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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschlands Chance? "Das würde Eindruck auf Trump machen"

Die Regierung ist neu, die Probleme sind gewaltig: Hat die schwarz-rote Koalition eine Chance auf Erfolg in diesen Umbruchzeiten? Politologe Timo Lochocki schätzt die Lage ein.
Die Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler war turbulent, nun muss sich die Bundesregierung zahlreichen inneren und äußeren Herausforderungen stellen: Das Erstarken der AfD und die disruptive Politik von Donald Trump sind nur zwei der drängendsten Probleme.
Kann Deutschland die vielen Krisen bewältigen? Ja, sagt Timo Lochocki. Der Politologe und Autor des Buches "Deutsche Interessen" ist sogar davon überzeugt, dass Deutschland die stärkste Demokratie der Welt werden kann. Im Gespräch analysiert Lochocki, was die Bundesregierung nun tun muss, um unter anderem Donald Trump zu imponieren.
t-online: Herr Lochocki, die Weltlage ist dramatisch. Haben Bundeskanzler Friedrich Merz und seine schwarz-rote Koalition das Potenzial, Deutschland auf die Herausforderungen vorzubereiten?
Timo Lochocki: Das traue ich der Bundesregierung tatsächlich zu, das Potenzial zur positiven Veränderung ist ungleich größer als in vorhergehenden Regierungen. Es mag paradox klingen, aber auf Friedrich Merz kommt es dabei nicht an erster Stelle an.
Sondern?
Die beiden Fraktionsvorsitzenden, Jens Spahn von der CDU und Matthias Miersch von der SPD, haben nun eine enorme Machtfülle. Ja, der Bundeskanzler verfügt über die institutionell stärkste Position, aber beide Fraktionsvorsitzenden der Koalition müssen ihm die Mehrheit verschaffen. Wie knapp die ist, haben wir an der Kanzlerwahl gesehen, für die es zwei Anläufe gebraucht hat.
Ist Merz dadurch bereits beschädigt? Er ist der erste Kanzler der Bundesrepublik, der nicht im ersten Wahlgang gewählt worden ist.
Das muss gar nichts bedeuten. Es hängt doch nun vielmehr davon ab, wie stabil die Bundesregierung agieren wird. Damit sind wir wieder bei den Fraktionsvorsitzenden und den anderen Machtzentren innerhalb der Koalition. Die Bundesminister befinden sich gegenüber den Fraktionsvorsitzenden zudem in einer recht schwachen Position, weil die meisten über keine eigene Hausmacht in ihren Parteien verfügen. Die Sozialdemokraten Lars Klingbeil, Boris Pistorius oder auch Alexander Dobrindt von der CSU gehören zu den Ausnahmen. Tatsächlich wirken die Minister der SPD mächtiger, da sie mehr Hausmacht einbringen. Entscheidend ist aber: Die entscheidenden Personen müssen sich zusammenreißen, um diese Regierung zum Erfolg zu machen.
Zur Person
Timo Lochocki, Jahrgang 1985, ist promovierter Politologe. Lochocki forscht insbesondere zu rechtspopulistischen Parteien und zur Resilienz liberaler Demokratien in Europa. Nach einer Tätigkeit für den German Marshall Fund leitete er das Referat Strategische Planung im Bundesgesundheitsministerium während der Corona-Pandemie. Seit 2022 ist Lochocki als Berater für den Umgang mit antidemokratischen Kräften tätig. Im Januar 2025 ist sein Buch "Deutsche Interessen. Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden – und damit den liberalen Westen retten" erschienen.
Das klingt nach fortwährenden Belastungsproben?
Das muss nicht so sein. Wir befinden uns gerade in der Gemengelage, dass die ganzen ideologischen Positionen zwischen zwei Parteien dieser Couleur größtenteils abgeschliffen sind. Das ist eine ziemlich gute Neuigkeit. Stattdessen wird hoffentlich Pragmatismus die Richtschnur bilden. Ich habe ohnehin große Zweifel daran, dass die schwarz-rote Koalition nun schnurstracks ihren Koalitionsvertrag abarbeiten wird. Immer wieder auftretende Ereignisse und Krisen werden eher das politische Geschehen bestimmen. Da braucht es kühle, überlegte Entscheidungen, keine Ideologie.
Zahlreiche strukturelle Reformen in Deutschland erfordern allerdings Änderungen des Grundgesetzes. Von der notwendigen Mehrheit ist die schwarz-rote Koalition weit entfernt.
So ist es. Stimmen von der AfD würden sich auch schwierig gestalten. Aber mit den Grünen und auch mit der Linkspartei lässt sich reden. Deutschland hat ziemlich Glück, dass es mit der Linkspartei über eine recht moderate Linksaußenpartei verfügt. Ein Jean-Luc Mélenchon in Frankreich ist da weit radikaler.
Nun könnte es aber gerade im Bereich der Migration doch zu heftigen Konflikten kommen? Nicht nur zwischen der Union auf der einen Seite und Grünen wie Linken auf der anderen, sondern auch mit der SPD?
Die CDU unter Merz wird ihr konservatives Profil schärfen wollen, dafür steht auch Fraktionschef Jens Spahn. Das ist richtig, um breite Wählerschichten anzusprechen und die AfD für sie unattraktiver zu machen. Bei der SPD ist die Parteilinke derzeit relativ schwach, das könnte von Vorteil sein. Mit den Grünen und der Linkspartei müssen wiederum Kompromisse geschlossen werden. Bei der Kanzlerwahl hat die Union bereits – wenn auch unfreiwillig – erste Brücken zur Linkspartei gebaut. Sonst hätte Merz im Bundestag am 6. Mai gar nicht zum zweiten Wahlgang antreten können. Die Regierung muss Handlungsfähigkeit demonstrieren, das ist nun entscheidend.
Merz gerierte sich lange Zeit als strikter Verfechter der Schuldenbremse, dann machte er eine Kehrtwende. Wird das seinem Ansehen weiterhin schaden?
Das war sicher keine vertrauensbildende Maßnahme. Aber für Merz lief es doch prima: Noch vor dem Beginn der neuen Bundesregierung waren zwei gordische Knoten durchschlagen, es gibt Geld für die marode Infrastruktur und Geld für die Bundeswehr. Sonst sähe es auch ziemlich düster aus. Zudem hat man sich in der Koalition auf einen Formelkompromiss in Sachen Wehrpflicht geeinigt, sie wird die nächsten Jahre sicher kommen. Für die SPD wird das aber noch mal heikel werden.
Merz hat bislang keine Regierungserfahrung vorzuweisen. Könnte sich das noch als Problem erweisen?
Das hängt von der Lernkurve ab. Da traue ich ihm schon viel zu. Aber vom Kanzler hängt der Erfolg der schwarz-roten Koalition tatsächlich nicht in erster Linie ab. Die Bundesregierung hat viele Machtzentren, dazu gehört der Bundesfinanzminister Klingbeil ebenso wie Jens Spahn und Matthias Miersch als Fraktionschefs.
Der Titel Ihres aktuellen Buches lautet "Deutsche Interessen". Darin skizzieren Sie Wege, wie Deutschland zu einer Führungsmacht der westlichen Demokratien werden könnte. Ist mit der neuen Bundesregierung ein Anfang gemacht?
Deutschland hat nun eine große Chance. Europa wird sehr davon profitieren, dass die neue Bundesregierung pragmatisch und frei von ideologischen Scheuklappen agieren kann. Auch die durch zwei Weltkriege sehr belastete deutsche Geschichte wird eine andere Rolle spielen.
Bitte erklären Sie das.
Das nationalsozialistische Deutschland hat furchtbare Verbrechen begangen, die Bundesrepublik hat sich immer zu ihrer Verantwortung dafür bekannt. Die grundeuropäische Ausrichtung und die gesamte Außenpolitik der Bonner Republik waren eine Antwort auf den Zweiten Weltkrieg. Deutschland muss sich nun dieser Verantwortung weiter stellen, aber auf andere Art und Weise. Bislang hat sich Deutschland trotz seiner gewaltigen ökonomischen Macht selten in den Vordergrund gestellt. Die ruhigeren Zeiten, in denen das möglich war, sind allerdings vorbei. Nun muss Deutschland führen, wir können die stärkste Demokratie der Welt werden. Wir sind jetzt die Guten, wenn Sie so wollen. Deutschland kann die Demokratien dieser Welt anführen in einer Zeit, in der die USA diese Rolle nicht mehr übernehmen wollen.
Ist Friedrich Merz der richtige dafür?
Friedrich Merz ist wie Joe Biden. Merz steht teils in einer politischen Reihe mit den großen Europäern Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble, die wie Joe Biden aus einer Zeit stammten, in der das transatlantische Bündnis stark und unangefochten war. Insofern ist Merz eine gute Figur des Übergangs. Spätere Generationen, Menschen, die in den 80ern, 90ern oder 2000ern geboren worden sind, blicken ganz anders auf die Welt. Eben wie die neuen Machtzentren der Regierung um Klingbeil, Spahn und Miersch. Dem muss die zukünftige Politik Rechnung tragen.
Wie werden die anderen Europäer eine deutsche Führungsrolle sehen?
Die eine begrüßen sie, andere sind skeptisch, weitere lehnen sie ab. So ist das nun einmal bei einer Gemeinschaft so vieler Staaten. Aber die Zeiten sind gefährlich, sie werden auch immer gefährlicher. Deswegen muss etwas getan werden, egal, wer letztlich bei einer Koalition der Willigen mitmacht. Hauptsache, es wird etwas getan. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass viele Europäer es gutheißen, wenn Deutschland sein Potenzial pragmatisch, rational und zielgerichtet für das Wohl des gesamten Kontinents einsetzt. Die Ukrainer begrüßen es ganz sicher, wenn Deutschland sich noch mehr für sie engagiert.
Trotzdem wird es Unmut geben, wenn Deutschland Führung von vorne ausüben wird, wie es der Politologe Herfried Münkler ausdrückt.
Die Friktionen unter den Europäern werden zunehmen, ja. Aber das ist der Preis, den wir zahlen müssen, um mehr Macht für die Europäer in der Welt zu projizieren. Europa muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass es immer einen übergeordneten, supranationalen Kompromiss gibt. Besser, Deutschland führt eine Koalition der Willigen der EU an, als dass wir zu viel Zeit damit vergeuden, einen Minimalkompromiss aller EU-Staaten zu bilden. Die Bedrohung – vor allem durch Russland – ist einfach zu groß. Wir dürfen keine Zeit verplempern.
Donald Trump und seine Administration behandeln Deutschland und Europa mit Geringschätzung. Könnte die Regierung unter Friedrich Merz etwas daran ändern?
Donald Trump dürften wir relativ egal sein. Für die amerikanische Regierung ist Deutschland nicht viel mehr als eine europäische Mittelmacht. Wenn Trump die Welt als ein Schachspiel betrachtet, ist Deutschland wohl ein Bauer auf dem Feld. Bestenfalls noch ein Springer. Das lässt sich nur ändern, wenn Deutschland aus einer starken Position der US-Regierung effektiven, strukturellen Widerstand über längere Zeit leistet. Dann nimmt Trump uns ernst.
Wie soll das gelingen?
Trump und seine Leute verprellen alte amerikanische Verbündete rund um den Globus. Wir sollten dafür sorgen, dass die Verprellten nicht in Pekings Arme laufen, sondern in unsere. Das würde Eindruck auf Trump machen. Beginn aller Bemühungen muss es aber sein, dass wir zu Hause unsere Hausaufgaben machen. Da geht es um die Wehrpflicht, eine Reform der Eurozone und vor allem um ein Migrationsregime, das zugleich die Bundesbürger wie die europäischen Nachbarn mittragen.
Herr Lochocki, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Timo Lochocki via Telefon