Der Hexenwahn frisst sich durch die Welt Wellblech und Autoreifen – die Scheiterhaufen lodern

Es ist ein globales Phänomen, das kaum beachtet wird: Hexenverfolgung ist kein Relikt der Vergangenheit. Sie ist tödliche Realität – in Afrika, Asien, Südamerika. Historiker und Helfer schlagen Alarm.
Ein gefesseltes Opfer, das sich in den Seilen windet. Eine johlende Zuschauermenge, die nach Blut und Schmerz lechzt. Ein Scheiterhaufen, der mitten auf dem Dorfplatz auf den zündenden Funken wartet – um eine Hexe zu verbrennen. Wer denkt, diese Bilder gehören ins tiefste Mittelalter, irrt. Sie sind aktueller als je zuvor.
In 46 Ländern dieser Welt wird Jagd auf vermeintliche Hexen und Hexer gemacht. Die Opferzahlen schnellen in die Höhe. Seit 1960 sind mindestens 55.000 Menschen ermordet worden, weil sie der Zauberei bezichtigt wurden. Und dies ist eine äußerst vorsichtige Schätzung, die auf sehr mangelhaften offiziellen Datenlagen beruht, betont der Historiker Werner Tschacher.
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"Eine Zahl von 100.000 Opfern ist realistisch"
Um das Ausmaß der globalen Hexenverfolgungen nach 1945 sowie die Zahl der Todesopfer einschätzen zu können, hat Tschacher wissenschaftliche Studien, Zeitungen, Fernsehberichte und andere Quellen wie die Berichte der UN und einzelner Nicht-Regierungsorganisationen sowie staatliche Kriminalstatistiken durchforstet und ausgewertet. Sein Fazit: "Nie zuvor wurden so viele Menschen Opfer von Hexenverfolgungen wie in den acht Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg."
Die Dunkelziffer ist bei Weitem höher. Eine Zahl von 100.000 Opfern und mehr sei durchaus realistisch, da "viele dieser Gewalttaten durch Lynchmobs und lokale selbst ernannte Hexenrichter erfolgten und erfolgen und häufig ungesühnt bleiben", so der Historiker.
Reifen und Wellenblech – der moderne Scheiterhaufen
Eins dieser Opfer heißt Christina. Am 10. August 2012 wurde der Albtraum eines Hexenprozesses für sie Realität. Auf einem Dorfplatz in Papua-Neuguinea wurde sie grausam gefoltert – weil ihre Nachbarn sie für eine Hexe hielten. Glühende Eisen wurden in ihre Haut gedrückt. Die Dorfbewohner sahen dem brutalen Spektakel zu. Die einen lachten. Die anderen filmten die Folter, während Christina gefesselt auf einem Eisenblech stand, unter dem Reifen erhitzt wurden.
Dann zogen Wolken auf.
Der Regen kühlte die glühenden Eisen, drückte die Flammen nieder. Die Gaffer spannten ihre Schirme auf. Die Folterknechte mussten ihr düsteres Handwerk abbrechen. Schwer verletzt stießen sie Christina in eine schlammige Hütte.
Ein blutiger Stein wird zu Christinas Rettung – vorerst
Da hatte sie einen Einfall. In ihrem Schoß verbarg Christina einen blutigen Stein und rief: "Ich gebäre eine Hexe." Die Folterer glaubten es, stürmten mit der vermeintlich neugeborenen Hexe hinaus – und vergaßen in ihrem Wahn Christina.
Sie entkam. Eine katholische Ordensschwester, die Zeugin des Hexenprozesses wurde, schaffte es, sie auf die Polizeistation in Mendi zu bringen. Am nächsten Tag übergab jedoch die Polizei Christina wieder den Folterern. Die Tortur ging weiter.
Schließlich gestand Christina die Verhexung eines Toten – in der Hoffnung, die Folter so beenden zu können. Aus unerklärlichen Gründen ließen die Häscher schließlich von ihr ab.
Die Häscher bleiben ungestraft
Zehn Jahre später starb die tapfere Christina. "An Blutkrebs", sagt Schwester Lorena Jenal heute. "Aber ich glaube, sie ist an der Ungerechtigkeit gestorben." Es war die katholische Ordensschwester, die vor 13 Jahren der schwer verletzten, gefolterten, mit brennenden Ästen malträtierten Frau ein Obdach bot.
Seit 1979 arbeitet Schwester Lorena ununterbrochen in Papua-Neuguinea. "Im Haus der Hoffnung" haben sie und ihr Team bereits über 350 Frauen aus Lebensgefahr gerettet. Das Schutzhaus bietet rund um die Uhr medizinische und psychologische Betreuung. Hier verbrachte auch Christina die letzten Jahre ihres Lebens. "Bis zuletzt hat sie auf Gerechtigkeit gehofft", erzählt Schwester Lorena im Gespräch mit t-online. "Vergeblich. Die Häscher sind ungestraft geblieben."
Hexenwahn erreicht neue Dimension
Doch Schwester Lorena aus den Samnauner Bergen in der Schweiz gibt nicht auf. Mit Rettungsprogrammen, Aufklärungsmaßnahmen und ihrem mutigen Einsatz kämpft sie unermüdlich gegen die Hexenverfolgung in Papua-Neuguinea. Doch zuletzt hat die Gewalt eine neue Dimension erreicht.
"Solch eine Eskalation wie in den vergangenen drei Montanen habe ich noch nie erlebt", sagt sie. "Zehn Männer gefoltert. In zwei Monaten." Zwei von ihnen befänden sich noch im Spital. Einer sei so schwer gefoltert, dass sein Bein amputiert werden musste. "Und das alles wegen eines Aberglaubens, der sich durch Dörfer frisst wie ein Flächenbrand."
Ein Gerücht liefert Menschen dem Mob aus
Die Hexenprozesse folgen einem perfiden Ritual: Jemand stirbt – durch Krankheit, Unfall oder Alkohol. Dann heißt es: Hexerei. Die Beschuldigten? Frauen. Männer. Häufig sind es jene, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, unbequem sind, sich widersetzen oder aus der Masse herausstechen. "Die beiden Männer, die ich gerade im Spital habe, sind herausgepickt worden, weil sie sich Feinde gemacht haben", erzählt die Schweizer Ordenschwester.
Der Vorwurf? Sie sollen einer Frau "das Herz aus dem Leib operiert und gegessen" haben. "Eine absurde Anschuldigung – gestützt allein auf ein Gerücht. Aber in Papua-Neuguinea reicht ein Gerücht aus, um Menschen dem Mob auszuliefern."
Ein Kopfschuss nach drei Tagen Folter
Ein weiterer aktueller Fall lässt Schwester Lorena nicht los. Das Opfer: eine Mutter von sechs Kindern. Ihr Mann, ein angesehener Lehrer, starb eines Morgens nach einem Wochenende voller Alkoholexzesse. Es folgte keine Obduktion, kein ärztlicher Befund. Bald hieß es im Dorf: Die Frau sei schuld, sie habe ihn verhext. "Sie wurde drei Tage gefoltert. Und am Schluss haben sie ihr eine Kugel durch den Kopf geschossen und sie in den Fluss geworfen."
Das ganze Dorf habe mitgemacht, berichtet Schwester Lorena: "In diesem Fall haben sich die sogenannten Häuptlinge geeinigt: Diese Frau muss bestraft werden."
Folter als Ritual – mit Publikum
Der Hexenprozess ist ein durchorganisiertes System. Es beginnt mit einem Ankläger – oft ein Nachbar, ein eifersüchtiger Bruder, ein betrogener Ehemann. Dann kommen die "Zauberer". Diese schneiden dem Opfer einige Haare ab, legen es ins Bambusrohr, dann sprechen sie das Urteil: Hexe oder keine Hexe. Dafür kassieren sie Geld.
Danach kommen die Folterer – fast ausschließlich junge Männer, "im Drogen- und Alkoholrausch", wie Lorena schildert. Auch sie werden bezahlt. Schwester Lorena kennt die Mechanismen. "Die Folterer, die Richter – das sind junge Männer, voll auf Drogen, bezahlt mit Blutgeld."
"Korrupt, passiv, machtlos"
Die Zuschauer? Ganze Dorfgemeinschaften. "Sie fotografieren, filmen, haben keinerlei Empathie", weiß Jörg Nowak zu berichten. Er ist stellvertretender Pressesprecher von "Missio Aachen", ein internationales katholisches Missionswerk, das Schwester Lorena in ihrem Kampf gegen die Hexenverfolgung unterstützt.
Die Polizei? "Korrupt, passiv, machtlos", fasst er im Gespräch mit t-online die Situation zusammen. Als Christina gefoltert wurde, seien drei Polizeibeamte in der Zuschauermenge gewesen, hätten der Folterung tatenlos zugesehen. Der Staat? Interessiere sich nicht.
"Weil es nicht ins schöne Bild passt – für Tourismus, fürs Image", sagt Schwester Lorena. Hilfsgelder fließen – doch landen oft bei den Falschen. "Ich habe 46 Jahre in Papua-Neuguinea gearbeitet – und nie auch nur zehn Franken vom Staat bekommen", sagt sie mit Stolz.
"Ich hatte Buschmesser und Macheten am Hals"
In den Dörfern nennt man sie "Anführerin der Hexerei", "Anwältin des Teufels" oder "666". Schwester Lorena lebt gefährlich. "Ich hatte Buschmesser und Macheten am Hals oder die M16 auf mich gerichtet – nicht nur einmal."
Und dennoch: Sie hat ein Netzwerk aufgebaut. Das "Haus der Hoffnung" ist inzwischen Anlaufstelle für viele Überlebende.
"Wie im mittelalterlichen Europa werden Sündenböcke gesucht"
Die Ursachen des Hexenwahns beschreibt sie als komplex. Aberglaube, patriarchale Strukturen, soziale Konflikte, Armut – und ein rasender technologischer Wandel. "Wir sind von der Steinzeit direkt ins digitale Zeitalter gefallen. Und niemand war vorbereitet." Plötzlich verbreiteten sich Gerüchte per Smartphone und Fake News mit tödlichen Folgen.
Dabei führen "zutiefst niedrige Beweggründe" zu den Beschuldigungen, sagt Nowak. "Neid, Eifersucht, Konkurrenz. Wie im mittelalterlichen Europa werden Sündenböcke gesucht und gefunden. Es ist ein Weg, jemanden loszuwerden."
Was hilft? "Bildung. Strukturen. Mut. Und Gerechtigkeit. Nur die Wahrheit macht uns frei", sagt Schwester Lorena. Sie glaubt an Wandel. "Aber es wird dauern."
Internationaler Tag gegen Hexenwahn
Am 10. August wird weltweit an den Hexenwahn erinnert – ein Gedenktag, der auf Christina zurückgeht, die an diesem Tag vor 13 Jahren so grausam gefoltert wurde. Eine Frau, die den Wahnsinn überlebte.
Das katholische Hilfswerk "Missio Aachen" warnt zum Internationalen Tag gegen Hexenwahn vor einer besorgniserregenden Zunahme von Gewalt gegen Frauen, Kinder und ältere Menschen, die als vermeintliche Hexen stigmatisiert werden.
"Dieses schreckliche Thema gehört keineswegs der Vergangenheit an – es ist bittere Realität für Tausende Menschen weltweit", sagt Gregor von Fürstenberg, Vizepräsident von "Missio Aachen". "Die Täter müssen bestraft werden und die Opfer dürfen nicht vergessen werden."
- Interview mit Schwester Lorena Jenal und Jörg Nowak
- missio-hilft.de: "missio hilft: Hexenwahn 2025 – Interview mit Alexander Tschacher"
- missio-hilft.de: "missio Aachen fordert besseren Schutz für Opfer von Hexenwahn"
- missio-hilft.de: "Internationaler Tag gegen Hexenwahn"
- youtube.com: Hexenwahn heute: Die bewegende Geschichte von Christina | missio