hat, dass der Staat die Leistungen nicht komplett streichen darf.
Das macht die Reform schwierig, bei aller grundsätzlichen Bereitschaft zum Kompromiss. Einerseits haben weder Merz noch Linnemann wollen denen die Unterstützung entziehen, die darauf angewiesen sind: die alleinerziehende Mutter; der Ü60-Handwerker, dessen Körper nicht mehr mitmacht; Menschen, die aufgrund einer Behinderung nicht voll arbeiten können. Andererseits haben Klingbeil und Bas kein Interesse daran, dass zwielichtige Gestalten das Sozialgesetzbuch für kriminelle Geschäfte nutzen. Oder dass Menschen sich die Mühen der Arbeit sparen, weil es auch ohne geht. Oder mit ein wenig Schwarzarbeit.
Soweit das Grundsätzliche. Die Details sind trotzdem hochkompliziert. Dem Missbrauch ist schwer beizukommen, weil in der Bürokratie die Verantwortung delegiert wird, bis sie nicht mehr auffindbar ist. Für die Auszahlung der Leistungen sind die Jobcenter zuständig. Die Ausländerbehörde müsste erkennen, wenn Menschen Sozialleistungen beziehen, die nur zum Schein in Deutschland leben. Um Schwarzarbeit kümmert sich der Zoll. Die eine Behörde weiß nicht, was die andere weiß, das verhindert der Datenschutz. Um das Bürgergeld zu reformieren, müsste man eigentlich erst den Staat reformieren.
Wenn schon die erste Reform scheitert, was ist mit den folgenden?
Es geht um fast 50 Milliarden Euro im Jahr, über fünf Millionen Menschen beziehen Bürgergeld, die Hälfte von ihnen hat keinen deutschen Pass. Ein hochemotionales Thema, nicht nur im Wahlkampf. Für die Regierung Merz/Klingbeil ist es zudem ein Pilotprojekt: Wenn sie diese Sozialreform in den Sand setzen, wie soll das dann mit der Rentenreform werden? Mit der Gesundheitsreform, mit der Pflegereform?
Bärbel Bas hat sich nicht nach der Aufgabe gedrängt. Sie wurde Arbeitsministerin, weil die SPD Carsten Linnemann verhindern wollte. Und weil Hubertus Heil nicht mehr vermittelbar war. Ende Juni wird sie auch zur SPD-Vorsitzenden gewählt, neben Lars Klingbeil. Ihr Wort wird dann noch mehr Gewicht bekommen, in der Regierung und in der Partei. Sie wird die mächtigste Frau der deutschen Politik sein – und die Last der Verantwortung zu spüren bekommen.
SPD läuft Gefahr, ihre Herzkammer zu verlieren
In Bas‘ Heimatstadt Duisburg hat die SPD bei der Bundestagswahl gerade noch 25 Prozent geholt. Nebenan, in Gelsenkirchen, ist die AfD jetzt stärkste Partei. Trotz Bürgergeld. Oder deswegen? Viel Bürgergeld schafft viel Gerechtigkeit und bringt viel Wahlerfolg – das war die Illusion der SPD, das war eine Lebenslüge. War? Die Funktionärsbasis der SPD ist längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Es ist nicht die Tagesordnung der Regierung.
Sollte am Ende die "Neue Grundsicherung" dem alten Bürgergeld täuschend ähnlich sehen, dann hat Schwarz-Rot den Stresstest nicht bestanden. Und die SPD läuft Gefahr, das Ruhrgebiet, ihre Herzkammer, endgültig zu verlieren. Und Bas und Klingbeil verspielen ihre Autorität als Parteivorsitzende. Es geht um eine Sozialreform – und um mehr.