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Mord-Akte "Ötzi": "Keine andere plausible Todesursache"


Mord vor 5.300 Jahren?
Das Mysterium um die Eis-Mumie "Ötzi"

Von Dietmar Seher

28.06.2019Lesedauer: 6 Min.
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Die mumifizierte Leiche: Der Tote wurde als "Mann aus dem Eis" bekannt, auch als "Ötzi". Vermutlich wurde er ermordet.Vergrößern des Bildes
Die mumifizierte Leiche: Der Tote wurde als "Mann aus dem Eis" bekannt, auch als "Ötzi". Vermutlich wurde er ermordet. (Quelle: Reuters)

Es ist eine der ältesten Mord-Akten der Welt. Ermittler glauben: Der unbekannte Täter ist heimtückisch vorgegangen. Belangt werden kann er nicht mehr. Er tötete vor 5.300 Jahren.

Der Mann war zu Lebzeiten nicht sehr groß. Etwa 1,60 Meter groß. Vielleicht 50 Kilo schwer. Seine Statur: sportlich-drahtig. Die Schuhgröße: 38. Er trug mittellanges, braunes und struppiges Haar. Er ist der Expertenschätzung nach circa 45 Jahre alt geworden. Der Unbekannte, später "Ötzi" getauft, ist ein Mordopfer. Da sind sich die Gutachter sicher. Die Ermittler arbeiten hart an dem Fall.

Pfeil und Bogen sind die Mordwaffen

Die Leiche wird konstant auf minus sechs Grad heruntergekühlt, bei fast 100-prozentiger Luftfeuchtigkeit. Man tut alles für ihren Erhalt. Zunächst schien ein natürlicher Tod möglich. Oder ein Unfall. Erst zehn Jahre nach der Entdeckung des Toten hoch oben in den Alpen am Tisenjoch haben Fachleute bei einem Röntgen-CT die Spur einer Mordwaffe gefunden. Eine kleine Pfeilspitze aus Silex, Feuerstein, steckte im Körper.

Professor Oliver Peschel ist Gerichtsmediziner an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Er gehört zu der kleinen Wissenschaftlergruppe aus Ärzten, Kriminologen und Biologen, die die kriminalistische Spurensicherung begleitet haben. Er sagt: "Wir sind uns sehr sicher, dass er durch einen Pfeilschuss in die Schulter zu Tode gekommen ist. Die Pfeilspitze befindet sich ziemlich exakt in der anatomischen Position, in der man die Schlüsselbeinschlagader erwartet. Mit voller Sicherheit können wir das alles nicht sagen. Aber es gibt keine andere plausible Todesursache."

Schädel und Rumpf ragten aus dem Boden

Die Vorsicht, die im Gespräch mit dem Münchner Mediziner herauszuhören ist, hat Gründe. Der mutmaßliche Mord ist vor 5.300 Jahren verübt worden, in der Kupferzeit. Der Tote hat inzwischen einen weltbekannten Namen erhalten. Es ist der "Mann aus dem Eis", der "Mann vom Tisenjoch" oder einfach "Ötzi".

Das Nürnberger Bergwanderer-Ehepaar Erika und Helmut Simon ist bei einer Bergwanderung am 19. September 1991 im Gletschergebiet zwischen der Finailspitze und dem Similaun in den Ötztaler Alpen auf ihn gestoßen. Noch auf italienischem Gebiet war das, keine 100 Meter entfernt beginnt Österreich. Schädel und Rumpf des Toten ragten aus dem Boden.

Ötzi ruht im Südtiroler Archäologischen Museum in der Bozener Fußgängerzone. Als braun-schwärzliche Mumie liegen dort seine sterblichen Überreste – gruselig, aber klar als die eines Menschen erkennbar. Besucher – es waren bisher fünf Millionen, die ihn hier sehen wollten –, können einen Blick auf ihn durch ein Kühlkammer-Bullauge werfen. Der durch die Kälte in mehr als 3.000 Metern Höhe bedingte gute Erhaltungszustand hat auch die Arbeit der Kriminalwissenschaftler möglich gemacht.

Wer war der "Mann vom Tisenjoch"?

Ist es ein großer Unterschied, solch einen Toten zu begutachten oder einen kürzlich Verstorbenen? "Die Umstellung ist gar nicht so groß", sagt Oliver Peschel, "natürlich sind das Gewebe und die Muskulatur anders. Aber wir haben jetzt schon 30 Grad im Tal, und selbst wenn ein kürzlich getöteter Mensch da oben gefunden würde und die Leiche drei Tage da gelegen hat, wäre sie in einem bedeutend schlechteren Zustand als es Ötzi ist."

Wer war Ötzi? Was hat er im Hochgebirge gewollt? Wie starb er? Und, vor allem, wer hat ihn umgebracht und warum? Diese Geschichte interessiert nicht nur die Fans ungewöhnlicher Kriminalgeschichten. Rund 900 Wissenschaftler haben sich bis heute mit Ötzis Person und Geschichte beschäftigt. Filmemacher inspirierte der "Mann vom Tisenjoch" zu Erzählungen auf der Leinwand.

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Öffnen wir die Akte. Es ist irgendwann zwischen 3350 und 3100 vor Christi Geburt. Die Ära der Jäger und Sammler, die durch die Alpentäler gezogen sind, geht zu Ende. Das Rad ist gerade erfunden worden. Die ersten Schnürsenkel tauchen auf. Bauern sind sesshaft geworden. Sie sind nicht mehr auf der Wanderschaft. Sie leben in Stämmen und Familien. Wie im Eisacktal, das heute von Bozen her zum Brennerpass führt. Hier muss Ötzi, der wohl ursprünglich aus dem Nonstal nahe den Brenta-Dolomiten stammt, aufgebrochen sein und die Route ins Schnalstal eingeschlagen haben.

Kurz nach dem Fund erleichtern Spekulationen und Verdachtsannahmen viele Ermittlungen. Vielleicht ist das Opfer auf der Flucht gewesen. Vielleicht haben Feinde seine Familie oder seinen Stamm ausgelöscht. Er könnte der überlebende Clan-Chef sein. Er will weg. Es ist Frühjahr, wie die Biologen bei der Ötzi-Forschung festgestellt haben, denn der Mann aus dem Eis hat noch Hopfenbuchen-Pollen eingeatmet. Der Weg über den Similaun ist für die Talbewohner zu dieser Jahreszeit üblich und gangbar. Doch Ötzi wird verfolgt.

Ein Kampf zwei bis drei Tage vor dem Tod

Der Gerichtsmediziner kommt zu Wort. "Eindeutig und sicher sind scharfe Verletzungen an der Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Verletzung reicht bis auf den Knochen und hat dort eine Scharte hinterlassen. Wir haben auch Spuren einer Wundheilung gefunden, die Verletzung könnte zwei bis drei Tage vor dem Tod entstanden sein", sagt Oliver Peschel.

Das ist spannend. Morde haben oft eine Vorgeschichte, viele auch eine gewaltsame. So ist die Erfahrung der Polizei-Profiler. Peschel weiß: "Die Verletzung bei Ötzi ist an einer ganz charakteristischen Stelle der Hand festzustellen. Hier treten typische Abwehrverletzungen auf. Wenn Sie mit einem Messer angegriffen werden und versuchen sich zu verteidigen, dann werden Sie in das Messer hineinfassen." Die Schlussfolgerung: "Ötzi war zwei bis drei Tage vorher in eine körperliche Auseinandersetzung verwickelt, in der er einen Angriff auf sein Leben abwehren musste. Das hat er offensichtlich erfolgreich getan."

"Erfolgreich" ist ein entscheidendes Wort. Denn den weiteren Aufstieg durch das Schnalstal dürfte der Kupferzeitmensch recht beruhigt zurückgelegt haben. Ein Beleg: Die Experten haben den letzten Mageninhalt scannen können. Sie fanden Reste einer guten Mahlzeit. Steinbock- und Hirschfleisch, ein hoher Fettanteil und vielleicht Getreide als Beilage standen auf Ötzis Speiseplan. Wir würden sagen: Tiroler Speck. Das eine Stunde vor dem Tod. Genießt man so, wenn man sich verfolgt fühlt?

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Ein Angriff aus dem Hinterhalt

Ötzi ist jetzt knapp unter der Finailspitze, auf 3.200 Höhenmetern. Vielleicht will er rasten, bevor er den Alpenhauptkamm nach Norden überquert. Er hat einen Bogen und 14 Pfeile dabei. Der Bogen ist nicht gespannt. Er erwartet also keinen Angriff. Da trifft ihn das Geschoss, vielleicht aus einer Distanz von 30 Metern, von hinten in die linke Schulter und verletzt die Schlagader. Ötzi fällt zu Boden. Er verblutet in kürzester Zeit. Vielleicht in wenigen Minuten. Die Leiche friert schnell ein. Für Jahrtausende.

War es so? "Natürlich ist auch das ein bisschen Hypothese", stellt Peschel fest. "Aber sie hat eine gewisse Tragfähigkeit. Der Schuss kam, so können wir sagen, definitiv von hinten." Peschels Kollege Alexander Horn ist Chef der Fallanalytiker der Münchner Polizei. Auch er war entscheidend an der kriminologischen Aufarbeitung des Mordfalles beteiligt. Auch er sagt: Der Anschlag kam hinterrücks. Aus Heimtücke. Offenbar wollte der Täter keine körperliche Auseinandersetzung riskieren.

Warum musste Ötzi sterben?

Dem eigentlichen Motiv ist allerdings nur noch über ein vages Ausschlussverfahren nahezukommen. Habgier? Ist wenig wahrscheinlich. Geplündert wurde Ötzi wohl nicht. Pfeil und Bogen fanden sich 1991 bei der Mumie noch genau so wie seine Fellmütze, die vollständige Bekleidung und eine wertvolle Axt. Ihr Metall kam aus den Colline Metallifere der südlichen Toskana, einer damals ferneren Gegend. Es muss durch Handel ins Gebirge gelangt sein.

Gab es andere Konflikte? Schwierig sei das zu beantworten, räumt Angelika Fleckinger ein, die Direktorin des Südtiroler Achäologiemuseums ist. "Wir können heute nur ganz schwer Antwort darauf geben, wie das Leben damals ausgesehen hat." Frei von Auseinandersetzungen waren die Zeitalter auf keinen Fall. Archäologen fanden in Süddeutschland und Österreich Spuren blutiger Massaker. Ein Kampf um Land? Um Besitz? Um Frauen? Oder Blutrache? Ganze Dörfer wurden dabei ausgelöscht.

Der Fallanalytiker Horn sieht den Grund für das Delikt wohl in einer persönlichen Konfliktlage, auch in einer vorangegangenen Auseinandersetzung. "Ein Verhaltensmuster, wie es sich auch heute noch bei einer großen Masse der Tötungsdelikte zeigt", sagt Alexander Horn.


Täter tot. Opfer tot. Für die Strafermittlung ist die Akte Ötzi zu schließen. Für Oliver Peschel nicht. Der Münchner Gerichtsmediziner ist der "Konservierungsbeauftragte" der Mumie. Ötzis Leibarzt haben sie ihn schon genannt. Zweimal im Monat führt seine Dienstfahrt nach Bozen. Auf der Rückreise geht sein Blick auf der Höhe von Sterzing dann zu den verschneiten Bergen. Zum Tatort, irgendwo da oben.

Verwendete Quellen
  • eigene Recherchen
  • Geo Epoche, Nr. 96: Revolution in der Steinzeit
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