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Amoktat bei Zeugen Jehovas in Hamburg: Hebelt Behördenfehler das Waffengesetz aus?


Nach Amoklauf in Hamburg
Tödlicher Sparzwang hebelt Waffengesetz aus


Aktualisiert am 15.03.2023Lesedauer: 5 Min.
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Hamburgs Innensenator Andy Grote (links) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg: Beide fordern eine Verschärfung des Waffenrechts.Vergrößern des Bildes
Hamburgs Innensenator Andy Grote (links) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg: Beide fordern eine Verschärfung des Waffenrechts. (Quelle: Georg Wendt/dpa)

Nach der Amoktat gegen Zeugen Jehovas mehren sich die Forderungen nach einem schärferen Waffenrecht. Doch die Probleme, die Leben kosten, liegen an anderer Stelle.

Acht Tote und mehrere Schwerverletzte: Das ist die Bilanz des Amoklaufs vom vergangenen Donnerstag in Hamburg. Begangen mit einer legalen Sportpistole, für die Philipp F. seit dem 6. Dezember die Erlaubnis besaß. Nur wenige Wochen vor dem Amoklauf in Hamburg ließ Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am 10. Januar im "Morgenmagazin" des ZDF eine regelrechte Bombe platzen in der Debatte um ein schärferes Waffenrecht, die bisher weitgehend unbeachtet blieb. Ohne zu zögern räumte sie ein, dass die tatsächliche Ursache für die Versäumnisse im Waffenrecht in der personellen und finanziellen Ausstattung der verantwortlichen Behörden liege.

Faeser sagte: "Wir haben auch eine Frage der Umsetzungsschwierigkeiten, nämlich der stärkeren Kontrolle durch Waffenbehörden. (…) Es gab eine ganze Zeit lang, wo alle in Deutschland immer nur sparen wollten, gerade bei der öffentlichen Verwaltung, und das sind die Folgen davon, wo man einfach sagen muss: Das war nicht richtig."

Ein Sparzwang, der immer wieder zu gefährlichen Lücken beim Vollzug des Waffengesetzes führte und bisher Dutzende Tote verursacht hat.

Auch beim Täter von Hanau regte sich die Behörde nicht

Fast zu genau jener Zeit, als 2020 die letzte Novelle des Waffenrechts im Bundestag diskutiert wurde, tötete der psychisch kranke Tobias R. am 19. Februar in Hanau bei einem rassistischen Attentat neun Menschen mit Migrationshintergrund und erschoss sich selbst. Zuvor hatte er auch seine Mutter mit einer legalen Pistole erschossen.

Obwohl die psychische Wahnerkrankung des Täters bei den Behörden hinlänglich bekannt gewesen war, fühlte sich wohl niemand dafür zuständig, die Waffenbehörde einzuschalten und den Entzug der Waffenbesitzkarte zu gewährleisten. Dabei hätten es alle Behörden problemlos feststellen können: Nicht nur im Nationalen Waffenregister war Tobias R. seit 2012 vermerkt, auch bei einer einfachen Abfrage im Melderegister sind Besitzer einer legalen Waffe mit einem "W" erkennbar gemacht. Es hatte die Verantwortlichen jedoch wohl nicht interessiert.

Ausgestellt worden war die Waffenbesitzkarte des Hamburger Amokschützen von der Dienststelle Zentrale Waffenangelegenheiten der Polizei Hamburg am 6. Dezember 2022. Wenige Wochen später, am 24. Januar, erhielt die Polizei einen anonymen Brief, in dem sie vor Philipp F. gewarnt wurde und in dem um eine Kontrolle der sicheren Aufbewahrung der Waffe und um eine psychologische Überprüfung seiner Eignung gebeten wurde. Philipp F., so der bisher unbekannte Autor des Briefes, leide an einer nicht diagnostizieren psychischen Erkrankung und habe auch ein Buch geschrieben, um diese zu verarbeiten.

Polizeipräsident: Ein Psychologe hätte nicht geholfen

Als Reaktion auf dieses Schreiben leitete die Polizei Hamburg eine unangekündigte Kontrolle bei Philipp F. ein, bei der man sich am 7. Februar auch einen weitergehenden Eindruck vom späteren Amokschützen verschaffen wollte. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hat bereits eingeräumt, dass diese Prüfung durch normale Vollzugsbeamte vorgenommen worden sei – ein Psychologe oder Psychiater sei nicht hinzugezogen worden. Die Begründung: Für eine Überprüfung hätte es eines Psychiaters bedurft, es hätte also nichts gebracht, hätte ein Psychologe der Polizei die Kontrolleure begleitet: Dieser hätte nichts feststellen können. Diese Begründung erscheint als zweifelhaft, da die Waffenverwaltungsvorschrift ausdrücklich auf Psychologen verweist.

Auch hatte die Dienststelle Zentrale Waffenangelegenheiten eine weitergehende Recherche zu Philipp F. vorgenommen und dabei sowohl polizeiliche Datenbanken überprüft als auch das Internet. Das vom Täter verfasste Buch habe man dabei mittels Suche über seinen Namen und das Wort "Buch" nicht finden können, sei aber auf die Website des späteren Amokschützen gestoßen. Obwohl diese vor Auffälligkeiten nur so strotzte – unter anderem radikal-religiösen Inhalten und Bekundungen von Philipp F., "kostenlos zum Wohle der Gesellschaft zu ermitteln" und Anzeigen gegen Konzerne erstattet zu haben –, beurteilte die Polizei Hamburg die Website als unauffällig: Philipp F. habe als Bankkaufmann und Berater auf dieser Website einen seriösen Eindruck gemacht.

Misst die Polizei mit zweierlei Maß?

Meyer betonte, man dürfe die Website nicht mit dem Wissen von heute betrachten, sondern müsse sie aus der Perspektive vor der Amoktat bewerten. Auf Nachfrage bestätigte die Polizei Hamburg jedoch, dass sowohl das Buch von Philipp F. als auch sein Internetauftritt geeignete "Tatsachen" gewesen wären, nach dem Waffengesetz eine ärztliche Überprüfung anzustoßen. Es wäre der erste Schritt gewesen, um F. seine Waffe zu entziehen.

Gleichzeitig heißt es, bei der Überprüfung des Vorgangs hätten aber eben solche Tatsachen nicht vorgelegen. Die Unterscheidung zwischen "Tatsachen" und Tatsachen kann die Polizei Hamburg dabei bislang nicht aufklären.

Eine Hälfte des anonymen Warnbriefes wurde von der Waffenbehörde tatsächlich bearbeitet und der Bitte nach einer Überprüfung der Waffenaufbewahrung nachgekommen. Eine Kontrolle, die im Gesetz als verdachtsunabhängig beschrieben wird, war hier eben gerade nicht ohne Verdacht erfolgt. Vielmehr ermittelte die Waffenbehörde auf Grundlage des Verwaltungsrechts den Sachverhalt.

Waffenbehörde begann Recherche, führte sie aber nicht zu Ende

Mehr noch: Eine umfassende Recherche in polizeilichen Auskunftssystemen und dem Internet war ebenfalls eingeleitet worden. Der Vorgang einer Prüfung von Philipp F. lief also bereits, nur offensichtlich hatte man die Hinweise auf der Website – auf der übrigens auch das Buch beworben wurde – vollkommen falsch beurteilt. Den Link zu Amazon, bei dem man das im Warnbrief beschriebene Buch bestellen konnte, will man gesehen haben. Damit aber hätte man die Hitler-verherrlichenden Ausführungen bereits ebenso unmittelbar finden können wie die radikalen Ansichten und antisemitischen Äußerungen von Philipp F.

Das Versagen der Waffenbehörde bei den Verwaltungsermittlungen wollen Hamburgs Polizeipräsident Ralf Meyer und Innensenator Andy Grote (SPD) dennoch nicht wahrhaben, stellen sich schützend vor die Verwaltungsbehörde der Polizei Hamburg und bekunden ein Gesetzes-, kein Vollzugsproblem. Das Verhalten verblüffte anwesende Medienvertreter bei der Pressekonferenz derart, dass laute "Skandal"-Rufe aufkamen und direkt nach Sprachkenntnissen Hamburger Polizeibeamter gefragt wurde, weil die Website auf Englisch geschrieben war: Es war nahezu unmöglich, die problematische Persönlichkeit von Philipp F. zu übersehen. Die Behördenleitungen bleiben dabei: Nach bisheriger Einschätzung habe die Waffenbehörde keine Fehler gemacht.

Statt aber das Problem einer besseren Ausstattung und personellen Besetzung von Waffenbehörden endlich in Angriff zu nehmen, verweist Hamburgs Innensenator Grote auf Änderungen des Waffengesetzes. In Gesprächen mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und seinen Amtskolleginnen und -kollegen sei er darin übereingekommen, dass vor jeder Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis eine psychologische Überprüfung der Antragsteller erfolgen solle.

Ob dies nun geeignet ist, weitere Amoktaten zu verhindern oder nicht: Es ist keine Erklärung dafür, weswegen die Polizei Hamburg beim Abarbeiten des Warnbriefes vom 24. Januar die Website von Philipp F. als seriös bewertete und keine weiteren Recherchen zu dem Buch anstellte.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Landespressekonferenz am 14. März 2023
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