Tagesanbruch Vielleicht war er sich schon zu sicher
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vor knapp zwei Wochen wirkte der Ausgang des Wahlkampfs um das Amt des US-Präsidenten für viele lächerlich offensichtlich. Donald Trump entging bei einem gescheiterten Attentat knapp dem Tod, als eine Kugel seinen Kopf verfehlte und ihn nur leicht am Ohr traf. Statt geschockt zu flüchten, richtete sich der 78-Jährige auf, reckte die Faust in die Luft und rief dreimal "Kämpft!", ehe ihn die Sicherheitsleute vom Tatort wegführten.
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Egal, wie man zu Trump oder seiner Politik steht: Die Bilder und Gesten im Nachgang des Anschlags waren ikonisch. Auf dem anschließenden Nominierungsparteitag wurde er wie ein Heiliger bejubelt, dem scheinbar nichts etwas anhaben kann. Fanartikel mit Trump und seiner geballten Faust wurden zum Verkaufshit. Die Trump-Jünger solidarisierten sich mit dem 78-Jährigen, indem sie sich wie er große Pflaster über ihre Ohren klebten oder sich die Trump-Faust auf die Wade tätowieren ließen.
Nicht wenige Beobachter waren sich damals einig: Die Wahl ist entschieden. Trump wird erneut ins Weiße Haus einziehen. Joe Biden war schon zuvor ins Hintertreffen geraten, aber jetzt hatte er keine Chance mehr – und mit J. D. Vance hatte Trump möglicherweise sogar seinen eigenen Nachfolger als Vizepräsidentschaftskandidaten installiert.
Doch rund zwei Wochen später – wir sind jetzt wieder in der Gegenwart – stellt sich die Lage im Wahlkampf ganz anders dar. Denn der Kandidat der Demokraten heißt nicht mehr Joe Biden, sondern aller Voraussicht nach Kamala Harris. Die macht jetzt gewaltigen Druck auf Trump und die Republikaner. Davon zeugen nicht nur die mehr als 200 Millionen Dollar eingenommener Spenden, sondern auch 170.000 neue Wahlhelfer, die Harris freiwillig unterstützen wollen. Unser Kolumnist Uwe Vorkötter schreibt zu Recht: All diese Ereignisse haben zusammen eine unübersichtliche, ja chaotische Lage herbeigeführt.
All diese Ereignisse zeigen aber auch: Wer jetzt meint zu wissen, wer diese US-Präsidentschaftswahl gewinnen wird, droht sich lächerlich zu machen. Denn dieser Wahlkampf zeigt auf spektakuläre Weise, wie schnell vermeintliche Wahrheiten überholt sein können. Und bis zum Wahltag gibt es noch zahlreiche Unwägbarkeiten, die das Ergebnis in die eine oder andere Richtung bewegen können.
Da ist etwa der noch soeben von den Republikanern hochgejubelte J. D. Vance. Der ehemalige Trump-Kritiker, der mittlerweile wie eine Handpuppe des Ex-Präsidenten agiert, galt gerade noch als die perfekte Besetzung für den Posten des Vizepräsidenten. Politisch und rhetorisch mindestens genauso scharf wie Trump, dazu noch jünger und absolut loyal. Dass er wie Trump die exakt gleiche Wählerschaft anspricht? Fiel in der Welt von vor zwei Wochen kaum ins Gewicht: Schließlich war man sich sicher, dass man gegen Joe Biden gar nicht mehr verlieren könne.
Doch genau dieser J. D. Vance entwickelt sich jetzt zu einem Problem für Trump. Bei den Republikanern und deren Wählern wird man sich offenbar erst jetzt bewusst, mit welchen Worten Vance den Ex-Präsidenten einst attackiert hatte: Der 39-Jährige nannte Trump vor ein paar Jahren noch "amerikanischer Hitler" und warnte ausdrücklich vor ihm. Zudem steht Vance aber auch wegen anderer Aussagen unter Druck. 2021 spottete der Abtreibungsgegner noch über Frauen ohne Kinder, indem er sie "kinderlose Katzenfrauen" nannte.
Es sind Worte, die sicherlich bei der Kernwählerschaft von Vance und Trump Eindruck machen. In einem knappen Rennen gegen Harris dürften solche Aussagen aber die entscheidenden unschlüssigen Wähler in der Mitte abschrecken. Bereits nach dem Parteitag hatte der Nachrichtensender CNN gemeldet, dass Vance laut Umfragewerten der unbeliebteste Vizekandidat seit mehr als 40 Jahren ist. Tatsächlich wird in den USA bereits darüber spekuliert, ob Trump womöglich Vance schon bald wieder austauscht.
Ein anderer Kandidat als Nummer zwei könnte die Lage der Republikaner erneut verändern. Bei den Demokraten ist man dagegen noch gar nicht so weit: Kamala Harris hat sich auf ihren Vize-Kandidaten bisher nicht festgelegt. Um weitere Wählergruppen anzusprechen, dürfte die Wahl wohl auf einen weißen Mann fallen, der eher in der Mitte Wählerstimmen holen könnte. Verschiedene Namen kursieren, wie die der Gouverneure Josh Shapiro (Pennsylvania), Andy Beshear (Kentucky) oder der von Verkehrsminister Pete Buttigieg.
Die Wahl sollte gut überlegt sein. Denn auch das zeigt der Fall Vance: Jedes noch so kleine oder große Detail in der Biografie eines "Running Mate" könnte den Erfolg der Kampagne gefährden.
Noch viel wichtiger als die Vizes bleiben natürlich Trump und Harris selbst. Wie Trump als Wahlkämpfer und Präsident agiert, ist bereits bekannt. Wie die Justiz in den kommenden Monaten über sein Wirken in den vergangenen Jahren urteilt, wird sich bald zeigen. Zwar hatte der Supreme Court der USA zuletzt entschieden, dass Präsidenten während ihrer Amtszeit eine Teilimmunität genießen. Was das allerdings für Trump bedeutet, haben mehrere Gerichte bislang nicht abschließend beurteilt. Am 18. September – und damit noch weit vor dem Wahltag – wird etwa das Strafmaß in seinem Schweigegeldprozess um die ehemalige Pornodarstellerin Stephanie Clifford alias "Stormy Daniels" erwartet.
Und Kamala Harris? Die jetzige Hoffnungsträgerin der Demokraten galt vor nicht allzu langer Zeit noch als Fehlbesetzung. Als Vizepräsidentin sollte sie sich um die Themen Wahlrecht und Migration kümmern. Überzeugt hat sie darin nicht, beide Bereiche waren allerdings keine Themen, mit denen man als Vize glänzen kann. Auch im Umgang mit ihren eigenen Mitarbeitern soll Harris nicht gerade zimperlich sein. Als sie 2019 Kandidatin der Demokraten werden wollte, warf die Kampagnenmanagerin ihr später einen schlechten Umgang mit dem Team vor. Als sie Vizepräsidentin wurde, kündigten innerhalb kurzer Zeit mehrere ranghohe Mitarbeiter.
Die früheren Zweifel werden gerade von der Euphorie über die Ablösung von Biden überdeckt. Den gesamten Wahlkampf über wird das Harris aber wohl nicht zugutekommen. Sie muss auch Themen finden, um die amerikanische Bevölkerung von sich zu überzeugen. Mit der Diskussion um das Recht auf Abtreibung könnte sie ein solches bereits gefunden haben. Aber ob das allein sie über den gesamten Wahlkampf ins Ziel trägt? Bis zum 5. November kann noch viel passieren.
Ohrenschmaus
Wenn wir schon bei Dingen mit unvorhersehbaren Enden sind: Schauen Sie sich doch dieses Musikvideo bis zum Schluss an.
Die erwartete Antwort
Es war am Ende nur eine Frage der Zeit, wann Israel auf den jüngsten Angriff der libanesischen Terrormiliz Hisbollah reagieren würde. Am Dienstagabend meldete dann das israelische Militär einen Angriff auf die Stadt Beirut. Dort habe man gezielt einen hochrangigen Kommandeur "ausgeschaltet", während die Hisbollah den Tod nicht bestätigte. Zudem soll es weitere Dutzende Verletzte und eine Tote gegeben haben.
Die Hisbollah hatte am Wochenende die von Israel besetzen Golanhöhen mit Raketen angegriffen und dabei 13 Menschen getötet, die meisten davon Jugendliche und Kinder. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach danach von einem "hohen Preis", den die Terrororganisation dafür zahlen werde. Verteidigungsminister Joaw Galant sah mit dem Angriff eine rote Linie überschritten.
Gnade für Rico K.
Rico K. sollte sterben. Dem Deutschen wurde vorgeworfen, für die Ukraine spioniert zu haben. Dafür wurde er in Belarus zum Tode verurteilt. Das Land ist das letzte in Europa, das Todesurteile noch vollstreckt – per Genickschuss.
Doch der Deutsche wurde jetzt vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko offenbar begnadigt. So berichtet es die staatliche belarussische Nachrichtenagentur Belta, das deutsche Außenministerium reagierte auf die Nachricht mit Erleichterung. Solche Entscheidungen seien die schwierigsten im Leben eines Präsidenten, lässt sich Lukaschenko zitieren.
Ob es sein Gewissen war, das Lukaschenko zu dieser Entscheidung trieb, darf stark bezweifelt werden. Vielmehr dürfte die Begnadigung einen hohen Preis nach sich ziehen. Spekuliert wird schon länger, dass der russische Präsident Wladimir Putin, der sich Lukaschenkos Belarus mittlerweile als Vasallenstaat hält, einen Austausch des sogenannten "Tiergartenmörders" mit der Bundesregierung anstrebt. Als Faustpfand hält Putin auch weiter den US-Journalisten Evan Gershkovich gefangen, der kürzlich zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde.
Allzu sehr sollte man also weder Lukaschenko noch Putin trauen: Das Team des Kremlkritikers Alexej Nawalny hatte im Februar berichtet, Verhandlungen über einen Austausch von Nawalny mit dem "Tiergartenmörder" seien bereits weit fortgeschritten gewesen. Wenig später war Nawalny unter bis heute ungeklärten Umständen in einem russischen Straflager verstorben.
Das historische Bild
Archaisch mutet diese Art der Nachrichtenübermittlung an, aber sie war effizient. Mehr lesen Sie hier.
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Zum Schluss
Kennen Sie doch auch, oder?
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Mittwoch. Morgen schreibt für Sie Johannes Bebermeier.
Herzliche Grüße
Ihr
David Schafbuch
Stellvertretender Ressortleiter Politik & Wirtschaft
X: @Schubfach
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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