Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine brisante Entscheidung bahnt sich an

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Worte verraten, wie heiß das Eisen ist. Sobald Politiker "sorgfältig auswerten", "prüfen" oder etwas "sehr genau anschauen" wollen, würden sie sich am liebsten überhaupt nicht äußern. "Wohlüberlegt" heißt später. "Verfrüht" meint eigentlich vertagt.
Die Diskussion um ein Verbotsverfahren gegen die AfD bietet reichlich Anlass für Sprachakrobatik dieser Sorte. Das kann man sogar verstehen. Das Risiko ist riesig. Niemand weiß, ob ein Verbot nicht gewaltig nach hinten losgeht. Zieht man damit die Notbremse oder nimmt die Reise nach rechts erst so richtig Fahrt auf? Ohne Glaskugel, mit der man in die Zukunft schaut, gibt es darauf keine Antwort. Jedenfalls dachten wir das. Aber es gibt Neuigkeiten: Eine experimentierfreudige Riege hat die Sache einfach mal ausprobiert.
Embed
Der Feldversuch ist noch nicht ganz abgeschlossen, aber an diesem Sonntag kann man die letzten Messergebnisse in die Tabelle eintragen. 18 Millionen Menschen dürfen mitmachen bei diesem Test, Zwischenstände gibt es schon zuhauf. Rumänien hat es für uns ausgelotet: Ein rechtsradikaler Populist trat an, um Präsident zu werden, gewann mit windigen Methoden aus dem Nichts den ersten Wahlgang. Er holte 23 Prozent der Stimmen, etwas mehr also als die AfD bei der Bundestagswahl. Dann annullierte das oberste Gericht die Wahl und schloss den Kandidaten von der Wiederholung aus. Verboten. Aus die Maus.
Rumänien ist nicht Deutschland. Die Umstände unterscheiden sich, Persönlichkeiten erst recht, die Motive der Wähler sowieso. Aber Parallelen gibt es schon. Eine etablierte politische Klasse, die ausgebrannt zu sein scheint, sich in taktischen Spielchen verliert und das Land nicht voranbringt: So nehmen viele Menschen die Politik wahr, und exklusiv rumänisch ist daran gar nichts. Sich abgehängt und ignoriert zu fühlen, das kennt man hierzulande auch. Es denen da oben mal so richtig zeigen: Diese Ansage haben wir nicht zum ersten Mal in Bukarest gehört.
So sah der Nährboden aus, auf den als kleines Körnchen der Kandidat Călin Georgescu fiel. Es spielt für unser Experiment keine Rolle, dass er über Nacht auf TikTok berühmt wurde, weil Putins Netzwerker manipulierten, was das Zeug hielt, und ihm enorme Reichweite verschafften. Ebenfalls ist es für uns nebensächlich, dass sein Ausschluss von der Wahl vom obersten Gericht für rechtens erklärt wurde. Ganz und gar nicht beiseite wischen lässt sich allerdings der Eindruck, den das juristische Manöver bei Scharen von Bürgern hinterlassen hat: Viele glauben ohnehin, dass die da oben alle unter einer Decke stecken – Regierung, Opposition, Richter, Medien. Das oberste Gericht kann urteilen, was es will, hängen bleibt nur eines: Der Kandidat wird unterdrückt. Vom "System". Das hört man zwar nicht in den Abendnachrichten, aber dort, wo viele ihre Infos herbekommen: auf TikTok, Telegram und Co. Da raunt es gewaltig.
Was also geschieht nach so einem Verbot? Klar ist: Die 23 Prozent der Wähler, die ihr Kreuzchen in den Papierkorb wandern sehen, sind in Rage. Wen wählen sie jetzt? Ihr Kandidat ist futsch. Ersatz hat sich aber schnell gefunden: In die Bresche sprang einer, der seine Chance witterte, auf der Welle des Zorns zu surfen. George Simion, ehemaliger Hooligan und Chef einer rechtsextremen Konkurrenzpartei des Ausgeschlossenen, hat die Rolle des Rächers dankbar übernommen. Mit dem "unterdrückten" Georgescu tritt er gemeinsam auf, Anhänger der beiden sind nun vereint.
Auf Deutschland übertragen bedeutet das: Die Frage ist nicht, ob eine verbotene AfD verschwände, sondern wo genau sie wieder auftaucht. Im Bündnis Sahra Wagenknecht vielleicht? In einer Neugründung? Die Rumänen verraten uns vieles, aber das leider nicht. Die Solidarisierung ehemaliger Konkurrenten im völkischen Sumpf dürfen wir jedoch schon einplanen und ihre Wählerschaft im Geiste zusammenlegen.
Machen wir die Probe: In Rumänien war Simion bei der annullierten Wahl auch schon mit am Start. Zusammengenommen hatten er und der Skandalkandidat Georgescu 37 Prozent der Wähler hinter sich. Bleibt es dabei? Oder krempelt eine Welle der Empörung über das Verbot auch das Wahlverhalten der übrigen Bürger um?
Die Rumänen haben sich an die Urnen begeben, um das zu klären, und den ungültigen ersten Wahlgang wiederholt. Die Auszählung ergab: Simion, der staatsmännisch gewendete Ex-Hooligan, holte diesmal 41 Prozent. Vier Prozent mehr also, als das rechte Lager vor dem Verbot einfuhr. Das ist ein ordentlicher Schub, aber kein Erdrutsch. Die Bilanz bisher: Die rechten Anhänger bleiben ihm treu, viel mehr geschieht aber nicht. Neue Wähler kommen vielleicht noch hinzu, aber im üblichen Rahmen, je nachdem, wie der Kandidat sich schlägt – also wie bei jeder anderen Abstimmung auch. Die Schockwirkung bleibt aus, das Wählerverhalten vorhersagbar.
Sind also die Risiken eines Parteiverbots, das Verfassungsfeinden das Handwerk legen soll, geringer als gedacht? Die Wähler wandern wenig, deshalb stellt sich dieser Eindruck ein. Zum Höhenflug setzen die Rechtspopulisten nicht an. Besser wird es aber auch nicht. Wie wir gesehen haben, findet jemand, der am rechten Rand sein Kreuzchen gemacht hat, nach dem Verbot schnell eine neue politische Heimat, die kaum anders aussieht als die alte. Die demokratischen Grundwerte entdeckt so also niemand für sich wieder. Gefahr für die Verfassung wendet das Auswechseln rechter Parteilogos auch nicht ab.
Wenig Schaden, wenig Nutzen: So scheint die erste Hochrechnung zu lauten, die uns vom rumänischen Wahldrama für unsere eigenen heiklen Entscheidungen erreicht. Aber die Zahlen können uns nicht alles verraten. Die Anhänger der Ultrarechten mögen nur im eigenen Lager hin und her gewandert sein – aber haben sie sich außerdem tiefer eingegraben? Hat die Wut über die Annullierung der eigenen Stimme einen Teil der Bevölkerung weiter radikalisiert, den Institutionen entfremdet und die Kluft zur übrigen Gesellschaft vergrößert? Das muss sich erst noch zeigen.
Am Sonntag gehen die Rumänen noch einmal an die Urne. Uns Zuschauern wird die Stichwahl weitere Indizien liefern. Für diejenigen, die ihre Wahlentscheidung treffen, steht nichts weniger als das Schicksal ihres Landes auf dem Spiel. Schlägt die Nation den Weg ein, auf dem schon Viktor Orbán unterwegs ist und Simions Vorbild, Donald Trump, täglich die Abrissbirne schwenkt? Kann die Demokratie ihre schwere Krise überleben? Es ist eben doch kein Experiment, das Politikern in Berlin nur ein bisschen Orientierung verschaffen kann. Vor Ort geht es ums Ganze.
Wünschen wir den Rumänen also Glück. Und das Händchen für eine vernünftige Entscheidung. Wir machen uns derweil Notizen.
Ein Ort zum Fürchten
Orte des Grauens gibt es viele im Nahen Osten, Be'eri zählt zu den schlimmsten: In dem Kibbuz viereinhalb Kilometer neben der Grenze zum Gazastreifen richteten Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 ein Massaker an. In stundenlangen Gefechten ermordeten sie 132 Einwohner und verschleppten 30 als Geiseln. Die meisten Bewohner haben den Kibbuz verlassen, doch aufgeben wollen sie ihn nicht. Sie bauen neue Häuser, Werkstätten und eine Kunstgalerie; Deutschland unterstützt den Wiederaufbau mit sieben Millionen Euro.
Der Lokalpolitiker Chaim Yellin führte gestern deutsche Journalisten über das Gelände und zeigte uns die Ruinen zerschossener Häuser: verbrannte Mauern, Kinderspielzeug zwischen Trümmern, Bilder der Opfer an den Wänden. "Hier wurden Yuval und Maayan Bar ermordet", erzählt Chaim in einer Ruine, "sie waren so ein fröhliches, offenherziges Ehepaar. Sie liebten ihre Enkel." Plötzlich sind Detonationen zu hören. "Gaza", sagt Chaim. Dort kämpft Israels Armee gegen die Hamas und tötet dabei auch zahlreiche Zivilisten. Premier Benjamin Netanjahu hat einen weiteren Großangriff angekündigt. Was sagt Chaim dazu? "Immer noch sind sechs Leute aus dem Kibbuz als Geiseln da drüben."
Wir treffen Yuval Haran. Der 38-Jährige ist Deutsch-Israeli. Sein Vater, seine Tante und sein Onkel wurden bei dem Massaker getötet, sieben Familienmitglieder wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt, darunter seine Mutter und seine dreijährige Nichte. Erst 49 Tage später kamen sie im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei. Sein Schwager war bis Anfang 2025 in einem Tunnel eingesperrt, überlebte Folter, Hunger, Todesangst. In einem Interview sagte dieser kürzlich: "Ein neuer Plan zur Ausweitung der Militäroperation in Gaza ist nicht der richtige Weg. Wir dürfen nicht zulassen, dass militärisches Momentum die moralische Klarheit überlagert."
Yuval Haran sieht es ähnlich: "Das Wichtigste ist, dass die Geiseln zurückkehren können. Ob mehr Militärgewalt dabei hilft, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich sicher: Bisher waren Deals der beste Weg. Also macht einen Deal, beendet den Krieg, lasst uns in Frieden leben! Das ist es, was Israel tun sollte. Und Deutschland und der Rest der Welt sollten uns dabei unterstützen."
Zitat des Tages
"Die israelische Regierung muss akzeptieren, dass sie auch eine Verantwortung für die Zivilbevölkerung in Gaza hat – das schließt die Genehmigung zur Lieferung von Hilfsgütern ein."
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, fordert ein Ende des Krieges im Gazastreifen.
Putin kneift
Er kommt nicht: Angriffskrieger Wladimir Putin schwänzt die Ukraine-Verhandlungen in Istanbul und schickt nur einen nachrangigen Berater – obwohl er selbst Ort und Termin vorgeschlagen hat. Der erhoffte Durchbruch zur Anbahnung eines Friedens bleibt aus. Auch US-Präsident Donald Trump bleibt daher wohl fern, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird mit seiner Kompromissbereitschaft wieder einmal allein gelassen. Das Ultimatum von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen an Moskau dürfte damit wirkungslos verstreichen. Putin fühlt sich immer noch stark genug und will weiterkämpfen – so kann man seine Entscheidung deuten. Oder so, dass er Angst vor einem Frieden hat, weil er seinem Volk dann eingestehen müsste, dass er ihm nichts bieten kann außer einer durchmilitarisierten Diktatur im wirtschaftlichen Verfall.
So oder so: Für die leidgeplagten Menschen in der Ukraine und die Soldaten auf beiden Seiten der Front ist die Absage eine Hiobsbotschaft. Dass ein Mann allein so viel Unheil anrichten kann, erscheint ebenso furcht- wie unfassbar.
Ein großer Mensch
Wenige Holocaust-Überlebende haben sich so ausdauernd gegen das Vergessen der NS-Verbrechen und zugleich für Versöhnung eingesetzt wie Margot Friedländer. Als Jüdin von den Nazis ins KZ Theresienstadt verschleppt, emigrierte sie nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA, kehrte aber im hohen Alter in ihre Heimatstadt Berlin zurück, wo sie am vergangenen Freitag mit 103 Jahren gestorben ist. Heute Morgen wird die Bundesverdienstkreuzträgerin auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Der Bundespräsident, der Kanzler und der Regierende Bürgermeister werden erwartet. Der RBB überträgt die Trauerfeier ab 9.50 Uhr live.
Lesetipps
Kanzler Merz hat seine erste Regierungserklärung gegeben. Seine Botschaft an die Deutschen ist groß – und heikel, berichtet unser Chefreporter Johannes Bebermeier.
Hat die schwarz-rote Koalition eine Chance auf Erfolg? Im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke schätzt der Politologe Timo Lochocki die Lage ein.
Das AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes ist brisant: Es belegt die radikale Ideologie der Partei, berichten unsere Rechercheure Annika Leister, Jonas Mueller-Töwe und Malte Bollmeier.
Zum Schluss
Herr Merz hat ein Problem.
Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Annika Leister, am Samstag hören Sie wieder von mir.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter.
Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.
Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier.
Mit Material von dpa.