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Ungeklärte Kriminalfälle: Führen neue Ermittlungen zum Mörder von Claudia R.?


1996: Elfjährige ermordet
Führen neue Ermittlungen zu Claudias Mörder?

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 19.08.2018Lesedauer: 7 Min.
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Claudia Ruf aus Grevenbroich bei Düsseldorf: Die Elfjährige wurde seit dem 11. Mai 1996 vermisst. Zwei Tage später fand man ihre Leiche.Vergrößern des Bildes
Claudia Ruf aus Grevenbroich bei Düsseldorf: Die Elfjährige wurde seit dem 11. Mai 1996 vermisst. Zwei Tage später fand man ihre Leiche. (Quelle: DB handout/dpa-bilder)

Wer hat Claudia Ruf ermordet? Der ungeklärte Fall aus dem Rheinland ist einer von weit mehr als tausend, die die Polizeibehörden neu aufrollen – mit modernsten Ermittlungsmethoden.

Hemmerden hat 1.600 Einwohner. Kurz vor dem Muttertag des Jahres 1996 ist das geruhsame Leben in dem niederrheinischen Dorf brutal aus der Bahn geworfen worden. Claudia, die blonde Elfjährige, wollte DJ ausführen, den schwarzen Dackel des Nachbarn. Sie klingelte, legte dem Mischling die Leine an. Mädchen und Dackel zogen los. Mindestens zwei Dorfbewohner wollen gesehen haben, wie Claudia vom Insassen eines Fahrzeugs angesprochen wurde. Der Hundebesitzer bekam am Fernsehgerät noch mit, wie Borussia Dortmund Deutscher Meister wurde, als sein Tier vor der Tür bellte. Allein. Ohne Leine. Ohne Claudia.

Die Leiche von Claudia Ruf ist zwei Tage später und 80 Kilometer weiter südlich auf einem Acker bei Euskirchen gefunden worden. Unbekleidet, sexuell missbraucht, mit schweren Gewalteinwirkungen auf den Hals, die auf Erdrosseln oder Erwürgen deuten und mit Brandspuren. Ihr Mörder hatte versucht, seine Tat durch das Anzünden des Opfers zu vertuschen. Am 13. Mai spätnachmittags nahm die zuständige Mordkommission in Bonn die Arbeit auf.

Selten hat es so einen Aufwand zur Klärung eines Mordes gegeben. 8.500 Personen gerieten ins Visier der Fahnder und 2.000 Autos. In der Region ließen sie 36.000 Fahndungsplakate kleben. Tausende Überstunden wurden geschrieben. Alles ohne Ergebnis. Claudias Schulrektor Klaus Jovi zeigte sich schnell überzeugt: Der Täter müsse "hier aus der Gegend" gewesen sein.

Der Name des Täters ist auch 22 Jahre später unbekannt. Der Tod des Mädchens bleibt bisher ungesühnt.

Müller geht der Fall nicht aus dem Kopf

Im vierten Stock des Düsseldorfer Landeskriminalamtes sitzt Andreas Müller. Der Chef der LKA-Profiler in Nordrhein-Westfalen ist heute 57. Damals war er 36 und einer der jungen Spunde in der 17-köpfigen Bonner "Soko Ruf". Natürlich geht ihm der Fall nicht aus dem Kopf. "Es kann einfach nicht sein, dass wir es als Gesellschaft nicht verhindern können, dass ein elfjähriges Mädchen einen Hund ausführt und nicht mehr zurückkommt. Und der Täter hat noch das unverschämte Glück, bis heute ungeschoren davonzukommen".

Der Erste Kriminalhauptkommissar und seine Bonner Kollegen haben eine zweite Chance. Der Mordfall Claudia Ruf wird wieder aufgerollt. Rund 100 Personen aus der Umgebung von Hemmerden und Oberwichterich, dem Fundort bei Euskirchen, müssen sich in diesem Sommer einem DNA-Abstrich unterziehen. Angewandt wird eine technisch deutlich verbesserte Version, mitentwickelt von Gerichtsmedizinern der Universität München. Sie kann "Mischspuren" klarer unterscheiden, die am Tatort oder am Opfer selbst gefunden werden und die von Blut, Speichel oder Sperma unterschiedlicher Personen stammen.

Der Mord an Claudia Ruf aus Hemmerden ist einer der ersten von erwarteten rund 900 Altfällen in Nordrhein-Westfalen, die Müller derzeit erneut anfasst. Der erfahrene Polizist baut mit einer zehn Köpfe kleinen, handverlesenen Truppe unter Mithilfe von Kollegen aus allen Landesteilen eine Datei auf, die es möglich machen soll, die in den Schränken staubenden Akten von ungeklärten Taten bis ins Jahr 1970 wieder auf die Desktops zu holen und aufzuarbeiten. "Nicht nur der Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund im Landtag war dafür ausschlaggebend", sagt Müller. "Es war der Wille und die Motivation aller Mordermittler aus dem ganzen Land".

Bundesweit werden "Cold Cases" ausgegraben

Der Aufbau der Datei ist kompliziert. Die papiernen Aktenberge – "bei einem ermordeten Kind können das schon mal zwei Büroräume voll sein" – sind meist bei Staatsanwaltschaften eingelagert. Dort müssen sie angefordert werden, wenn sie in den Jahrzehnten seit den Taten nicht durch Schimmelbefall, Taubenkot oder Wasserschäden unlesbar wurden. Lokale Polizeibehörden scannen die Unterlagen ein, unterziehen sie einer ersten Bewertung und füllen Meldebögen aus, bevor die Fälle zum LKA gelangen und digitalisiert werden. Müllers Crew nimmt ein Ranking vor: Wo sind noch Spuren und Asservate vorhanden? Wo drohen Verjährungsfristen? Am Ende wird es "den zweiten Blick" auf die wichtigen und zur Aufklärung tauglichsten geben, wie der Chef-Profiler den Kern seiner Arbeit und den seiner Leute nennt.

Nordrhein-Westfalen steht damit nicht alleine. "Cold Cases" auszugraben ist ein bundesweiter Trend.

Das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein hat 2016 damit begonnen. Es hat mehr als 180 Sexual- und Tötungsvorgänge auf dem Schirm, zurückgehend bis 1946.

Hamburg hat den Anschluss hergestellt. 343 Mordfälle werden in der Hansestadt wieder aufgerollt. In diesen Tagen ist "Herzchen" identifiziert worden, der Mörder eines Polen, dessen Leiche 1994 im Kanal im Stadtteil Hammerbrook schwamm.

Hessen ist schon eingestiegen, demnächst wird wohl Sachsen folgen, das eine Projektgruppe gebildet hat. Brandenburg hat die bisher größte Einheit aufgestellt.

Niederländer hören sich in Gefängnissen um

In den benachbarten Niederlanden gehen sie einen anderen Weg. Um eine Liste mit 1.500 unaufgeklärten Fällen zu bereinigen, haben Fahnder Kalender mit zahllosen Informationen zu Taten und Personen in die Haftanstalten geschickt. Sozusagen an die Adresse einer Klientel, die gegebenenfalls Nähe zu anderen Tätern hat – und vielleicht mehr weiß.

Müllers Crew in Nordrhein-Westfalen ist seit der Pilotphase 2017 an der Arbeit. Einen ersten Erfolg haben sie in Lohmar bei Siegburg verbuchen können, wo die wieder aufgenommene Spur eines 30 Jahre alten Mordes an einer 23-Jährigen zu einem bereits wegen anderer Tötungsdelikte verurteilten Doppelmörder führte.

"Wir haben in der Vergangenheit noch viele ungeklärte Kindermorde", sagt Andreas Müller. Im Düsseldorfer LKA an der Völklinger Straße sind die Namen der Opfer gegenwärtig.

Das Jahr der verschwundenen Kinder

1996. Man könnte es das Jahr der verschwundenen Kinder nennen. Nicht nur Claudia Ruf kommt nicht mehr nach Hause. Die achtjährige Deborah Sassen aus Düsseldorf bleibt auf dem Weg vom Schulschwimmen vermisst. Im hessischen Kelkheim trifft es die Familie von Anika Seidel, elf Jahre. Vor allem aber: Die Medien sind voll davon, was im August des Jahres in Belgien passiert. Dort sind Bäume und Häuser zuplakatiert mit Bildern der entführten Mädchen Aan und Efje, von Julie und Melissa.

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Sie starben im Keller von Marc Dutroux nahe Charleroi im wallonischen Landesteil. Ein Skandal. Dutroux muss mächtige Freunde gehabt haben, die ihn lange schützten. Polizisten hatten Schreie der Entführten hinter Pappwänden gehört – und waren weitergegangen. 200.000 Menschen zogen schließlich beim "Weißen Marsch" vor den Justizpalast in Brüssel, um gegen das Staatsversagen zu protestieren. 56 Prozent der Belgier wollten in Umfragen am Jahresende eine andere Regierung ohne die alten Parteien und Behördenchefs, denen man nicht mehr zutraute, die Kinder schützen zu können.

Bonner Beamte reisten damals in die westliche Nachbarschaft. "Selbstverständlich" habe die "Soko Ruf" Verbindungen zum Vorgang Dutroux überprüft, sagt Andreas Müller heute. Aber die belgische Spur führte genauso wenig weiter wie die Recherche nach dem Auto, aus dem Claudia mit dem Dackel an der Leine laut Zeugenaussagen angesprochen wurde. Auch die Vergleiche mit ähnlich gelagerten Fällen in Deutschland, mit den Sexualmorden an der elfjährigen Kim aus dem niedersächsischen Varel, an der siebenjährigen Natalie in Bayern und an Jennifer aus dem westfälischen Versmold gingen ins Leere.

Könnte es diesmal anders sein, wenn Altfälle wie der von Claudia Ruf auf den Tisch kommen?

Führen neue Ermittlungsmethoden zu den Tätern?

Der Satz vom "zweiten Blick" wird jetzt wichtig. Müller spricht auch von der "neutralen Perspektive". Es gibt seit den 80er- oder 90er-Jahren nicht nur neue Wege der Spurensuche durch die Analyse und den Abgleich der genetischen Hinterlassenschaften von Tätern, die gerade in diesem Sommer im Fall Ruf erneut zur Anwendung kommen. Es gibt auch die Methoden der "Operativen Fallanalyse", kurz OFA, für die Andreas Müller und seine Leute die Experten sind.


Dabei leiten die LKA-Profiler – Polizeibeamte, die eine achtjährige Zusatzfortbildung durchlaufen mussten – unter anderem aus dem rekonstruierten Täterverhalten Fragen ab: Was könnte er für ein Mensch sein? Wo könnte er gewohnt haben? Welches Alter wäre möglich gewesen? Was hat ihn beim Sexual- oder Tötungsdelikt angetrieben – die reine Bedürfnisbefriedigung? Oder doch die Erniedrigung des Opfers?

Anders als die Profiler im TV-Thriller und die vom amerikanischen FBI arbeiten die deutschen inzwischen nur im Team. "Ich habe früher alleine analysiert", sagt Müller. Wenn aber vier solcher Ermittler als ausgebildete LKA-Profiler gemeinsam methodisch einen Fall aufbereiteten, darüber redeten und sich gegebenenfalls gegenseitig widersprächen, dann sei das der erfolgversprechendere Weg, den Fall in der Tiefe zu verstehen – und damit den Täter.

Zahl der sexuell motivierten Kindermorde geht zurück

Die Gesellschaft verändert sich schnell und mit ihr die Tatmotive. "Wissen Sie, wann der letzte sexuell motivierte Kindermord in Nordrhein-Westfalen war?", fragt Andreas Müller irgendwann unvermittelt. Und überrascht mit der selbst gegebenen Antwort: "2011. Der Fall Mirco war das, in Grefrath". Seither sind sieben Jahre vergangen.

"Wir haben", hat der Kriminalhauptkommissar die Erfahrung gemacht, "heute nicht mehr die Masse an sexuell motivierten Tötungsdelikten. Wir haben dafür viel mehr Aggressionstäter. Es gibt sicher noch das Phänomen der Serienmörder, aber nicht so, wie es öffentlich dargestellt wird". Wegen der Möglichkeiten des DNA-Abgleichs sei es für Täter wesentlich riskanter, jemanden überfallartig zu vergewaltigen. "Die Täter überlegen sich das sehr gut". Und mit der verbreiteten und überall verfügbaren Pornografie im Internet könnten sie sich selbst den Druck nehmen, der bisher hinter manchen Taten stand.

Für die Rätsel der Vergangenheit, für Tausende unaufgeklärter Fälle in Deutschland, die die Landeskriminalämter verstärkt angehen, gilt das alles natürlich nicht. Ob er ein Bauchgefühl habe, wer hinter dem brutalen Mord vom Mai 1996 steckt? Müller überlegt. "Nein", sagt er. "Aber die Erfahrung sagt, dass der überwiegende Anteil der Täter, die Kinder ermordet haben, nicht allzu weit weg vom Ort der Kontaktaufnahme wohnen. Ein gewisser Prozentsatz ist sicher überregional. Aber die meisten haben ihren Ankerpunkt in der Nähe".

Er redet da ähnlich wie Claudias Rektor in Hemmerden damals vermutet hatte: Es sei "einer von hier aus der Gegend". Die neue DNA-Analyse im Fall von Claudia Ruf läuft noch. Noch haben nicht alle 100 Angeschriebenen rund um Hemmerden und Euskirchen den Watteabstrich gemacht.

Aber Mord verjährt nicht.

Verwendete Quellen
  • dpa
  • "Die Welt"
  • Eigene Recherchen
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