Niemand traut sich, das zu sagen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Putin hat einen Angstgegner. Der russische Diktator fΓΌrchtet ihn so sehr, dass er ihn in die vΓΆllige Isolation sperren lieΓ. Vor 766 Tagen inhaftierte man ihn aus fadenscheinigen GrΓΌnden: Erst kam er ins Straflager Pokrow, im Juni 2022 wurde er verlegt. Seitdem sitzt dieser Mann in einer zweieinhalb mal drei Meter kleinen Zelle. Sie ist Teil der Strafkolonie IK-6 in dem russischen Dorf Melechowo, etwa 250 Kilometer ΓΆstlich von Moskau. Der Ort ist berΓΌchtigt dafΓΌr, dass seine Insassen gefoltert und getΓΆtet werden.
Embed
Grund genug, an diesen Mann zu erinnern. Alexej Nawalny ist Wladimir Putins bekanntester Kritiker, ein Oppositioneller mit internationaler Strahlkraft. Doch er kann seine Stimme kaum noch gegen Putins Schurkenregime erheben. Nur selten schaffen es Nachrichten Nawalnys an die Γffentlichkeit. So wie vor drei Tagen.
Der russische PrΓ€sident habe "unter lΓ€cherlichen VorwΓ€nden einen ungerechten Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt", erklΓ€rte Nawalny in einer am Montag von seinem Team in Onlinenetzwerken verΓΆffentlichten Botschaft. Die "wahren GrΓΌnde" fΓΌr den Krieg seien die politischen und wirtschaftlichen Probleme Russlands, Putins Wunsch, um jeden Preis an der Macht zu bleiben sowie seine "Besessenheit von seinem eigenen historischen Erbe".
Niemand weiΓ sicher, was hinter den Mauern der Strafkolonie vor sich geht. Ex-HΓ€ftlinge sprechen von GrΓ€ueltaten. So wurde 2018 die Geschichte Gor Owakimjans bekannt. Er wurde wegen angeblichen Drogenhandels verurteilt. In der Strafkolonie IK-6 sei ihm mit einer GΓΌrtelschnalle in den Unterleib geschlagen worden. Man habe ihm einen Eimer auf den Kopf gesetzt und anschlieΓend Gas aus einer SprΓΌhdose unter den Eimer gesprΓΌht. Dazu sei laute Musik abgespielt worden.
Als Owakimjan in Haft starb, war eine LungenentzΓΌndung die offizielle Todesursache. Doch seine AngehΓΆrigen verΓΆffentlichten spΓ€ter Videos des Leichnams. Diese zeigten Spuren eines Elektroschockers, gebrochene Finger und Zehen, verletzte Genitalien, ein riesiges HΓ€matom am Oberschenkel, auf dem RΓΌcken einen schwarzen Streifen.
Dass es Folter gibt, ist in Russland ein offenes Geheimnis. Nawalny wehrt sich seit seiner Inhaftierung erfolglos gegen Misshandlungen. Jede Nacht werde er geweckt mit der BegrΓΌndung, es bestehe Fluchtgefahr. Was noch alles mit dem 46-JΓ€hrigen geschieht, mag man sich nicht ausmalen. Doch es scheint so, als zeige Putins Folter keine Wirkung. Denn seinen Verstand hat Nawalny nicht verloren. Mit seinen Aussagen zu dem vor einem Jahr von Russland entfachten Krieg trifft er Putin an einer empfindlichen Stelle: an seinem Ego.
"Den Krieg fortzusetzen ist ein Schrei von Hilflosigkeit, aber ihn zu beenden, ist eine Geste der StΓ€rke", lieΓ Nawalny verlauten und meinte damit vor allem: Putin besitzt nicht die GrΓΆΓe, Fehler einzugestehen. Er ist verblendet und schwach β und er handelt nicht zum Wohle seines Volkes, sondern nur, um seine eigenen Allmachtsfantasien zu stillen.
Doch niemand in Russland traut sich, das zu sagen. Putin hat nicht nur Russlands bekanntesten Oppositionellen in die Isolation verfrachtet, er hat auch sein Volk zum Schweigen gebracht. Russen profitieren entweder vom korrupten Kreml-Regime: dann halten sie die FΓΌΓe still. Oder sie sind verΓ€ngstigt ob der VergeltungsmaΓnahmen, die ihnen bei Kritik an der FΓΌhrung drohen. Und dann wΓ€ren da noch die Hunderttausenden, die Russland den RΓΌcken gekehrt haben, um im Exil ihr GlΓΌck zu finden.
Alexej Nawalny hat den Mut, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, Putin als Verbrecher zu benennen. DafΓΌr wurde er vom russischen Geheimdienst vergiftet β und brach dennoch nur fΓΌnf Monate spΓ€ter nach einer Behandlung in der Berliner CharitΓ© zurΓΌck in seine Heimat auf. Ein Giftanschlag konnte ihn nicht kleinkriegen, er wollte weitermachen.
Also lieΓ man ihn festnehmen. Noch am Flughafen verschleppten ihn die Putin-Schergen. Seitdem ist er weitgehend von der BildflΓ€che verschwunden. All das musste Nawalny befΓΌrchtet haben. Kurz nach seiner Verhaftung enthΓΌllte sein Team die Investigativrecherche "Putins Palast". Sie zeigt den obszΓΆnen Reichtum des russischen PrΓ€sidenten und ein gigantisches Anwesen am Schwarzen Meer. Auch wegen der Brisanz dieser Bilder gilt es als unwahrscheinlich, dass Nawalny zu Putins Lebzeiten Gnade erfahren wird. Mindestens neun weitere Jahre soll er in seiner Zelle einsitzen.
Wir dΓΌrfen diesen Mann nicht vergessen. Sein Ideal von einer funktionierenden parlamentarischen Republik Russland zeigt einen Ausweg. Nur wenn wir regelmΓ€Γig an ihn erinnern, seine Geschichte erzΓ€hlen, das Interesse an Nawalny nicht versiegt, bleibt der Druck auf Putins Regime groΓ genug, um Nawalny nicht einfach um die Ecke zu bringen β so wie es mit Gor Owakimjan geschehen ist, einem Mann, der nicht kooperieren wollte und dafΓΌr offenbar bΓΌΓen musste.
Nawalny wurde rund ein Jahr vor Kriegsbeginn ins GefΓ€ngnis geworfen. Hunderttausende gingen ΓΌberall in Russland auf die StraΓen, demonstrierten, riefen: "Putin ist ein Dieb". Sie prangerten die UnrechtmΓ€Γigkeit der Inhaftierung an, kritisierten die VorgΓ€nge als politisch motiviert. Zu Tausenden wurden diese Demonstranten daraufhin drangsaliert, in Untersuchungshaft gesteckt, mundtot gemacht. Seitdem ist es still geworden, zu still. Ein Unruheherd wie Nawalny fehlt, eine moralische Instanz mit der Kraft, Russland auf den rechten Weg zurΓΌckzubringen.
Den Aufruf "NawalNIE vergessen" sollten wir deshalb an diesem 23. Februar 2023 verinnerlichen. Denn mit einer funktionierenden Opposition, mit Nawalny und anderen Mutigen wΓ€re vor einem Jahr die Katastrophe vielleicht noch zu verhindern gewesen. Jetzt tobt der Krieg seit 364 Tagen. Zeit, dass sich daran endlich etwas Γ€ndert.
Termine des Tages
Eine Umweltkatastrophe wie die in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Sommer 2021 soll es nie wieder geben. Eine Lehre aus den Ereignissen von damals: Es braucht ein besseres Warnsystem. Bund und LΓ€nder haben beschlossen, Cell Broadcast in Deutschland einzufΓΌhren. Im Dezember 2022 getestet, steht das System ab diesem Donnerstag nun bundesweit zur VerfΓΌgung. ZustΓ€ndig ist das Bonner Bundesamt fΓΌr BevΓΆlkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Ab sofort kann Cell Broadcast also warnende Textnachrichten verschicken, zum Beispiel in Form einer SMS. Hoffen wir, dass es Hilfe bietet β und es nicht (zu oft) gebraucht wird.

Erhalten Sie jeden Morgen einen Γberblick ΓΌber die Themen des Tages als Newsletter.
Die UN-Vollversammlung zum Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine geht weiter. Um 16 Uhr soll AuΓenministerin Annalena Baerbock in New York eintreffen, am Abend wird sie eine Rede halten. Gewiss wird die GrΓΌnen-Politikerin die mΓΆrderische Invasion in die Ukraine verurteilen. Doch entscheidender dΓΌrfte sein, wie scharf die geplante Resolution am Ende der Vollversammlung formuliert ist.
Γber die Kriegsverbrechen in der Ukraine informiert heute auch ein internationales Ermittlerteam in Den Haag. Am Internationalen Strafgerichtshof laufen seit MΓ€rz 2022 Untersuchungen in der Sache. Um 11 Uhr wird es eine Pressekonferenz zum aktuellen Stand der Ermittlungen geben.
Die Spiele der Champions League sind vorbei, nun geht es um die Europa League. Bayer Leverkusen muss in Monaco ab 18.45 Uhr das 3:2 aus dem Hinspiel wettmachen, um doch noch ins Achtelfinale einziehen zu kΓΆnnen. FΓΌr Union Berlin hingegen geht es bei null los: An der Alten FΓΆrsterei gastiert Ajax Amsterdam, das Hinspiel in den Niederlanden endete torlos. Ob den Berlinern vor heimischem Publikum die Sensation gelingt? AnstoΓ ist um 21 Uhr.
Was lesen?
Die Stimme ist das Kapital eines jeden Kommentators. Doch seit seiner GesichtslΓ€hmung ist Reporter Marcus Lindemann stark beeintrΓ€chtigt. Mit meinem Sportkollegen Noah Platschko spricht der 56-JΓ€hrige erstmals ausfΓΌhrlich ΓΌber seinen Gesundheitszustand.
Der gewaltsame Tod eines fΓΌnfjΓ€hrigen MΓ€dchens schockiert Berlin. Am Morgen danach war mein Kollege Yannick von Eisenhart Rothe in dem Park unterwegs, wo das MΓ€dchen gefunden wurde. Viele dort fragen sich vor allem eines: Warum?
Seit Jahrzehnten forschen Mediziner an der Behandlung von Krebs. Jetzt soll ein neuer Therapieansatz kommen. Meine Kollegin Christiane Braunsdorf erklΓ€rt Ihnen, was das mit Corona zu tun hat.
Was amΓΌsiert mich?
Neue Ideen braucht das Land β und zur Ruhe zu kommen, halte ich immer fΓΌr einen guten Ansatz.
Ich wΓΌnsche Ihnen einen erfolgreichen Tag. Morgen schreibt Florian Harms den Tagesanbruch fΓΌr Sie.
Herzliche GrΓΌΓe,
Ihr
Steven Sowa
Redakteur Unterhaltung
Twitter @StevenSovani
Was denken Sie ΓΌber die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den tΓ€glichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.