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Fall Adem Bozgurt: Ermordete die Toilettenmafia den Unternehmer?


"Hingerichtet mit Genickschuss"
Ermordete die Toilettenmafia den Unternehmer Adem Bozkurt?

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 27.01.2020Lesedauer: 5 Min.
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Tatort von 1997: In diesem BMW wurde der Unternehmer Adem Bozkurt getötet.Vergrößern des Bildes
Tatort von 1997: In diesem BMW wurde der Unternehmer Adem Bozkurt getötet. (Quelle: Polizei Friedberg)

1997 fährt ein BMW gegen einen Baum, ein Unternehmer sitzt tot darin. Ein Unfall? Fast 20 Jahre später kommt raus: Adem Bozkurt wurde per Genickschuss ermordet.

Ein tragischer "Alleinunfall ohne Fremdbeteiligung". Das schreiben die Streifenpolizisten ins Protokoll, die an einem frühen Morgen im Frühjahr 1997 in die Wintersteinstraße ins hessische Ober-Mörlen gerufen werden.

Ein schwarzer BMW 518i liegt dort im Graben, mit der Vorderseite an einem Baum. Das Auto scheint nicht besonders schwer beschädigt. Auch wenn die Frontscheibe zerstört ist, die Airbags der Vordersitze ausgelöst sind. Doch hinter dem Fahrer-Airbag klemmt eine Leiche. Die Beamten sind sicher: Adem Bozkurt, 45, war nicht angeschnallt. Er kam mit dem Fahrzeug von der Fahrbahn ab und starb beim Aufprall. So schildert eine Pressemitteilung von Polizei und Staatsanwaltschaft die Ansicht der damaligen Beamten.

Mit dem Auto zu schnell gegen den Baum? Das überleben wenige Fahrer. Von den 3.265 Verkehrstoten im Jahr 2018 sind 519 bei Kollisionen mit dem Grünholz gestorben. Seit 1995 verloren so 28.548 Menschen ihr Leben. In Deutschland stirbt auf diese Weise fast jeden Tag irgendwo irgendjemand. Alltag. Routine.

Begraben in der Türkei

An diesem 8. April 1997 stehen für die Polizisten die nächsten Einsätze an. Der beschädigte BMW wird bei einem örtlichen Abschleppunternehmen landen. Adem Bozkurt, der in Bad Nauheim eine Firma zur Reinigung von Autobahntoiletten betreibt und auf dem Weg zur Raststätte Wetterau an der Autobahn A5 war, findet seine letzte Ruhe weit weg in seiner alten Heimat auf einem Friedhof im türkischen Izmir. Die Bozkurts, das sind seine Frau und die beiden Töchter, bleiben nördlich von Frankfurt in der hessischen Region wohnen, in der der Vater den Tod fand.

Ein Baumtoter unter Hunderten jährlich kaum ein Verantwortlicher in den Strafverfolgungsbehörden wird solche Todesfälle näher hinterfragen. Leichenschauen finden dann kurz statt, Obduktionen gar nicht. So ist das Recht in Deutschland. Die diensthabende Staatsanwältin hat am nächsten Tag die Akte Bozkurt zugeklappt. Fast zwanzig Jahre setzt das Papier Staub in einem Regal an.

Aber Ende 2014 kommt es zu einer unerwarteten Wende. Bei der Staatsanwaltschaft geht eine anonyme Information ein. Ihr knapper, brisanter Inhalt: Adem Bozkurt starb nicht bei einem Unfall. Er wurde ermordet, "hingerichtet mit einem Genickschuss in seinem Wagen", wie der "Kreis-Anzeiger" meldet. So kann nur ein Mitwisser plaudern. Ein unbekannter Zeuge? Ein Tatbeteiligter? Vielleicht der Mörder? Kann es wirklich so sein, wie der Informant es sagte?

"Sehr, sehr dünn"

Die Kripo in Friedberg holt die Akte aus dem Regal. "Sehr, sehr dünn" sei sie, wird später der ermittelnde Staatsanwalt Thomas Hauburger sagen. Schnell befallen die ermittelnden Beamten Zweifel an der offiziellen Todesfeststellung von 1997. Merkwürdig erscheint ihnen jetzt ein ganzer Stoß von Ergebnissen: Dass Blut des vermeintlichen Unfallopfers an der Frontscheibe klebte, obwohl ein aufgeblasener Airbag das eigentlich unmöglich macht. Dass der Beifahrer-Airbag reagiert hat, von einer zweiten Person im Fahrzeug aber nichts bekannt ist.

Vor allem aber: Die laut Protokoll nur geringfügigen Beschädigungen des BMW. Bei frontalen Baumunfällen sehen Kfz-Experten eine Aufprallgeschwindigkeit von 70 Kilometer pro Stunde als tödlich an. Ein Gutachter stellt bald fest, Bozkurts Auto könne mit vielleicht Tempo 33 gegen den Baum gefahren sein: "Eine geringe Aufprallgeschwindigkeit“. So viel bestätigt auch Staatsanwalt Hauburger. Es kann also gut möglich sein, was der Informant erzählt hat.

Zwei Jahrzehnte nach Bozkurts Tod kommen Mordermittungen in Gang. "Als wir vom neuen Verdacht erfuhren, waren wir geschockt", erzählt Tugba Bozkurt 2016 der "Frankfurter Neuen Presse", die wie der "Kreis-Anzeiger" oder die "Gießener Allgemeine" über die Details berichtet. Tugbas Mutter, Adem Bozkurts Witwe, ist inzwischen verstorben.

Konflikt mit der Toilettenmafia?

Die Tochter, zur Tatzeit war sie gerade 14, nimmt sich einen Anwalt. Erinnerungen kommen zurück: Der Vater hatte Probleme mit aufdringlichen Konkurrenten, die ihm die gute Einnahmesituation seiner WC-Reinigungsfirma missgönnten und penetrant die Aufteilung des Geschäfts forderten. Es ist der Moment, in dem Kriminalbeamten und Staatsanwälten der Begriff Toilettenmafia einfällt. Ihnen dämmert von dem möglichen Motiv eines Anschlags.

Die Verhandlungen mit den Kollegen in der Türkei ziehen sich hin. Schließlich erreichen die hessischen Behörden die Genehmigung, den Leichnam von Adem Bozkurt in Izmir zu exhumieren. Die Rechtsmediziner stellen im hinteren Schädelbereich des Toten einen Einschuss fest, für den ein kleines Geschoss verantwortlich sein könnte, vielleicht Kaliber 22: Halswirbel sind deformiert, nicht weggesprengt. Der Tod könnte durch Verletzung von Blutgefäßen eingetreten sein.

Nur: Das Austrittsloch fehlt. Auch findet sich weder im Schädel noch im Grab ein entsprechendes Projektil – es wäre ja ein wichtiges Beweisstück. Hat es ein Tier weggeschleppt? Oder trat die Kugel durch den Mund aus und steckt noch in der BMW-Karosserie? Wenn ja, ahnen die Experten, dürften die Ermittlungen schwierig werden. Das Fahrzeug ist weg. Wahrscheinlich irgendwo nach Osteuropa verkauft. Oder längst schon Schrott.

"Ein harter Konkurrenzkampf"

Was steckt hinter der Toilettenmafia? Um die Jahrtausendwende ist sie ein Thema. Skrupellose Unternehmer beuten Toilettenfrauen und -männer aus. Toilettennutzer auf Autobahnraststätten geben durchaus gerne Trinkgeld – ohne zu ahnen, dass die Gabe keineswegs immer bei denjenigen bleibt, die die Örtlichkeit säubern müssen. Diese werden oft gezwungen, den gesamten Betrag in Tüten und Säcken zu sammeln und herauszurücken. Tonnen an Münzgeld kommen da zusammen. Die Gewinne erreichen Millionenhöhen.

Mehrere Ermittlungsbehörden gehen in den Jahren nach 2000 gegen diese Form der Ausbeutung vor. Die Straftatbestände: Sozialversicherungsbetrug, Steuerhinterziehung, illegale Beschäftigungsverhältnisse. Denn den Serviceleuten bleiben dann, bei Trinkgeldeinnahmen bis zu 200 Euro pro Reinigungskraft täglich, erbärmliche Stundenlöhne von zwei Euro. "Toilettenanlagen sind ein sehr lukratives Geschäft und es gibt deshalb unter den Reinigungsfirmen einen harten Konkurrenzkampf", sagte damals der Potsdamer Oberstaatsanwalt Benedikt Welfens dem TV-Magazin "Panorama". In der gleichen Sendung spitzte Thorsten Schneider vom Hauptzollamt in Heilbronn zu: "Das ist eine moderne Form von Sklavenarbeit".

Adem Bozkurt war keiner dieser Sklaventreiber. Davon sind die hessischen Ermittler auch aktuell überzeugt. Im Gegenteil: Hauburger hält ihn für einen "rechtschaffenden, gut integrierten Bürger.". Möglicherweise war er aber das Opfer solcher Banden. Ende 2016 geraten drei Männer in den Fokus, die mit der Szene verbunden sind. Sie werden vorläufig festgenommen, befragt, ihre Wohnungen durchsucht. Am Ende kann der Tatverdacht nicht bestätigt werden. Die drei sind auf freiem Fuß. Bis heute.

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"Keine neuen Entwicklungen"

Im Juli 2018 strahlt das ZDF "Aktenzeichen XY … ungelöst" aus. Der Unfall, der keiner war, wird zu einem eigenen Filmbeitrag. Staatsanwalt Hauburger, der schon andere Cold Cases gelöst hat, erhofft sich neue Hinweise. Tatsächlich gehen 35 ein. Einige betreffen eine zweite Person im Fahrzeug, bevor es vor dem Baum an der Wintersteinstraße zum Stehen kam. Aber auch jetzt wird eine Konkretisierung nicht möglich.

Ein oder zwei Personen haben mit Bozkurt im Auto gesessen. Vielleicht wurde eine von ihnen sogar leicht verletzt. Adem Bozkurt wurde am Steuer erschossen. Das sind die Annahmen, von der die Polizei in Friedberg und die Staatsanwaltschaft in Gießen immer noch ausgehen. "Keine neuen Entwicklungen" gebe es aber, so die Staatsanwaltschaft im Januar 2020 zu t-online.de. Den BMW haben sie nicht ausfindig machen können. Bald 23 Jahre sind seit dem Mord vergangen.

Die Fahnder machen weiter, stellen wieder die alten Fragen: Wer kann Angaben zu dem vermeintlichen Verkehrsunfall am 8. April 1997, circa 4.30 Uhr machen? Wer hat den schwarzen BMW am frühen Morgen des Tattages und/oder Adem Bozkurt gesehen? Gibt es Zeugen, die von einem Tötungsdelikt erfahren haben?

Eine ganz andere Überlegung haben manche von ihnen im Kopf. Sie richtet sich an den Gesetzgeber. In nicht wenigen Nachbarländern wird nach jedem Todesfall, auch bei einem Unfallopfer, eine Obduktion durchgeführt. Warum ist das in Deutschland nicht so? Adem Bozkurts Mörder säße vielleicht längst hinter Gitter.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Polizeipräsidium Mittelhessen: Vermeintlicher Unfalltod (1997) erweist sich als Tötungsdelikt
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