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Archäologie: Warum unsere Vorfahren Moorleichen und Mumien verzehrten


Warum unsere Vorfahren Moorleichen und Mumien verzehrten


17.03.2019Lesedauer: 6 Min.
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Der sogenannte Tollund-Mann aus Dänemark: Mittels moderner Technik ermitteln Forscher neue Details über die Moorleichen.Vergrößern des Bildes
Der sogenannte Tollund-Mann aus Dänemark: Mittels moderner Technik ermitteln Forscher neue Details über die Moorleichen. (Quelle: Martin Werner/imago-images-bilder)

Moorleichen sind wichtige archäologische Funde. Vor nicht allzu langer Zeit dienten sie allerdings einem anderen Zweck. Die Menschen verzehrten sie: Um Zipperlein zu heilen und Lust zu entfachen.

Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus recht drastisch davon, mit welchen Methoden die Germanen Deserteure und Feiglinge bestraften: "Verräter und Überläufer hängt man an einen Baum; Feigheit, Weichheit und widernatürliche Unzucht wird bestraft, indem man den Schuldigen mit übergeworfenem Flechtwerk in Morast und Sumpf versenkt."

Lange galt diese Textstelle aus Tacitus' Werk "Germania" als Erklärung für die Moorleichenfunde Nordeuropas: allesamt unehrenhaft im Sumpf versenkte Schwächlinge. Erst als nach und nach klar wurde, dass zu den Mooropfern nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder zählten, und dass auch Leichen in Mooren deponiert wurden, schon lange bevor und noch lange nachdem es Germanen gab, regten sich Zweifel an dieser These.

Unterleib weggeworfen

Eine Moorleiche, auf die das Tacitus-Zitat auf den ersten Blick zutreffen könnte, ist der Mann von Obenaltendorf. Im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde er im Moor versenkt, allein, weit ab von jeder Siedlung. Doch auf den zweiten Blick kommen Fragen auf. Wenn er tatsächlich als Feigling, Weichei oder Unhold entsorgt wurde, warum bestatteten ihn seine Mörder dann so sorgfältig, statt ihn einfach in ein Loch zu werfen? Was erzählt weiterhin seine fremdländische Kleidung über sein Leben? Und ist das, was mit seinem Leichnam nach der Entdeckung geschah, nicht am Ende ein viel schlimmeres Schicksal als der Tod im Moor?

Am 24. Mai 1895 stieß ein Arbeiter beim Torfstechen im Kehdinger Moor zwischen Elb- und Ostemarsch mit seinem Spaten auf einen Körper. Er hielt das Ding zunächst für ein verendetes Tier und warf die untere Hälfte beiseite. Erst als sich beim nächsten Stich Kleidung und Haare am Spaten verhedderten, wurde er stutzig. Zum Glück war es nicht weit bis zum Schulhaus von Obenaltendorf. Lehrer Meyer interessierte sich sehr für die Geschichte des Moores, überließ seine Schüler sich selbst und eilte aus dem Unterricht sofort zur Fundstelle.

"Ich merkte sofort, dass man es hier mit einem geschichtlichen Funde zu tun hatte", merkt Lehrer Meyer in seinem Fundbericht an. Doch mit einer Moorleiche wollte niemand im Dorf etwas zu tun haben. "Kein Mensch war zu bewegen, mir dabei behilflich zu sein, und so habe ich alles eigenhändig aus dem Moore wieder hervorgraben müssen. Tagelang bin ich dabei beschäftigt gewesen, die zerschnittenen Kleidungsstücke bis auf den letzten Lappen zusammen zu finden", klagt Meyer.

"Besonders gut erhalten war das Haar"

Detailliert beschreibt er seinen Fund: "Alle von der Haut umschlossenen Teile, auch Knochen, hatten sich zu einer weißen, mehligkörnigen Masse verwandelt. Besonders gut erhalten war das Haar, auch der Bart, aus letzterem Stücke schließe ich auf eine männliche Leiche. Das Haar war tiefblond, fast rötlich. ... Eines will ich nicht vergessen zu erwähnen, es fanden sich in der Moorschicht unmittelbar um die Leiche Pflanzenteile wie Heidereste und dergleichen, die sich sonst in der Tiefe nicht vorfinden, und zudem zeigten die Pflanzengewebe teilweise nach unten statt nach oben."

Was tun mit den Funden? Am 11. Juni kaufte Uhrmachermeister Jarck, Leiter des Museums in Stade, Lehrer Meyer die Schuhe, die Kleidung und die zwei kleinen silbernen Schmuckanhänger ab, die dieser bei der Leiche gefunden hatte. Für den Körper, der mit fast zwei Metern einem ungewöhnlich großen Mann gehört haben musste, hatte er jedoch keine Verwendung. Immerhin fragte er aber beim Museum Hannover an, ob dort Interesse bestünde. Ein gewiefter Apotheker war aber schneller: "Hinsichtlich der Skelettknochen … muss ich vermerken, dass das Skelett inzwischen an einen Händler verkauft wurde. Es wird zu Mommipulver verarbeitet", berichtete er dem Museum wenig später.

Mumienpulver als Aphrodisiakum

Der Handel mit getrockneten Leichen – zwar vornehmlich aus Ägypten, aber wenn an denen gerade Mangel herrschte taten es auch die heimischen Kadaver aus dem Moor – florierte in jenen Jahren. Jeder gut sortierte Apotheker hatte eine davon in seinem Hinterzimmer liegen und schnitt bei Bedarf dem Kunden ein Stück davon ab, zermalmte es zu Pulver und füllte es ihm in ein Tütchen. Die Nachfrage war groß, denn Mumienpulver galt als eine Art Allheilmittel. Schon in seiner 1574 geschriebenen Abhandlung "Consens Der fürnembsten, beide Alten vnnd Newen Historienschreiber, auch Medicorum, von etlichen köstlichen hochnötigen fremden Artzneien" listet der Frankfurter Arzt Joachim Strupp 21 Leiden auf, bei denen aus "Mumia", also Mumien, gewonnene Arzneien Abhilfe schaffen sollen.

Die Bandbreite ist erstaunlich, sie reicht von Husten und Halsweh über Schwindel, Gichtbrüchigkeit und Herzweh bis zu Zittern, Nierensucht und Kopfschmerzen. Die kleinen Zipperlein werden aber von vielen Kunden nur vorgeschoben worden sein, um das bräunliche Pulver zu erwerben. Denn vor allem galt es als äußerst wirksames Aphrodisiakum. Noch 1924 konnte man "Mumia vera aegyptiaca" über den Katalog des Chemie- und Pharmaproduzenten Merck in Darmstadt ordern. Der Preis für ein Kilo: 12 Goldmark.

Durch Bombe zerstört

Immerhin landeten einige Körperteile des Mannes von Obenaltendorf doch eingelegt in Formaldehyd in der Preußischen Moorversuchsstation in Bremen – wo sie leider im Zweiten Weltkrieg durch eine Bombe vernichtet wurden. Heute liegen nur noch der Haarschopf mit einem Stück der Kopfhaut und die Kleidung des Toten im Museum Schwedenspeicher in Stade.

In den frühen 1980er-Jahren sah sie hier der Moorleichenforscher Alfred Dieck. Der galt als Koryphäe seines Faches: In mehr als 180 Aufsätzen und Publikationen beschrieb er im Laufe seines Lebens an die 1.850 Moorleichenfunde aus ganz Europa. Erst als er 1989 starb und jüngere Kollegen sich mit seinem Nachlass beschäftigten, fiel auf, dass viele von ihnen frei erfunden waren. Heute gehen die Forscher von etwa 1.000 Funden aus.

Diecks Aufsatz zum Mann von Obenaltendorf gehört zwar zu jenen Werken, die tatsächlich eine reale Moorleiche beschreiben. Trotzdem lag der Forscher bei seiner Deutung der Funde weit daneben. Er folgerte, dass die Kleidung von Frauen im Mündungsgebiet zwischen Weser und Elbe gefertigt wurde. Möglicherweise, spekuliert er, stellte den Stoff für die Hose sogar die Tochter des Toten her, da er durchsetzt ist von vielen kleinen Webfehlern.

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Ähnlich hatte man es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits im Provinzialmuseum Halle vermutet, wo der Bildhauer Heinrich Keiling eine Rekonstruktion des Mannes in seiner Kleidung als Bronzestatue schuf. Der Tote aus dem Kehdinger Moor galt als Vorzeigeobjekt für die nationalsozialistisch verbrämten Theorien zur "Ahnenforschung".

Gekleidet wie ein Römer

Dieck und Keiling aber lagen meilenweit daneben. Heute wissen wir, dass der Mann von Obenaltendorf ganz gewiss keine Kleidung aus heimischer Familienproduktion trug – sondern in italienische Mode gekleidet war. Hemd, Hose und der Mantel, in den er gewickelt war, weisen eine Reihe von technischen Besonderheiten auf, die für die Region völlig untypisch sind – aber im 3. Jahrhundert der letzte Trend in römischen Gebieten.

Seine überdurchschnittliche Körpergröße und seine blonden Haare lassen zwar wenig Zweifel daran, dass der Tote tatsächlich Germane war. Doch gekleidet hatte er sich wie ein Römer. Woran er letztendlich starb, war nicht auf ersten Blick ersichtlich. Lehrer Meyer beschrieb keine Wunden oder Spuren schwerer Folter, wie sie vor allem bei Moorleichen aus Irland häufig vorkommen.

Am Ende jedenfalls wickelte jemand den Toten sorgsam in seinen italienischen Mantel, bettet ihn auf die Seite in eine Grube im Moor und bedeckte den Körper nicht wie bei Tacitus beschrieben mit einem Flechtwerk aus Ästen, sondern mit schweren Soden, damit kein Tier ihn wieder hervorzerren würde – davon zeugt das umgedrehte Heidekraut, das Lehrer Meyer beschrieb.


"Die Moorleiche aus Obenaltendorf gehört sicherlich zu den Highlights in unserer aktuellen Dauerausstellung", sagt Sebastian Möllers, Direktor der Museen Stade. "Leider ist sie auch ein Beispiel dafür, wie zu Beginn der archäologischen Forschungen mit solchen Funden umgegangen wurde. Kaum vorstellbar, dass man am Landesmuseum in Hannover damals kein Interesse an dem Fund hatte.

Umso erfreulicher ist es, dass die Überreste dennoch zahlreiche Informationen in sich tragen, die wir heute entschlüsseln können. Moderne Analyseverfahren führen immer wieder zu neuen Erkenntnissen, auch an sehr alten Fundstücken. Wer hätte gedacht, dass eine Moorleiche des 3. Jahrhunderts aus dem Elbe-Weser-Dreieck italienische Mode trägt?!"

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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