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Gorbatschows 90. Geburtstag: Held in Deutschland, von Russen verschmäht


Michail Gorbatschow
In Deutschland ein Held, von den Russen verschmäht

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 02.03.2021Lesedauer: 4 Min.
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Der ehemalige Staatsmann: Michail Gorbatschow bei einer Veranstaltung 2015Vergrößern des Bildes
Der ehemalige Staatsmann: Michail Gorbatschow bei einer Veranstaltung 2015 (Quelle: imago-images-bilder)

Die Deutschen sind Gorbi bis heute dankbar, weil es ohne ihn keine Einheit gegeben hätte. Doch in seiner Heimat wird der ehemalige sowjetische Präsident verschmäht wie nur wenige andere. Wie kam es zu dem Absturz?

Meine Landsleute sagen gerne: "In Russland muss man lange leben, um Veränderungen zu sehen." Nicht jeder schafft das, ein langes Leben ist in Russland keine Selbstverständlichkeit, besonders für jemanden, der dieses große Land zu regieren hat.

Michail Gorbatschow hat es geschafft. Er kann als das langlebigste Oberhaupt Russlands ins Guinness Buch der Rekorde eingetragen werden. Er würde Alexander Kerenski ablösen, der als Chef der Übergangsregierung nach der Oktoberrevolution einige Monate lang die Geschicke Russlands leitete, sich später erfolgreich in den Westen absetzte und mit 89 Jahren in Amerika verstarb. In der Regel schaffen es die Führungskräfte in Russland nicht, in Rente zu gehen, sie sterben früher.

Sie werden im eigenen Land geehrt und im Ausland verschmäht. Michail Gorbatschow ist eine Ausnahme. Er hatte als Generalsekretär und erster Präsident der Sowjetunion Russland sehr schnell und unumkehrbar verändert und wurde im Westen viel beliebter als in seiner Heimat.

Viele meiner Landsleute geben ihm die Schuld an dem Zerfall des großen Imperiums, sein Konzept von "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" – einem Gesicht, das nach außen milde lächelt, nach innen aber weiter grimmig guckt – weckte falsche Hoffnungen, die in bitterer Enttäuschung mündeten. Vor allem seine naive, zu kurz gedachte und schlecht organisierte Anti-Alkohol-Kampagne hatte für Unmut gesorgt und das halbe Land auf die Palme beziehungsweise auf die Birke gebracht.

Er konnte lächeln und musste nicht vom Zettel ablesen

Gorbatschow kam 1985 an die Macht. Ich diente damals als Soldat des zweiten Verteidigungsrings der Moskauer Raketenabwehr. In der Armee bekamen wir von seiner Umbaupolitik, von Perestrojka und Glasnost, nichts zu spüren. Nur die erzwungene Nüchternheit der Offiziere und Fähnriche sorgte für miese Laune im Armeekollektiv.

Unser Raketenabwehrkomplex "Eichhörnchen", zum Abschießen von tieffliegenden Zielen gedacht, in erster Linie von schweren amerikanischen Bombern des Typus B52, war mitschuldig an der Landung von Mathias Rust auf dem Roten Platz gewesen, weil diensthabende Offiziere gerade im naheliegenden Dorf statt mit dem Blick auf die Radare damit beschäftigt waren, die alkoholische Versorgungslücke zu schließen. Man könnte sagen: Dank Gorbatschow konnte Mathias uns damals entkommen.

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko".

Auch Gorbatschows Schweigen während der Tschernobyl-Katastrophe hatte Zweifel an seiner Ehrlichkeit hinterlassen. Ausgerechnet derjenige, der sich für Glasnost in der Politik und für die freien Medien einsetzte, versuchte die Wahrheit über die Reaktorkatastrophe zu vertuschen.

Er hatte Fehler gemacht. Und trotzdem war und bleibt Gorbatschow der herausragendste Politiker Russlands, weil seine Politik für Veränderungen sorgte. Und wir sehnten uns nach Veränderungen. Wir lebten in einem Land, in dem seit einer Ewigkeit nichts los war. Unsere Nachrichten bestanden nur aus Berichten über Milcherträge und Weizenernte, aus Eishockey und Wetterprognosen. Ab und zu flogen die Raketen ins Weltall, die Kosmonauten winkten uns vom Fernsehbildschirm zu. Manchmal heiratete irgendein Schauspieler, oder ein Balletttänzer kehrte vom Gastspiel im Westen nicht zurück.

Mit anderen Worten: Es war nichts los im großen Land.

Bis eines Tages Gorbatschow kam.

Er konnte lächeln. Er konnte sprechen, ohne vom Zettel ablesen zu müssen. Er konnte Treppen steigen, was für die sowjetische Führung keine Selbstverständlichkeit war. Der erste Witz über ihn ging so: "Wer stützt Gorbatschow? Niemand, er läuft von allein."

Und er hatte eine sehr schöne Frau, so etwas wie eine First Lady gab es in der Sowjetunion vorher nicht. Anders als ihre Vorgängerinnen achtete sie auf ihr Äußeres, trug ausgewählte Kleider und Handtaschen, hatte Make-up aufgelegt und eine Frisur, die für kurze Zeit sogar heftig in Mode kam. Die russischen Frauen ließen sich in den Friseursalons die Haare à la Raisa schneiden.

Gorbatschows Abgang als Präsident war ebenfalls äußerst ungewöhnlich. Nachdem die Russische Föderation unter der Führung von Boris Jelzin als erste Republik ihre Unabhängigkeit erlangte und aus der Sowjetunion austrat, wurde der einst so mächtige Mann zum Präsidenten eines Landes, das es nicht mehr gab.

Er hätte damals noch das politische Lenkrad an sich reißen und versuchen können, mit Gewalt die Machtübergabe zu verhindern. So hätten es die anderen Herrscher Russlands vor ihm bestimmt getan. Doch Gorbatschow legte sein Amt nieder und ging als freier Mann.

Als solcher machte er ebenfalls viel Blödsinn, zum Beispiel Werbung für Pizza Hut, er saß mit seiner Enkelin in einer Pizzeria in Moskau und zeigte, was für tolle westliche Errungenschaften dank ihm nach Russland kamen. Pizza Hut eben. Dabei hat er die Pizza nicht gegessen, sondern nur genickt.

Noch schlimmer war die Werbung für Louis Vuitton

Diese Werbung kam beim Volk nicht gut an. Viele Menschen in Russland hatten Schwierigkeiten mit der turbokapitalistischen Entwicklung ihrer Heimat, sie fühlten sich von dieser kollektiven westlichen "Pizzeria" ausgenommen und bedroht.

Noch schlimmer fanden die Russen Gorbatschows Werbung für Reisetaschen von Louis Vuitton. Auf unzähligen Fotos konnte man Gorbi mit diesen bodenlosen riesigen Taschen sehen. So, als hätte er halb Russland eingepackt und nun zum ewigen Wandern verdammt. In der Wahrnehmung des Volkes waren es Frauentaschen. Die Vorstellung, ihr ehemaliger Präsident würde mit einer Frauentasche durch die Gegend spazieren, machte die Menschen wahnsinnig.

Ja, er hat Fehler gemacht, wer nicht?

War er vielleicht zu freundlich, zu blauäugig dem hinterhältigen Westen gegenüber? Er wollte allen gefallen und wurde letzten Endes von allen verschmäht.

Heute, mit 90 Jahren steht Gorbatschow wie ein lebendes Beispiel für seine Nachfolger, die jetzigen und zukünftigen Herrscher Russlands, als möchte er sagen: Leute! Es gibt ein Leben nach dem Amt. Man kann auch als Rentner glücklich sein, ein erfülltes, gesundes, spannendes Leben haben.

Gorbatschow wird bestimmt noch 100 Jahre alt. Das sei ihm gegönnt.

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