t-online - Nachrichten fΓΌr Deutschland
Such IconE-Mail IconMenΓΌ Icon

MenΓΌ Icont-online - Nachrichten fΓΌr Deutschland
Such Icon
HomePanoramaWissenGeschichte

Erster Weltkrieg war vermeidbar: "Europa hat sich verzockt"


Erster Weltkrieg war leicht vermeidbar: "Europa hat sich verzockt"

t-online, Marius Blume

10.03.2014Lesedauer: 7 Min.
Fast zehn Millionen Soldaten fielen dem Ersten Weltkrieg zum Opfer, niemand hatte solch ein Ausmaß von Tod und Zerstârung vorhergesehen
Fast zehn Millionen Soldaten fielen dem Ersten Weltkrieg zum Opfer, niemand hatte solch ein Ausmaß von Tod und Zerstârung vorhergesehen (Quelle: imago-images-bilder)
Facebook LogoTwitter LogoPinterest LogoWhatsApp Logo

Weit mehr als 25.000 Publikationen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs haben die Debatte nicht beendet. Zum hundertjΓ€hrigen Gedenken lebt sie sogar neu auf. Der in London lehrende deutsche MilitΓ€rhistoriker SΓΆnke Neitzel erfΓ€hrt das auch im Alltag: β€žWenn ich mit meinem serbischen Kollegen beim Mittagessen leidenschaftlich Argumente austausche, stellt sich mitunter die Frage: Reden wir ΓΌber den gleichen Krieg?β€œ Mit T-Online.de hat der Weltkriegsexperte unter anderem ΓΌber die Schuldfrage gesprochen. Eine Zeitmaschine wΓ€re hilfreich gewesen, sagt Neitzel und versteht, dass nach wie vor nationalistisch getrommelt wird.

Das Interview fΓΌhrte Marius Blume

Ist die These der deutschen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg noch haltbar? Der amtierende britische Bildungsminister Michael Gove glaubt offenbar daran. Aber hatte nicht sein Land ebenso wie Russland, Γ–sterreich-Ungarn und Frankreich deutlich handfestere GrΓΌnde, Krieg zu fΓΌhren?

Niemand hatte einen handfesten Grund fΓΌr einen Krieg. Aber es entstand eine durch Hypernationalismus und Sozialdarwinismus genΓ€hrte fatale Konstellation. Als der Globus aufgeteilt war, richtete sich der Blick wieder auf Europa. Krieg erschien bald zumindest wahrscheinlich und war eine anerkannt legitime Form der Politik.

Die GroßmΓ€chte ließen sich bewusst auf ein Vabanquespiel ein und hofften, dass ein Akteur nachgeben, sich schon eine LΓΆsung finden lassen wΓΌrde. Die fiel dann militΓ€risch aus, und der alte Kontinent verlor seine weltbeherrschende Stellung. Mit Beschwichtigungspolitik hΓ€tte man den Ersten Weltkrieg freilich leicht verhindern kΓΆnnen. Zu Gove: Er ist ein Tory – da wundert es mich nicht, dass er ein nationales Narrativ verbreitet.

Warum hat Christopher Clarks β€žDie Schlafwandlerβ€œ auch bei uns so einen Erfolg? Musste ein Angelsachse aussprechen, was viele Deutsche umtreibt?

Clark wird ja ganz unterschiedlich gelesen. Ich habe nach der LektΓΌre gedacht: Eigentlich hat er recht. Nur hΓ€tte sein Buch β€žThe Gamblersβ€œ heißen mΓΌssen: Meines Erachtens hat Europa sich verzockt.

Hat die Entente Cordiale zwischen den Erbfeinden England und Frankreich Deutschlands verhΓ€ngnisvolle Isolation besiegelt?

Die Deutschen haben selbst zu ihrer Isolation beigetragen und schon im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Zwei- und Dreibund das Machtgleichgewicht ihrerseits gestΓΆrt. Zudem: Die Entente fiel nicht vom Himmel. Das brΓΌske deutsche Auftreten in den beiden Marokkokrisen war ein wesentlicher Grund fΓΌr die enge Kooperation von Briten und Franzosen.

Die Triple Entente mit Russland ist wiederum aber auch ein wichtiger Faktor fΓΌr die Destabilisierung des internationalen Systems. Sie trug ganz erheblich dazu bei, dass Deutsche und Γ–sterreicher sich in die Ecke gedrΓ€ngt fΓΌhlten.

War das Attentat auf Franz Ferdinand ein willkommener Anlass oder hΓ€tte der Krieg ebenso gut durch die Marokko- und Balkankrisen ab 1905 ausbrechen kΓΆnnen?

Ohne Frage sorgten schon die beiden Balkankriege 1912/13 fΓΌr eine weitere VerschΓ€rfung der Lage. Wenn Belgrad mit Wien auf Konfrontationskurs gegangen wΓ€re, hΓ€tte bereits damals eine verhΓ€ngnisvolle Ereignisfolge eintreten kΓΆnnen. FΓΌr mich war es zwar nicht unvermeidlich, aber auch kein Wunder, dass die Welt 1914 wieder kriegerisch wurde.

Es grenzt ob der allerdilettantischsten Vorbereitungen aber an ein Wunder, dass der AttentΓ€ter Gavrilo Princip erfolgreich war. Es gibt Deutungsmuster, die sagen, dass der Kriegsausbruch Zufall war. So weit wΓΌrde ich freilich nicht gehen. FΓΌr mich lag der Krieg in der Luft.

Das Wiener Ultimatum an Belgrad galt als unannehmbar. Hat die demutsvolle Antwort der Serben die Donaumonarchie konsterniert, weil dies einen gerechten Krieg verhinderte?

Serbien zu provozieren, war der letzte Versuch fΓΌr einen legitimen Krieg. Nur, wenn ein BΓΆsewicht auftritt, greift in der Logik des gerechten Krieges das ius ad bellum. NatΓΌrlich waren die Γ–sterreicher nun entschlossen, Krieg zu fΓΌhren – einen lokalen. Wenn Briten, Franzosen und Russen Γ–sterreich-Ungarn das Recht absprachen, sich gegen das serbische Streben und die serbische Verwicklung in das Attentat zu behaupten, dann behandelten sie Γ–sterreich-Ungarn ungerechtfertigt als Großmacht niederen Ranges.

Auf der anderen Seite hatte Serbien seinerseits jedes Recht, seinen großserbischen Traum verwirklichen zu wollen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. konstatierte aufgrund der serbischen Depesche eher erleichtert, dass wohl noch nie ein Land so zu Kreuze gekrochen und der Kriegsgrund damit erledigt sei.

Offenbar waren die StreitkrΓ€fte auch im Sommer 1914 noch nicht auf einen FlΓ€chenbrand vorbereitet. Sie sprechen von planlosen Deutschen.

Als die Stunde gekommen war, hatte Deutschland noch gar keine Kriegsziele ersonnen. Und es gab keinen Masterplan, nicht einmal eine Defensivstrategie, sondern nur die Empfehlung von Generalstabschef Moltke. Die basierte auf einem Plan seines VorgΓ€ngers Schlieffen.

Danach sollte zuerst Frankreich in einer Zangenbewegung rasch geschlagen werden. Der Zweifrontenkrieg wΓ€re verhindert worden, und man hΓ€tte sich gegen Russland wenden kΓΆnnen. Der Plan fΓΌhrte an den RealitΓ€ten vorbei, und die misslungene AusfΓΌhrung machte ihn noch schlechter.

Weder die staatlichen noch die militÀrischen Akteure ahnten das infernale Ausmaß von Tod und Zerstârung. HÀtte eine bessere EinschÀtzung etwas an der Eskalation Àndern kânnen?

Ich glaube, ja. Wenn die Verantwortlichen in einer Zeitmaschine nach Verdun oder an die Somme hΓ€tten reisen kΓΆnnen, wΓ€re es wohl nicht so weit gekommen. Man darf davon ausgehen, dass die StaatsmΓ€nner – damals schon bedeutender als die Monarchen – anders gehandelt hΓ€tten.

β€žBis Weihnachten seid Ihr wieder daheimβ€œ, war das Versprechen. Wer glaubte daran, und warum brach die Moral nicht?

Man stellt sich das immer so leicht vor. Aber abgesehen davon, dass Strukturen und Werte nicht aus heutiger, sondern aus damaliger Sicht zu betrachten sind, sprechen wir im Falle des militΓ€rischen Verbunds von einer totalen Organisation. Der Soldat tut das, was ihm befohlen wird. Das gilt auch fΓΌr die Offiziere.

Nach Hause gehen ist keine Option. Meutereien oder Desertionen finden eher selten, und wenn, dann nicht an der Front sondern in der Etappe statt – im Streit um UrlaubsansprΓΌche und dergleichen, aber nicht im Gefecht. Das lΓ€sst sich nur durch Befehl und Gehorsam fΓΌhren.

Allerdings sind die intrinsisch motivierten Soldaten, die sich wie Ernst JΓΌnger von Berufung und Kameradschaft leiten lassen, von der Mehrzahl der MitlΓ€ufer zu unterscheiden. Beispiele wie der Weihnachtsfrieden an der Westfront 1914 zeigen aber auch, obwohl sich so etwas nicht wiederholte, dass die zwischenmenschliche Moral selbst im Krieg trotz der Propagandawirkung und trotz des Hasses nicht vollends verloren ging.

Loading...
Loading...
Loading...

Viele empfinden den Jubel nach der deutschen KriegserklÀrung heute als verstârend. Aber das war eine aus damals legitimen Idealen geborene Haltung, die außerdem lÀngst nicht für alle Bürger galt. Wird die Gesellschaft des Kaiserreichs zu Unrecht kollektiv verdammt?

Der Erste Weltkrieg wird von der heutigen Gesellschaft, schon aufgrund der PrÀgung durch den Zweiten Weltkrieg, natürlich anders gesehen als damals. Für Politiker und MilitÀrs war Krieg selbstverstÀndlich, und die Menschen dachten nicht an grausame, zersetzende vorherige Kriege wie die Napoleonischen, sondern an die kurzen Feldzüge von 1859, 1866 und 1870/71. Die Gefühlswelt in der Juli-Krise ist von der im August, zur KriegserklÀrung, zu unterscheiden. Über diese jubelten hauptsÀchlich Bürger, Studenten und Schüler.

Wiederum retrospektiv wurde mit dem Kaiserreich spΓ€ter lange Zeit ausschließlich eine bestimmte politische Ausrichtung assoziiert – geprΓ€gt von widerlichen Konservativen und Nationalliberalen. Aber so einfach ist es nicht. Inzwischen haben wir eine weit vielfΓ€ltigere, offenere Vorstellung vom Kaiserreich, dessen einfache BΓΌrger, Arbeiter sowieso, Politiker und Intellektuelle keineswegs allesamt Kriegstreiber waren. Im Krieg jedoch war der nationale Gedanke schichtΓΌbergreifend bestimmend.

Ein in den Kabinettskriegen ΓΌblicher Ausgleich war nicht mehr mΓΆglich, nachdem die Fronten erstarrt waren. Es ging um den Kampf Gut gegen BΓΆse, das kriegerische Germanentum gegen das perfide Albion – England. Massive Propaganda von unten und oben erhitzte die GemΓΌter.

Das Empire sah in den Deutschen keine echte Bedrohung seiner Weltmacht. Warum also investierten die Briten so viel, und wann wurde die deutsche StΓ€rke nicht mehr unterschΓ€tzt?

Der entscheidende Wandel der britischen Wahrnehmung und Politik ist meines Erachtens mit dem Wahlsieg der Liberalen 1906 verbunden. Außenminister Edward Grey trieb dann die Abkehr von der bündnisfreien splendid isolation weiter voran. Bis zur Gründung der Triple Entente gingen die Briten davon aus, unweigerlich Krieg gegen das Zarenreich und oder Deutschland führen zu müssen.

In der Tat wurde das Deutsche Reich nicht als Bedrohung, aber als aggressiver StΓΆrfaktor empfunden. Dabei durchstieß zwar beispielsweise die deutsche Bagdad-Bahn englische Gebiete im Orient, aber was sollte sie denn anrichten? Die Briten hΓ€tten genauso gut sagen kΓΆnnen: Baut sie bis Basra – macht doch, was Ihr wollt. Doch Grey und andere nutzten vor allem die Flottenpolitik, um eine Angst vor dem deutschen Gespenst und dessen angeblichen InvasionsplΓ€nen zu schΓΌren.

London hÀtte Berlin als Juniorpartner akzeptiert, gestand ihm aber keine eigenen Weltmacht-Ambitionen zu. Letztlich ließ Großbritannien es 1914 ohne Not aus einem Überlegenheitsgefühl heraus auf die Konfrontation ankommen.

Zum hundertjΓ€hrigen Gedenken wollen die Serben sich reinwaschen: Politiker, Medien, Historiker ereifern sich ultranationalistisch ΓΌber die Schuldfrage. Wie ist das einzuordnen?

Als sehr nachvollziehbar. Sie und ich haben, jeder Akteur hat subjektive Sinnstiftungen. Wir wollen als nett und positiv wahrgenommen werden – trotz manch unebener Seiten. Es ist doch sehr verstΓ€ndlich, dass der AttentΓ€ter Princip in Serbien zum Nationalhelden stilisiert wird. So etwas stiftet IdentitΓ€t. Ich warne davor, als Historiker oder BΓΌrger zu sagen: Wie kΓΆnnen die nur? Jede Nation entwickelt ihre ganz eigenen MeistererzΓ€hlungen.

Selbst wenn wir einen Dritten Weltkrieg ausschließen, gibt es noch viele Brandherde. Herfried MΓΌnkler erkennt in den Jugoslawienkriegen und aktuell dem chinesisch-japanischen Inselstreit Konstellationen, die 1914 fatale Folgen hatten – und erneut haben kΓΆnnten?

Seinen Vergleich mit China finde ich sehr interessant. DΓΌrfen wir den Chinesen wirklich einen eigenen Handlungsspielraum als internationale Macht verwehren? Aus chinesischer Sicht stellt sich vielleicht eher die Frage: Warum fliegen amerikanische B-52-Bomber ΓΌber tausende Kilometer von US-Territorium entfernte Inseln?

Sollen sie diese Inseln doch beanspruchen, vielleicht macht das die Welt sicherer. Ich glaube nicht, dass die Chinesen Australien erobern und dort ihre Fahne pflanzen wollen. Auch, dass Putin das russische Narrativ alter StΓ€rke und westlicher Einflussnahme transportiert, erscheint mir nicht verwunderlich.

Der renommierte MilitΓ€rhistoriker SΓΆnke Neitzel hat den Lehrstuhl fΓΌr Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science inne. Grundlegende Werke wie "Weltmacht oder Untergang", "Blut und Eisen" oder "Weltkrieg und Revolution" unterstreichen das Fachwissen des 45-jΓ€hrigen gebΓΌrtigen Hamburgers.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

t-online - Nachrichten fΓΌr Deutschland


TelekomCo2 Neutrale Website