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Ausflugstipp für Krimi-Fans aus München und Ingolstadt: Hinterkaifeck


Deutschlands Mordrätsel Hinterkaifeck
Früher Tatort eines grausamen Gemetzels – jetzt ein Touri-Treff

Von Christof Paulus

Aktualisiert am 01.04.2022Lesedauer: 7 Min.
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Der abgebrochene Hofdamals, die Gedenkstätte Hinterkaifeck heute. Auf der Fläche im Hintergrund wird heute Rollrasen angesät – der unter anderem schon in der Münchner Allianz Arena lag.Vergrößern des Bildes
Der abgebrochene Hof damals, die Gedenkstätte Hinterkaifeck heute. Auf der Fläche im Hintergrund wird heute Rollrasen angesät – der unter anderem schon in der Münchner Allianz Arena lag. (Quelle: Andreas Biegleder / Christof Paulus)

Auch 100 Jahre später weiß man nicht, wer die Bauernfamilie Gruber ausgelöscht hat. In der Nacht wurde den Menschen auf dem Hof der Schädel eingeschlagen. Wie das Verbrechen die Einöde zum Treffpunkt gemacht hat.

Der eine Teil von dem, was man über Hinterkaifeck weiß, endet wenige Stunden, bevor auf dem Hof alle sechs Bewohner umgebracht wurden. Der andere Teil von dem, was man über Hinterkaifeck weiß, beginnt erst vier Tage nach dem Gemetzel in der oberbayerischen Einöde, als die Leichen gefunden wurden. Alles dazwischen ist bis heute ein Rätsel.

"Gottloser Mörderhand fiel am 31. März 1922 die Familie Gruber von hier zum Opfer", steht auf einem Marterl, der Gedenkstätte, die nach dem Verbrechen in der Nähe des Tatorts aufgestellt wurde. Hier, auf dem einsamen Hof Hinterkaifeck, lebte bis zur Tatnacht auf den 1. April die verwitwete Victoria Gabriel mit ihren Eltern und zwei Kindern auf dem Hof.

Vater Andreas Gruber trieb Inzucht mit ihr, von wem der außereheliche Sohn Josef stammte, wurde nie geklärt. Am Tag des Mordes heuerte die Magd Maria Baumgartner auf dem Hof an. Das Mordwerkzeug fand man erst ein Jahr später, als der nun gefürchtete Hof dem Erdboden gleichgemacht wurde: eine Hacke, mit der den meisten Opfern der Schädel eingeschlagen wurde.

Hinterkaifeck: Gruseliges Rätsel eine Stunde von München

Wer sich einmal in den Fall einliest, sammelt Dutzende Spuren, die alle endlos sind. War ein verschmähter Liebhaber von Victoria Gabriel der Täter? Waren die Hinterkaifecker Zufallsopfer eines Landstreichers? Oder der Bauer Gruber in krumme Geschäfte verwickelt, die der Familie zum Verhängnis wurden? Bis heute treibt das Rätsel Scharen von Menschen hierher. So auch in diesen Tagen, wo sich der Mord zum 100. Mal jährt.

Es ist Freitagabend in einem Gasthaus in Waidhofen. Ein halbe Stunde ist es von hier nach Ingolstadt, eine Autostunde nach München. Hier trifft sich eine Wandergruppe, die gleich ins nahe Hinterkaifeck aufbrechen will. Der Abend startet mit einem Vier-Gänge-Menü, Wanderung, Einkehr, das alles organisiert der Gasthof im Paket.

Der Abend dämmert schon hinter der Kirche, als die Gruppe mit Laternen und Taschenlampe aufbricht. Kerstin Neumair geht voran. Die Wanderer überqueren das Flüsschen Paar und lassen die Spargelfelder, die in der Landschaft wie von Planen bedeckte Riffelchips aussehen, neben sich liegen. Für den Spargel ist die Gegend hier um Schrobenhausen berühmt. Für den Spargel und für Hinterkaifeck.

An einem einsamen Hof an einer einsamen Straße bleibt die Gruppe stehen. Kerstin Neumair beginnt zu erzählen. Immer wieder wird sie das tun auf dem Weg. Das Programm der Wanderung lautet: Gehen, erzählen, wieder gehen, erzählen. Und dazwischen manchmal gruseln.

100 Jahre Cold Case Hinterkaifeck: Heute Ausflugsziel

Ein "True Crime" ist das, was es heute zu erleben gibt – und das viel echter, näher und gruseliger, als es Fernsehen oder Podcasts jemals schaffen könnten. Seit Jahren boomen die Geschichten von echten Kriminalfällen, die wie ein Agatha-Christie-Film gesponnen werden. Sie erzählen die Geschichten von Opfern, aber auch von Mördern. Geben ihnen ein Gesicht, machen sie menschlich. Und immer steht die Frage im Raum: Wie unterhaltsam darf Gewalt sein?

Neumair nimmt einen mit in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg. "Das war bedrückend", sagt sie. Krankheiten verbreiteten sich auf den Bauernhöfen, zum Arzt zu gehen, lohnte sich hier draußen nicht. Zu weit der Weg, und wenn man erkannte, dass es ernst war, war es eh zu spät. "Und woran jemand gestorben ist, war den Leuten dann auch egal", erzählt Neumair.

Von Kriegsheimkehrern berichtet sie, die auf ihrem Weg durch das Land die Einödhöfe überfielen, als Landstreicher in Not. "Sie wussten, dass nach dem Krieg auf dem Hof kaum Männer waren, die ihnen Einhalt gebieten konnten." Plötzlich rumpelt der Holzstapel, der neben der Gruppe an der Wand des Hofes steht. "Oh Gott!", ruft eine Frau und schlägt sich die Hand vor den Mund.

Ein schwarzes Wesen mit Schwanz und zwei leuchtenden Knopfaugen huscht davon. Eine Katze holt Neumairs Zuhörer zurück ins heute. Während sie gesprochen hat, haben einige offenbar vergessen, dass die Erzählungen hundert Jahre zurückliegen. Der Schrecken der bitterarmen Nachkriegszeit ist vorbei. Heute ist das Paartal nicht nur Einöde, sondern auch Kleinod.

"Schon alleine der Name Hinterkaifeck klingt mystisch"

Durch die Dunkelheit setzt die Gruppe ihre Wanderung zur Gedenkstätte fort, über den Schotterweg einen kleinen Hügel am Hexenholz entlang, einem Waldstück. Wenn keine Laternen in die Nacht funzeln, sondern die Sonne Felder und Wiesen erleuchtet, dann sieht man die Dächer des Dorfes Gröbern, aus dem ein Schotterweg früher zum Hof und heute zum Marterl mit der schaurigen Inschrift führt und die umgepflügten Äcker zwischen den undurchdringbar scheinenden Nadelwäldern zerschneidet.

Wer mal abschalten will, der ist hier richtig, wo der 16.000-Einwohner-Posten Schrobenhausen schon als Stadt gilt. Aber einigen Menschen hier, denen lässt das, was vor 100 Jahren geschah, noch immer keine Ruhe. Denn man weiß so viel darüber, und doch so wenig.

"Schon alleine der Name Hinterkaifeck klingt mystisch", sagt Autor Peter Leuschner, der im Jahr 1978 mit einem dramatisierten Sachbuch das Standardwerk zum Mordfall verfasst hat. Er weiß, warum der Ort so faszinierend ist, dass auch ein Jahrhundert später Menschen hierhin fahren. Obwohl der Hof längst verschwunden ist, die Zeitzeugen tot sind und die Hoffnung darauf, den Mörder zu finden, zum Luftschloss verkommen ist.

Der Mörder von Hinterkaifeck wird nie gefunden

"Jeder kann hier Detektiv spielen", sagt Leuschner. "Aber all das ist inzwischen unseriös. Es lässt sich nichts mehr verifizieren." Dass die Tat bis heute unaufgeklärt ist, trage zum Mythos bei, genauso wie die Umstände, dass die Leichen erst vier Tage danach gefunden wurden, dass Berichten nach Fremde am Hof gesichtet wurden oder dass nach der Tat eine Hysterie in Bayern ausbrach, wie Leuschner beschreibt. "Da geht's zu wie in Hinterkaifeck", hätte man noch in seiner Jugend gesagt.

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Denn die Polizei war sich sicher, den Täter schnell zu haben. Spät rückte sie aus München an, schnell fuhr sie wieder, nahm keine Fingerabdrücke, verrannte sich und lobte eine horrende Summe von 100.000 Mark als Belohnung aus. Plötzlich verdächtigte jeder hier jeden.

Mit den geizigen Eigenbrödlern vom Einödhof Hinterkaifeck war man sich im Dorf schon vor dem Mord nicht grün. Danach ging der Streit erst richtig los, bis hin zu Schwestern, die ihre eigenen Brüder zu Unrecht anzeigten. Das alles vor den Augen der ganzen Region. "Mein Opa lief damals zehn Kilometer her, um sich alles mit eigenen Augen anzusehen", berichtet Elisabeth Roth unterwegs, die die Hinterkaifeck-Wanderung als Gutschein von ihrer Familie geschenkt bekommen hat.

Das Ziel, das Marterl, steht einsam zwischen Feldern neben einer einzelnen Wetterfichte und einer Schautafel, die den Hof zeigt, wie er früher war und wo er gelegen haben soll. An einem Beet, das aussieht wie ein Grab und genauso gepflegt wird, ragt das weiße Marterl etwa bis zum Kopf in die Höhe. Das mit Ziegelsteinen bedeckte Dachstühlchen umfasst einen Stein, in den ein Kreuz gehauen ist. Direkt hinter dem Marterl pflanzt eine Firma heute Rollrasen an, der in den größten Fußballstadien der Welt verlegt wird.

Am Rasen vorbei läuft die Gruppe inzwischen zurück zum Gasthof. Unter den Schuhen knirscht der Schotter, am Horizont sind die Lichter Waidhofens zu sehen, gerade passiert man einen Hof, auf dem aus alten Steinen aus Hinterkaifeck ein Stadel gebaut wurde. "Ich hatte schon Teilnehmer aus Kanada oder den USA", erzählt Führerin Neumair. Der Mord ist weltberühmt.

In Hinterkaifeck suchen Menschen nach Geistern

Dabei schätzen die Menschen hier ihre Ruhe, sagt sie. Ob sie die auch bekommen, entscheiden aber die Hinterkaifeck-Touristen und die, die sie anlocken. "Zum 90. Jahrestag damals war die Hölle los", erzählt Neumair. An der Gedenkstätte war ein Zelt aufgestellt worden, Besucher suchten nach Übersinnlichem oder einer Eingebung.

Die Dörfer rund um den Mordtatort waren hingegen lange bekannt dafür, sich zu verschließen. Selbst Autor und Hinterkaifeck-Experte Leuschner lässt beim Gespräch am Telefon durchblicken, dass ihm etwas Abstand zu der Geschichte und dem Drumherum gefallen würde. "Wissen Sie, Hinterkaifeck war nur ein Teil meiner Arbeit", sagt er.

Die Wanderungen zur Gedenkstätte seien von manchen kritisch gesehen worden, sagt Führerin Neumair. "Inzwischen wissen die Leute aber, dass das Gasthaus ohne Hinterkaifeck nicht überleben könnte." Nachfahren der Verdächtigten oder Angehörigen von damals seien schon mitgewandert. "Um die Familiengeschichte mal kennenzulernen", erklärt sie.

Andere wollten davon bis heute nichts wissen. Es gibt noch eine andere Wanderung, die Landkreisführerin Maria Weibl anbietet, ohne Mahlzeit und Drumherum. "Ich war schon als Kind dort am Marterl", erzählt sie am Telefon. "Hinterkaifeck lässt mich nicht los." Weibl habe für den Jahrestag der Tat einen Gottesdienst bestellt.

Hinterkaifeck-Opfer sind in Waidhofen begraben

Neumair und ihre Wandergruppe sind inzwischen zurück im Dorf, stehen auf dem Friedhof an der Kirche. Im Grab direkt an der Friedhofsmauer liegen die Grubers und ihre Magd. "Rund um diesen Fall vergisst man schnell: Hier wurden sechs unschuldige Menschen grausam ermordet", sagt Neumair. "Und deshalb wollen wir jetzt innehalten." Sie schweigt. Wie sie falten die anderen Wanderer ihre Hände und senken den Kopf. Fünf Minuten später gibt es Punsch und Glühwein im Gasthaus.

Die Gruselshow im bayerischen Spargelland, sie ist eigentlich keine. Die Wanderer werden auf ihrer Runde bestens unterhalten. Dem Roman "Tannöd" und der gleichnamigen Verfilmung diente Hinterkaifeck unverkennbar als Vorlage. Aber er ist Fiktion. Der Tod der Grubers, er ist echt.

Und für die Menschen in den Dörfern um Hinterkaifeck war der Mord eine Wunde, die nie zugenäht wurde. Bis heute verwächst sie noch, Furcht und gegenseitige Verdächtigungen, Gier und Neid haben Narben hinterlassen. Und die große Frage: Wer war es denn nun?

Er verfolge keine Theorie, sagt Autor Leuschner. Die Grubers seien in Schmuggelgeschäfte verwickelt gewesen, vermutet Landkreisführerin Weibl. Wanderer Thomas Sohnhütter sagt, man habe seine Theorien, aber die verwerfe man auch schnell wieder, weil irgendetwas nicht passe. Vielleicht war es auch der Bauer Gruber selbst, bevor er von einem verschwiegenen Dorfbewohner erwischt wurde, der Selbstjustiz betrieb?

Ein Raubmord komme auch in Frage, oder eine Eifersuchtstat, führt Gasthofs-Führerin Neumair an. Vielleicht kommt die Wahrheit zum 100. Jahrestag ans Licht. So haben es einige in der Region angekündigt. Neumair glaubt das nicht. "Das sind Wichtigtuer", sagt sie. Hinterkaifeck ist ein Mysterium. Und wird eines bleiben.

Verwendete Quellen
  • Wanderung des Gasthof Bogenrieder in Waidhofen, Gespräche mit Kartin Neumair, Thomas Sohnhofer und Elisabeth Roth
  • Telefonat mit Autor Peter Leuschner
  • Telefonat mit Landkreisführerin Maria Weibl
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