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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Dann kommt es zum Zusammenbruch der Front"

Nacht für Nacht neue Luftangriffe, schwere Gefechte im Donbass: Russland setzt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine erbittert fort. Im Osten zeigt sich eine neue Taktik auf dem Gefechtsfeld.
Bei einem Treffen mit internationalen Medienvertretern hat Kremlchef Wladimir Putin einmal mehr scheinbar einen Frieden in der Ukraine in Aussicht gestellt. In Sankt Petersburg erklärte er am Mittwoch, weiter bereit für direkte Verhandlungen zu sein. Am Ende der Gespräche könnte gar ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten stehen, so Putin: "Ich bin bereit, mich mit allen zu treffen – einschließlich mit Selenskyj." Er zweifelte aber erneut die Legitimität von Wolodymyr Selenskyj an, da dieser seine Amtszeit überschritten habe.
Während Putin in Russland über Frieden spricht, sprechen seine Truppen auf dem Schlachtfeld in der Ukraine eine andere Sprache. Die russischen Soldaten setzen ihre Angriffe insbesondere im Donbass ohne Pause fort. Dazu beschießt Russland die Ukraine in seit Jahresbeginn immer höherer Schlagzahl mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern. In der Nacht zu Dienstag wurden so allein in Kiew mindestens 28 Menschen getötet. Rettungskräfte suchen unter den Trümmern eines Hochhauses weiter nach Opfern.
Die gegensätzlichen Signale, die Putins Aussagen in Russland und sein Vorgehen in der Ukraine senden, sprechen dafür, dass der Krieg aktuell nicht nach den Wünschen des Kremls verläuft. Die russischen Truppen erzielen zwar Geländegewinne entlang mancher Frontabschnitte. Das geschieht allerdings nur langsam und dürfte daher die Laune des Kremlchefs kaum anheben. Der Krieg in der Ukraine ist eine Wette auf die Zeit: Wer den längeren Atem beweist, wird sich am Ende durchsetzen. Absehbar ist dieses Ende aktuell nicht.
"In manchen Nächten fliegen bis zu 500 Drohnen Angriffe auf die Ukraine"
Russland lässt derweil nichts unversucht, um diesen Prozess zu seinen Gunsten zu beschleunigen. Laut dem Militärexperten Markus Reisner besteht die Strategie des Kremls noch immer darin, "den militärisch-industriellen Komplex der Ukraine zu zerstören und die Bevölkerung in die Knie zu zwingen". Dabei setze die Luftwaffe auf Angriffe mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern. "In manchen Nächten fliegen bis zu 500 Drohnen Angriffe auf die Ukraine", berichtet der Oberst des österreichischen Bundesheeres im Gespräch mit t-online.

Zur Person
Oberst Markus Reisner (geboren 1978), ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
Anfang Juni hatte der ukrainische Geheimdienst SBU mit der "Operation Spinnennetz" auf eben jene Kapazitäten der Russen abgezielt. Mehr als 40 russische Flugzeuge sollen bei Drohnenangriffen zerstört oder beschädigt worden sein. Der von der Ukraine gewünschte Effekt der Geheimoperation lässt laut Reisner noch auf sich warten: An den fortgesetzten russischen Luftangriffen lasse sich erkennen, dass die "Operation Spinnennetz" bislang "nicht nachhaltig zu einer Verringerung der russischen Luftkapazitäten geführt hat".
- "Operation Spinnennetz": Kiew plante die Attacke unter den Augen des Kremls
Russlands Generalstabschef inspiziert die Front im Osten
Für die russische Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Kriegsbemühungen spricht wohl auch ein hochrangiger Frontbesuch. Generalstabschef Waleri Gerassimow hat nach Angaben aus Moskau die russischen Besatzungstruppen in der Ostukraine inspiziert. Das Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Video, das den General bei einem Hubschrauberflug ins Frontgebiet und in einem Kommandopunkt bei einer Lagebesprechung der Heeresgruppe Zentrum zeigen soll.
Gerassimow habe die Erfüllung der Kampfaufgaben im Raum Pokrowsk kontrolliert, teilte das Ministerium mit. Bereits vergangene Woche war er laut dem Verteidigungsministerium an der Front gewesen, bei einer Inspektion der Heeresgruppe West. Sein letzter Besuch davor liegt drei Monate zurück. Gerassimow scheint aktuell ein besonderes Interesse zu haben, die russischen Fortschritte zu überwachen.
Wo derzeit der Fokus der Gefechte liegt
Militärexperte Reisner teilt die aktuellen Kampfhandlungen in drei Frontabschnitte ein:
- den Nordabschnitt bei Sumy und Charkiw,
- den Mittelabschnitt zwischen Kupjansk und Pokrowsk sowie
- den Südabschnitt in Saporischschja.
"Der Fokus der Angriffe liegt auf dem Mittelabschnitt zwischen Pokrowsk über Toretsk und Tschassiw Jar bis nach Siwersk und Kupjansk", erklärt der Oberst – also ebendort, wo der russische Generalstabschef die Front zuletzt inspizierte. Reisner weiter: "An dieser Front kristallisiert sich eine russische Taktik heraus: Die Kremltruppen versuchen, kleine Kessel zu bilden, um die ukrainischen Soldaten von mehreren Seiten angreifen zu können." Ein Blick auf den aktuellen Frontverlauf zeigt, dass Russland mit diesen Versuchen durchaus Fortschritte erzielt:
Russland will ukrainische Truppen im Donbass einkesseln
Ihre Bemühungen zur Einkesselung der ukrainischen Verteidiger im Donbass flankieren die russischen Streitkräfte mit Angriffen im Nordosten und Süden des Landes. "Einerseits wollen die Russen damit Putins Auftrag erfüllen, eine Pufferzone zu bilden", erklärt Reisner. Putin hatte im Mai den Auftrag erteilt, entlang der gemeinsamen Grenze mit der Ukraine eine Pufferzone einzurichten, um mögliche neue Vorstöße von Kiews Truppen auf russisches Staatsgebiet zu verhindern.
Doch Russland verfolgt Reisner zufolge sowohl in Sumy und Charkiw als auch am südlichen Abschnitt noch ein weiteres Ziel: "Andererseits erreicht Russland damit, dass die Ukrainer an keinem Frontabschnitt ein Schwergewicht bilden können – schon jetzt fehlen neue Soldaten, und Russland verlängert mit diesen Maßnahmen die Front zusätzlich." Es ist für Kiew so fast unmöglich, an einem Frontabschnitt genug Truppen zusammenzuziehen, um Gegenangriffe vorzunehmen – es bleibt ausschließlich die Verteidigung.
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Dabei haben die Ukrainer es vor allem mit kleinen Angriffsgruppen der russischen Armee zu tun. "Das können Soldaten auf Motorrädern sein oder auch einzelne Infanteristen zu Fuß", erklärt Markus Reisner. "Diese versuchen, zwischen den Stützpunkten der Ukrainer durchzubrechen." Der Experte bezeichnet das zwar als "sehr langsamen Prozess", der die Geländegewinne dennoch anwachsen lasse.
"Der Ukraine-Krieg ist ein Kampf der Ressourcen"
In Richtung Toretsk unternahm Russland laut der US-Denkfabrik "Institute for the Study of War" (ISW) jedoch auch einen größeren mechanisierten Angriff im Umfang eines Zugs, also einer militärischen Einheit von rund 40 Soldaten mit Militärgerät. Die Ukraine will dabei 15 gepanzerte Fahrzeuge der Russen zerstört haben. Laut ISW hatten mechanisierte Angriffe wegen der Gefahr ukrainischer Drohnen zuletzt stark nachgelassen. Der neue Versuch könnte demnach dafür sprechen, dass Russland diesen Frontsektor priorisiert.
Russland hat laut Oberst Reisner neben Geländegewinnen ein weiteres Ziel im Sinn: "Wichtiger aus russischer Sicht ist der abnutzende Effekt", sagt der Militärexperte. "Der Ukraine-Krieg ist ein Kampf der Ressourcen. Wer nicht mehr nachlegen kann, der verliert. Dann kommt es zum Zusammenbruch der Front."
Russland könnte vom Krieg in Nahost profitieren
Ein weiterer Fokus Russlands liegt indes tausende Kilometer weit südöstlich: Der Krieg zwischen Iran und Israel, der seit dem israelischen Großangriff vom vergangenen Freitag läuft. Iran und Russland haben eine strategische Partnerschaft geschlossen. Teheran belieferte Moskau regelmäßig mit Drohnen und Raketen für den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und darüber hinaus stellte der Iran in den vergangenen Jahren den politischen Einfluss Russlands im Nahen Osten sicher. Damit ist es nun wohl vorbei.
- Eskalation zwischen Israel und Iran: "Das ist ein schwerer Rückschlag für Putin"
Markus Reisner erwartet jedoch von dem Krieg in Nahost "keinen unmittelbaren großen Effekt" auf den Krieg in der Ukraine. Iran hat Russland zwar Kamikazedrohnen vom Typ Shahed geliefert, aber auch das nötige Know-how: "Russland produziert die Drohnen iranischer Bauart seit Langem selbst", so Reisner. "Der Austausch von Fähigkeiten war schon vor dem Angriff Israels abgeschlossen."
Der Militärexperte erkennt stattdessen einen positiven Aspekt des neuen Kriegs für den Kreml: Russland profitiere gar davon. "Der Ölpreis steigt und spült frisches Geld in Putins Staatskasse", erklärt Reisner. Angesichts dessen rechnet er nicht damit, dass Russland entschieden Partei für den Iran ergreift: "Das kommt den Russen im Moment gelegener als die aktive und offene Unterstützung des Iran."
- Telefoninterview mit Markus Reisner am 18. Juni 2025
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, June 18, 2025" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa