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Marianne H. verlor Tochter und Enkel: "Der Täter hat lebenslänglich – ich auch"


Marianne H. verlor Tochter und Enkel
"Der Täter hat lebenslänglich – ich auch"

Von chrismon-Redakteur Nils Husmann

29.06.2019Lesedauer: 13 Min.
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Marianne H. findet, die Kultur hat den Mann ihrer Tochter zum Täter gemacht.Vergrößern des Bildes
Marianne H. findet, die Kultur hat den Mann ihrer Tochter zum Täter gemacht. (Quelle: Jonas Ludwig Walter)

Ihre Tochter und ihr Enkel wurden ermordet, von einem Algerier mit deutschem Pass. Marianne H. findet, seine Kultur hat den Täter gefährlich gemacht.

Marianne H. ist 64 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Demonstration besucht. Es ist der 8. März 2019, Weltfrauentag. Ein kalter Wind weht über den Hamburger Gänsemarkt. Die Vereinigung "International Women in Power" hat mit der "Initiative an der Basis" zu einem Protestmarsch aufgerufen, "Migrantinnen demonstrieren in Hamburg gegen die Unterdrückung von Frauen und Mädchen". Einige Demonstrantinnen halten Fotos in den Händen. Viele der abgebildeten Frauen sind Iranerinnen. Sie sitzen in Haft oder sind tot – hingerichtet. Auch Marianne H. hat ein Bild dabei, es fällt auf, weil die Frau und der kleine Junge darauf blond sind. Auch sie leben nicht mehr – ermordet.

Marianne H. wirkt, als würde sie sich fragen, wo sie hingeraten ist. Drei Frauen schwirren um sie herum, eine von ihnen hat es eilig: "Schnell, stellt euch in die erste Reihe!", sagt sie. Als Hourvash Pourkian, die Organisatorin der Demo, ihre Rede beginnt, hält Marianne H. mit einer Hand ein Banner der "Initiative an der Basis" fest. Mit der anderen Hand reckt sie ein Schild hoch. "Wacht auf! Hört auf zu schweigen" steht in weißer Schrift auf schwarz bemalter Pappe. Pourkian fordert die Gruppe auf, ihre Parolen zu wiederholen oder ein dreifaches Nein! zu entgegnen. "Wir fordern Solidarität mit den Frauen im Iran!" Als Pourkian "Wir sagen Nein zu Ehrenmorden!" ruft, schreit Marianne H.: "Nein! Nein! Nein!" Es bleibt einer der wenigen Momente, in denen sie sich an diesem Nachmittag verstanden fühlt.

Die Demo zieht zum Rathausmarkt. Eigentlich sollte Marianne H. dort ihre Geschichte erzählen. Aber ihr Beitrag wurde gestrichen. Sie weiß nicht, wer das entschieden hat. Ihre Rede hätte mit den Worten begonnen, die sie oft wählt: "Meine Tochter Anne und mein Enkelkind Noah wurden mit dem Messer bestialisch ermordet. Der Täter war der Vater und Lebensgefährte, er war 2002 als Flüchtling aus Algerien gekommen."

"Ich war ihr nie so nah wie heute"

Ortswechsel. Ein Dorf bei Eckernförde in Schleswig-Holstein. Hier lebt Marianne H. als Künstlerin. Draußen blühen die Forsythien, in der Ferne ist die Ostsee zu sehen. Ihr Garten hat sie vor zwei Jahren daran erinnert, dass es irgendwie weitergehen muss. Nun ziehen Regenschauer auf. Marianne H. sitzt an ihrem Esstisch und sagt: "Ich gehe mit Anne ins Bett, und ich stehe morgens mit ihr auf. Ich war ihr nie so nah wie heute, obwohl sie tot ist."

Anne Metzger, Jahrgang 1978, ist das erste Kind von Marianne H. und ihrem Ex-Mann. Anne kam in Freiburg zur Welt, zwei Brüder folgten. Die Familie zog nach Schleswig-Holstein, in ein Dorf nahe der Schlei, Marianne H. nennt es "unser Bullerbü", aber Freiburg fehlte ihr anfangs.

"Die Stadt war früh eine Grünen-Hochburg, das kam mir als Ökofrau entgegen. Das wollten wir an die Kinder weitergeben. 'Du musst in die Welt hinaus!', haben wir zu Anne gesagt, als sie mit der Schule fertig war. Wir schickten sie ein Jahr nach Irland zur Schule. Heute würde ich sagen: Es gibt Gefahren, die nicht zu unterschätzen sind! Wir hatten eine gute Zeit in Deutschland. Das hat uns sorglos gemacht. Die Schrecken passierten früher woanders. Jetzt kommt alles zu uns. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich die Kinder liberal und zur Gutgläubigkeit erzogen habe."
Marianne H.

2002 zog Anne, die Tochter, zurück nach Freiburg. Sie heiratete, die Ehe scheiterte. 2009 traf sie Nasr-Eddine B., einen 13 Jahre älteren Mann, der 2002 als Asylbewerber aus Algerien nach Deutschland gekommen war. Beide machten in Heidelberg eine Ausbildung zur Pflegedienstleitung.

Nasr-Eddine B. zog zu Anne nach Freiburg. Wenn Marianne H. zu Besuch kam, war er meist verreist. Eine Hochzeit gab es nie, nur ein Ritual, mit Imam. Wo und wann – das weiß H. nicht. Anne, die evangelisch war, aber nur zu Familienfeiern in die Kirche ging, besuchte mit Nasr-Eddine B. ein muslimisches Zentrum. Ihre Mutter fragte am Telefon: "Willst du das – oder musst du dahin?" Anne gab keine Antwort. Nach einigen Minuten erhielt Marianne H. eine SMS von einer Telefonnummer, die sie nicht kannte. Sie sei rassistisch und diskriminierend, schrieb Dino. Marianne H. entschuldigte sich.

"Anne sagte, ihr Freund heiße Dino. Ich fragte: Ist er Italiener? Sie antwortete: Nein, Algerier. – Ich freute mich für Anne, ihre Stimme klang optimistisch. Ich wollte nicht mit Vorurteilen kommen. Wir trafen uns. Dino nahm die Schirmmütze zur Begrüßung nicht ab. Das störte mich, und das zeigte ich auch."
Marianne H.

Im Mai 2013 sagte Anne am Telefon: "Ich bin schwanger." Marianne H. schenkte sich einen Cognac ein. Am 19. Juni 2013 kam Noah Metzger zur Welt, ein Frühchen, nur 1.600 Gramm schwer. Eine Woche vor der Geburt wollte Marianne H. am Telefon wissen, wie Nasr-Eddine B. an die deutsche Staatsbürgerschaft gekommen sei. Unter Tränen erwiderte Anne, ob diese Frage sein müsse. Kurz danach erhielt Marianne H. eine SMS von Dino. "Dich kann man nur mit ein Hammer oder ein Kugel in Kopf hilfen." Ostern 2014 möchte Marianne H. Tochter und Enkel besuchen. Anne lässt sie wissen, dass Dino darüber nicht erfreut sein würde. Als sie im ICE Richtung Freiburg sitzt, kommt wieder eine SMS: "Mir und mein Sohn kommst du ein Schritt nähr, schwere ich bei Gott schlachte ich dich wie ein Hase aus. Dino."

Ihren Enkelsohn konnte Marianne H. nur heimlich treffen, solange er nicht erzählen konnte, dass er Oma gesehen hatte. Im Herbst 2016 war Anne am Ende ihrer Kräfte, sie sagte ihrer Mutter, Dino könne das Kind haben, nahm diesen Satz aber wieder zurück. Marianne H. weiß noch, dass sie ihre Tochter umarmte und sagte:

"Anne, man muss nicht so leben, wir halten zu dir." Ende 2016 trennte sich Anne von Dino. Wer eine Wohnung fände, würde ausziehen, Noah sollte abwechselnd bei Mutter und Vater leben, geteiltes Sorgerecht. Anne fürchtete sich zunehmend vor ihrem Ex-Partner. Einer Freundin vertraute sie an, dass sie eingeäschert werden wolle, sollte sie eines unnatürlichen Todes sterben, sonst wünsche sie eine Erdbestattung. Annes Vater kaufte eine Wohnung in Teningen, 20 Kilometer von Freiburg entfernt.

Am 5. Mai 2017 entdeckte Nasr-Eddine B. im Flur einen Rucksack, in dem auch Sachen für Noah waren. Er erkannte, dass Anne mit dem Kind ausziehen wollte. Und er drohte ihr, laut Annes Aussage bei der Polizei mit den Worten: "Das Ganze wird für dich blutig enden." Die Beamten notierten in ihrem Bericht, Nasr-Eddine B. wirke aggressiv. Unter Polizeischutz zog Anne am 6. Mai 2017 mit Noah aus. Die Adresse hielt sie geheim. Tags darauf bekam Annes Vater eine SMS: "Noah ist mein Sohn, kein Mensch auf der Welt kann ihn mir nehmen." Absender: Dino.

Am 11. Mai 2017 sprach das Amtsgericht Freiburg ein Annäherungsverbot aus. Nasr-Eddine B. musste wegbleiben von Anne und Noah. Dino machte Druck beim Jugendamt, das einen begleiteten Umgang beim Kinderschutzbund vermittelte. Am 20. Juli 2017 sahen sich Vater und Sohn für eine Stunde, eine Mitarbeiterin des Kinderschutzbundes war dabei. Sie notierte, der Vater verhalte sich überbehütend, aber empathisch. Über zwei Monate hatte Dino Noah nicht gesehen, nun gab es eine Perspektive für ihn – aber auch schlechte Nachrichten: Anne wollte mit dem Sohn Urlaub in Schleswig-Holstein machen. Am 27. Juli 2017 schickte Nasr-Eddine B. um 21:22 Uhr eine Mail an seine Anwältin. Die weite Fahrt im Auto sei zu viel für das Kind, er werde "aktiv". Obwohl das Gericht es ihm verboten hatte, war Nasr-Eddine B. Anne zur neuen Wohnung gefolgt.

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Am 28. Juli um kurz nach acht Uhr rammte Nasr-Eddine B. mit einem Mietwagen Annes Auto, als sie zur Arbeit fahren wollte. Mit dem Griff eines Messers schlug er Scheiben ein, Noah saß hinten im Kindersitz. Als Nasr-Eddine B. im Auto war, trat Anne nach ihm. Er stach zu, allein acht Mal in Annes Brustkorb, zwei Mal bis ins Herz. Nachbarn versuchten zu helfen, sie hörten, wie Anne um Hilfe schrie und wie Noah rief: "Nein, Papa, nein!"

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Onlineberatung erhalten sie jeden Tag rund um die Uhr Hilfe. Das Angebot ist anonym und kostenfrei.

Eine Frau zog Nasr-Eddine B. am Hosenbund. Einem Mann gelang es, mit einem Stein die Scheibe neben Noahs Sitz einzuwerfen. Als er das Kind befreien wollte, stach Nasr-Eddine B. zwei Mal auf seinen Sohn ein. Das Messer ließ er stecken, kletterte über seinen sterbenden Sohn hinweg ins Freie und fuhr davon. Ein Zeuge sagte der Polizei: "So ruhig, als wenn er Zigaretten geholt hätte, relaxt und gediegen, gelassen, als sei nichts gewesen."

Im April 2018 verurteilte die 1. Große Strafkammer am Landgericht Freiburg Nasr-Eddine B. wegen Mordes an Anne Metzger und wegen Totschlags an Noah zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Richterinnen und Richter gingen davon aus, dass Nasr-Eddine B. seinen Sohn nach Algerien entführen wollte. Er hatte im Internet nach Flügen gesucht. Anne Metzger musste sterben, weil sie sich gegen die Entführung wehrte. Als der Täter erkannte, dass sein Plan nicht aufgehen würde, erstach er auch seinen Sohn.

Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Damit hat Nasr-Eddine B. keine Aussicht, nach 15 Jahren freizukommen. Ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bescheinigte dem Täter eine narzisstische Persönlichkeitsstörung; eigenes Versagen blende er aus. Kritisiere ihn jemand, könne er schnell entgleisen. Seine Schuldfähigkeit sei aber nicht beeinträchtigt.

"Er hat lebenslänglich – ich auch"

Marianne H. war erleichtert, der Mörder hat die maximale Strafe erhalten. Ihr persönlicher Prozess geht weiter. "Er hat lebenslänglich – ich auch", sagt sie. Auf ihrer Anklagebank: die Gesellschaft, die Politik, die Medien, sie selbst und das Schicksal, wieder und wieder, jeden Tag.

Das Schicksal, weil Kleinigkeiten alles hätten verhindern können. Die Mail des Täters an seine Anwältin, er werde "aktiv" – hätte die Anwältin die doch früher gelesen, vielleicht hätte sie die Polizei verständigt? Dann wieder hadert sie, dass die geplante Reise in den Norden die Tat auslöste. "Das Messer galt mir, weil der Mörder es nicht ertragen konnte, dass die beiden zu uns kommen." Ein paar Sätze später klagt sie Gesellschaft und Politik an; sie findet, sie muss das tun, weil sie es ihrer Tochter schuldig ist.

Als Anne und Noah starben, war Migration ein großes Thema. Umfragen sagten voraus, dass mit der AfD eine Partei in den Bundestag einziehen würde, die rechtsextreme Positionen vertritt. Wenngleich er viel früher, 2002, nach Deutschland gekommen war, steht der Fall Nasr-Eddine B. für Fehler, die viele Menschen empören. Sein Antrag auf Asyl war als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt worden. Im Bescheid steht, Nasr-Eddine B. habe eine "offen zur Schau getragene Desinteressiertheit" gezeigt. Seine Behauptung, er sei in Algerien gefoltert worden, sei "erkennbar frei erfunden". Ihm drohte die Abschiebung. Aber er blieb, heiratete im November 2002 eine Deutsche. 2007 wurde Dino Deutscher, die Ehe wurde nach der Einbürgerung geschieden.

"In den Medien wurde der Mord als Beziehungstat abgetan, der Täter als in Algerien geborener Deutscher dargestellt. Für mich ist er kein Deutscher. Er ist Algerier. Wenn ein Mensch Kindheit und Jugend in einer anderen Kultur verbringt, ändert er sein Wertegerüst nicht mehr so sehr. Ich habe Freunde, die ungehalten werden, wenn ich sage: Anne und Noah sind von einem Algerier ermordet worden. Sie sagen: Marianne, betone das doch nicht so! Es gibt doch auch die Lieben, Guten, Netten. Das hilft mir aber nicht. Das war mehr als nur eine Beziehungstat. Und ich erwarte, dass wir uns damit auseinandersetzen."
Marianne H.

Die Prozessakten sind voller Hinweise darauf, dass Nasr-Eddine B. Frauen verachtet. Erst nach dem Mord erfuhren Annes Eltern, dass er ihrer Tochter schon früh verboten hatte, Freunde zu treffen. Sie musste sich sogar eine neue Handynummer zulegen. Nach Noahs Geburt verstärkte sich der Kontrollzwang noch. In einer Kindertageseinrichtung, die Noah besuchte, strich er einer Erzieherin übers Haar und sagte: "Die hat ja nichts im Kopf." Der Chef der Kita gab zu Protokoll: "Herr B. hat seinen Sohn und seine Frau als Eigentum behandelt." Ist das ein Gehabe, das viele Männer an sich haben, egal, woher sie kommen? Oder ist es typisch für bestimmte Kulturkreise?

2017: Über 140 Morde durch Ehemann oder Ex-Partner

2017 wurden in Deutschland 114.000 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt, so steht es im "Lagebericht Partnerschaftsgewalt" des Bundeskriminalamtes (BKA). Zur Partnerschaftsgewalt zählen viele Delikte – Körperverletzung, Vergewaltigung, Bedrohung oder Stalking. In dem Jahr, in dem Anne und Noah Metzger starben, wurden 141 Frauen durch den Ehemann oder Ex-Partner getötet. "Familiendrama" oder "Beziehungstat" heißt es häufig in den Medien.


Im "Spiegel" kommentierte Familienministerin Franziska Giffey die Zahlen. Auf die Frage, ob sie einen Zusammenhang zwischen den Zahlen zur häuslichen Gewalt und der gestiegenen Einwanderung sehe, sagte die SPD-Politikerin: "Beim Thema Partnerschaftsgewalt liegt der Anteil deutscher Staatsangehöriger unter den Tatverdächtigen laut Statistik bei knapp 68 Prozent. Das Problem geht durch alle gesellschaftlichen Schichten und alle ethnischen Hintergründe. Die Einzelberichterstattung zeichnet ein anderes Bild. Wenn man die Zeitung liest, hat man manchmal das Gefühl, nur Flüchtlinge und Migranten verprügeln und töten ihre Frauen, weil diese Fälle immer ganz groß dargestellt werden."

Wahr ist aber auch: 32 Prozent aller Partnerschaftsdelikte gehen auf Menschen zurück, die keinen deutschen Pass haben. Diese Gruppe ist unter den Tätern überrepräsentiert, denn der Anteil der in Deutschland lebenden Menschen mit fremdem Pass beträgt zwölf Prozent. Wahr ist wiederum auch: Die Männer, die 2017 eines Deliktes aus dem Bereich der Partnerschaftsgewalt verdächtig waren – die gestalkt, bedroht, eine Frau körperlich verletzt oder gar getötet haben – kommen nicht nur aus muslimisch geprägten Ländern. Acht Prozent haben einen polnischen und je vier Prozent einen rumänischen, serbischen und italienischen Pass. Und die meisten einen deutschen.

Den 141 Frauen, die 2017 durch ihre Männer zu Tode kamen, konnte die Polizei 142 Tatverdächtige zuordnen. Von ihnen waren 107 deutsche Staatsangehörige – mehr als 75 Prozent. Auch der Mörder von Noah und Anne ist deutscher Staatsbürger. Den Anteil der Verdächtigen mit Migrationshintergrund, die erst Deutsche wurden, erfasst das BKA nicht.

"Eine Freundin sagte mir, deutsche Männer morden auch. Ja, es gibt ein Problem mit Männlichkeit. Aber dieses Scharia-Geticke macht Männer gefährlicher. Diese Gefahr potenziert sich durch ihr soziokulturelles Verhalten, das uns fremd ist. Frauen gelten manchen Muslimen als minderwertig."
Marianne H.

Manchmal differenziert Marianne H., als sei sie um eine wissenschaftliche Einordnung ihres eigenen Dramas bemüht. Sie erzählt, der Mörder ihrer Tochter und ihres Enkels habe eine schwierige Kindheit gehabt. Er sei das Kind einer zwangsverheirateten Mutter, die den Vater verlassen habe, kein Wunder werde man so zu einem schwierigen Menschen. Und: Wer seine Heimat verlasse, verliere immer den Halt der eigenen Kultur. So ein Mensch fühle sich immerzu unterlegen. Dann wieder erklärt sie Muslime pauschal zu einer Gefahr für Frauen.

"Es ist sehr schwierig, Nordafrikanern oder Muslimen pauschal bestimmte Frauenbilder zuzuschreiben. Das kann ausländerfeindliche Vorurteile befeuern. In einigen Bereichen im Nahen Osten, die oft von Bildungsferne, Abschottung nach außen, dörflichen, stammesähnlichen Strukturen gekennzeichnet sind, hat ein archaischer Ehrbegriff überlebt, der Frauen nicht als gleichberechtigte Partnerinnen betrachtet, sondern sich das Recht nimmt, sie bei Ehrverletzungen zu bestrafen – auch mit dem Tod. Ich sage bewusst: Im Nahen Osten, weil dasselbe Phänomen nicht nur bei Muslimen, sondern etwa auch bei Jesiden vorkommt.
In islamisch geprägten Gesellschaften wird diese Kontrolle dort, wo sie praktiziert wird, oft mit islamischen Begründungen unterlegt, weil das traditionell ausgelegte Scharia-Recht den Gehorsam der Frau unter ihren Ehemann als konstitutives Element der Ehe vorsieht. Man mag bei Bestrafungen von angeblichen Ehrvergessen von "Scharia" sprechen, obwohl der Ehrenmord nicht aus dem Islam kommt, sondern viel älter ist, und sich weder im Koran noch in der Überlieferung eine Begründung für Ehrenmorde finden lässt."
Christine Schirrmacher, Professorin am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn

Die Tat religiös aufgeladen

War die Tat an Anne und Noah ein "Ehrenmord"? Marianne H. ringt um ihr Urteil: Nasr-Eddine B. habe dem psychiatrischen Gutachter berichtet, die Trennung verletze sein Ehrgefühl. Manchmal betont H. in ihren Erzählungen aber auch, dass sich Nasr-Eddine B. eine Gebetsapp auf sein Handy geladen habe, nachdem sich Anne von ihm getrennt hatte – und lädt die Tat fast religiös auf. "Ich muss damit leben, in die rechte Ecke gestellt zu werden, wenn ich so denke", sagt sie. Die Unsicherheit, wie sehr Kultur und – als Teil davon – Religion Menschen prägen, sei aber bei vielen groß, spürt die Künstlerin bei Diskussionen in ihrem großen Freundes- und Bekanntenkreis.

Debatten darüber sind aufgeheizt. Im April 2019 veröffentlichten zwei Grünen-Bundestagsabgeordnete, Ekin Deligöz und Manuela Rottmann, ein Diskussionspapier, Überschrift: "Zuwanderungsgesellschaft stärken – Frauenfeindlichkeit bekämpfen". Sie schreiben: "Viele Geflüchtete kommen aus muslimisch geprägten Gesellschaften, die stark patriarchalisch geformt sind und keine Aufklärung, Säkularisierung, Frauenbewegung und sexuelle Revolution erlebt haben. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, muss sich von herabwürdigenden Frauenbildern lösen, welche Frauen als den Männern untergeordnet definieren. Einen 'kulturellen Freischein' für Frauenfeindlichkeit gibt es nicht."

Beide äußerten sich auf Anfrage nicht näher zu ihrem Vorstoß. Aus ihrer Partei gab es Zustimmung, aber auch Kritik. Susanna Kahlefeld, als Grüne ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, schrieb auf Twitter: "Toxischer Pseudo-Feminismus ist das. Eine Fassade für Rassismus – verletzend für alle, die in binationalen Familien leben und nicht nach Herkunft, sondern Charakter unterscheiden."

"Man muss die Scharia dynamisch lesen"

"Die Scharia ist kein starres Gesetzbuch, sondern ein komplexes System, das die gesamte Normenlehre des Islams beinhaltet. Es geht zum Beispiel darum, wie Muslime richtig beten. Das ist von unserer Religionsfreiheit gedeckt. Normen, die patriarchalisch vorgeformt sind, sind dagegen problematisch. Aber man muss die Scharia dynamisch lesen.
In vorislamischer Zeit wurden Frauen vererbt. Die Scharia regelte, dass sie selbst erbberechtigt wurden. Das war ein Fortschritt, und der ist auch im Islam jederzeit möglich. Das Problem ist das Patriarchat. Alle Religionen müssen sich von traditionellen Vorstellungen lösen, die es legitimieren. Der Behauptung, der Islam könne nicht anders, als Frauen kleinzuhalten, müssen wir so entschieden entgegentreten wie den Islamisten. Sie ist falsch. Es sind vor allem kulturelle und nicht religiöse Prägungen, die patriarchale Strukturen stützen.
Ja, in manchen muslimischen Milieus gibt es problematische Frauenbilder. Es wäre diskriminierend, nicht darüber zu reden, weil wir sonst muslimischen Frauen, die in ihrer Rolle leiden, nicht helfen. Bei uns sind alle Frauen gleichberechtigt. Die Frage ist: Wie nehmen wir die Menschen mit, die kulturell so geprägt sind, dass sie ein patriarchales Rollenbild verinnerlicht haben? Es gibt keine Patentrezepte, aber gute Hinweise: In Berlin reden muslimische Männer miteinander. Viele haben nie gelernt, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Es ist wichtig, dass es islamisch-theologische Lehrstühle in Deutschland gibt. Wir brauchen Menschen, von denen junge Leute, die sich auf die religiös-spirituelle Suche begeben, lernen können. Sonst suchen sie im Internet. Dort finden sie selten Gutes."
Mathias Rohe, Jurist, Islamwissenschaftler und Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg

Marianne H. wünscht sich mehr Hilfe für Partnerinnen muslimischer Männer

Marianne H. wendet sich oft mit Briefen an Politiker. An Familienministerin Franziska Giffey richtete sie einen Forderungskatalog: Probleme in interkulturellen Paarbeziehungen müssten Thema im Schulunterricht werden. Es müsse eine Institution entstehen, an die sich Partnerinnen von muslimischen Männern bei Konflikten wenden könnten. Die Polizei müsse mehr und interkulturell geschultes Personal bekommen. Giffey bedankte sich.

Die Unterschrift hat Marianne H. angefeuchtet, um zu sehen, ob die Ministerin selbst unterschrieben hatte. Die Tinte verwischte. Vertrauen kann sie nicht mehr – auch nicht den Medien.

"Früher lief bei mir immer Deutschlandfunk. Das ist vorbei. Ich will nicht immer hören, wie es den Flüchtlingen geht. In Deutschland sind Menschen ermordet worden, ich will wissen, wie es ihren Familien geht."
Marianne H.

Übersehen Journalisten Gewalt, die von Menschen anderer Herkunft ausgeht? Wenn das je so war, ist die Stimmung gekippt. Holger Münch, BKA-Präsident, sagte im Frühjahr der "Zeit": "Medienanalysen zeigten, dass sich die Berichterstattung über die Gewaltkriminalität von Zuwanderern seit 2014 deutlich verändert habe. Über die nicht deutsche Herkunft von Tätern sei 2017 viermal so häufig berichtet worden als drei Jahre zuvor."

Die Kriminalstatistik weist für das Jahr 2018 so wenige Verbrechen aus wie seit 1992 nicht mehr. Wahr ist aber auch: Im Jahr 2018 wurden 6.046 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – etwa sexuelle Nötigung und Vergewaltigung – erfasst, bei denen die Polizei mindestens einen Zuwanderer als Verdächtigen ermittelte. Ein Anstieg um 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Aber: Die allermeisten Zugewanderten sind nicht kriminell, trotzdem schlägt besonders Muslimen viel Skepsis entgegen. Laut der "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen über 30 Prozent der Deutschen "eher" oder sogar "voll und ganz" dem Satz zu, sie fühlten sich "durch die vielen Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land".

Marianne H. hat auch Freunde, die das Vertrauen in die Medien schon lange verloren haben. So stieß sie auf Internetangebote wie „politikversagen.net“. Täglich listet die Seite Verweise auf andere Medien. Manche führen auf Angebote mit verschwörerischen oder fremdenfeindlichen Inhalten, andere leiten weiter zu lokalen Medien, die Straftaten vermelden, an denen Täter mit Migrationshintergrund beteiligt sein sollen. Wer dort liest, gewinnt den Eindruck, dass Messerattacken Alltag sind. Das bestätigt die Sicht von H. immer wieder. Sie sieht es so: "Hätten wir diese Fakten vorher gehabt, wir hätten anders gehandelt und Anne beschützen können."

"Nachdem ich Annes Wohnung ausgeräumt hatte, brachte ich viele Sachen nach Emmendingen zur Diakonie. Mitarbeiter, die aus der Türkei und dem Irak stammen, drehten sich weg, als ich sie auf die Tat ansprach, die drei Kilometer entfernt passiert war. Wenn ich mit dem Taxi fahre und der Fahrer nicht aus Deutschland kommt, frage ich nach dem Herkunftsland. Neulich sagte ein Fahrer, dass ihm die Tat leid tue. Das ist besser, als sich einfach wegzudrehen."
Marianne H.

Zurück in Hamburg, auf der Demo zum Weltfrauentag. Eine der Frauen, die Marianne H. begleiten, ist Rebecca Sommer, sie gehört zur "Initiative an der Basis". Die Gruppe gibt an, für Menschen zu sprechen, die mit Zuwanderern zu tun haben und dabei schlechte Erfahrungen gemacht haben wollen. Darunter sollen Lehrer, Erzieher, Flüchtlingshelfer, Polizisten oder Ärzte sein. Bekannte hatten Marianne H. ein Interview mit Rebecca Sommer geschickt. Es liest sich wie eine pauschale Verurteilung von Muslimen. Marianne H. nahm Kontakt auf, endlich war da jemand, der sie verstand und sie nicht verurteilte, wenn sie erzählte, dass der Täter aus Algerien komme.

Als der Demonstrationszug den Rathausmarkt erreicht, wartet dort eine zweite Protestgruppe. Eine Fahne der "Antifa" weht im Wind. Hourvash Pourkian erneuert ihre Forderungen. "Wir wollen die Gleichberechtigung!" Alle jubeln. Als sie ruft "Wir sagen 'Nein' zur Zwangsverschleierung von Frauen und Mädchen! Wir dürfen solche Forderungen nicht den Rechtspopulisten überlassen!", ist der Zuspruch leiser.


Jemand liest Namen von Frauen vor, die im Ausland ermordet wurden. Der von Anne Metzger fehlt. Später erklärt Pourkian gegenüber chrismon, es sei bei dem Marsch für Migrantinnen um Frauen gegangen, die gegen das Unrecht in ihren Herkunftsländern protestierten. Daher habe man Marianne H. über Rebecca Sommer ausgerichtet, dass ihre Geschichte an diesem Tag nicht gepasst habe.

Pourkian bittet um eine Schweigeminute. Und darum, die Fotos der Opfer an Gasballonen aufsteigen zu lassen. Als Marianne H. ihren Ballon loslässt, fängt sie an zu weinen. Eine Mitstreiterin von Rebecca Sommer nimmt sie in dem Arm. Sie kann nicht sehen, dass ihr Ballon, an dem das Foto von Anne und Noah hängt, gegen das Rathaus fliegt und fast hängenbleibt. Dann schafft er es doch noch übers Dach und fliegt davon.

Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Weiterführende Links auf chrismon.de:

Vor 16 Jahren wurde seine Tochter ermordet. Mittlerweile kann der Vater auch mal das Leben genießen – einen Augenblick lang. Weiterlesen auf chrismon.de.

In Bautzen ist die AfD stärkste Partei. Ist jetzt Annalena Schmidt anders, die gegen rechts kämpft - oder der evangelische Pfarrer, der völkische Thesen verbreitet? Weiterlesen auf chrismon.de.

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