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35 Jahre Tschernobyl: Ein wahnsinniges Spiel mit dem Feuer


Aus Tschernobyl lernen
Ein wahnsinniges Spiel mit dem Feuer

MeinungVon Matthias Miersch und Michael Müller

Aktualisiert am 26.04.2021Lesedauer: 4 Min.
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Das havarierte AKW Tschernobyl im Jahr 1986: Es war einer der schwersten Störfälle in der Geschichte der Kernkraft.Vergrößern des Bildes
Das havarierte AKW Tschernobyl im Jahr 1986: Es war einer der schwersten Störfälle in der Geschichte der Kernkraft. (Quelle: ITAR-TASS/imago-images-bilder)

Die Katastrophe von Tschernobyl jährt sich heute zum 35. Mal. Der Atomkraft droht mancherorts trotzdem ein Comeback. Sie darf keine Zukunft in Europa haben, meinen SPD-Politiker Matthias Miersch und Naturfreunde-Chef Michael Müller.

Am 26. April 1986 ereignete sich um 1.23 Uhr im Atomkraftwerk Tschernobyl der weltweit schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Atomenergie. Durch technische Mängel und menschliches Fehlverhalten kam es bei einem Experiment zu zwei Explosionen, die eine massive Freisetzung von Radioaktivität nach sich zogen. In Tschernobyl trat fünfmal so viel Radioaktivität aus wie beim Atomunfall in Fukushima.

Die damalige Supermacht UdSSR wollte die Katastrophe vertuschen, sie war nicht nur ein gigantisches Unglück, sondern wurde auch zu einem politischen und moralischen Desaster. Der Ministerrat gab erst fast zwei Tage später eine dürre Erklärung heraus: "Im Kernkraftwerk von Tschernobyl hat sich eine Havarie ereignet. Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen eingeleitet."

Im 120 Kilometer entfernten Kiew fand wenige Tage später, am 1. Mai, sogar noch die Mai-Parade statt, obwohl der Wind vom Ort der Katastrophe her wehte. Die Menschen wurden in erster Linie über das Ausland informiert, wo zum Teil erschreckend hohe Strahlenwerte gemessen wurden. Im Kraftwerk selbst waren nur völlig untaugliche Dosimeter vorhanden, die den Beschäftigten eine Scheinsicherheit vorgaukelten. Das einzig taugliche Messgerät war in einem Tresor eingeschlossen.

Bis heute keine Klarheit über die Zahl der Toten

Eine Fläche von mehr als 200.000 Quadratkilometern in ganz Europa wurde kontaminiert. Über 300.000 Menschen verloren ihre Heimat. Über die Zahl der Toten gibt es bis heute keine Klarheit, offiziell wurden nur 31 angegeben. In der Ukraine und besonders in Weißrussland, wo rund 70 Prozent des radioaktiven Fallouts niederging, stieg die Krebsrate rasant an, insbesondere bei Kindern. "Tschernobyl-AIDS", wie die Zerstörung der Körperabwehr genannt wurde, nahm rasant zu.

Matthias Miersch ist Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion und dabei für die Politikfelder Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Tourismus zuständig. Michael Müller ist Vorsitzender der Naturfreunde Deutschlands. Er war von 1983 bis 2009 für die SPD im Bundestag und von 2005 bis 2009 Staatssekretär im Umweltministerium.

Der Super-GAU von Tschernobyl, an den wir in diesen Tagen erinnern, wurde zu einem Wendepunkt. Die Katastrophe führte uns vor Augen, dass das Risiko der Atomkraft nicht nur eine theoretische Größe ist. Der größte anzunehmende Unfall war eingetreten, mit verheerenden Konsequenzen. In der Bevölkerung kam es zu einem dauerhaften Umdenken. Die Wolke von Tschernobyl wurde zum Symbol für die Unbeherrschbarkeit dieser Technik, für ein wahnsinniges Spiel mit dem Feuer.

Der Traum von der technischen Beherrschbarkeit

Dennoch halten viele Staaten an der Atomkraft fest, der Traum von der technischen Beherrschbarkeit geht weiter. Tschernobyl gab aber denjenigen Recht, die schon lange vor den Gefahren der Atomkraft gewarnt hatten. Und weil Atomkraftgegner über viele Jahre wie Staatsfeinde verschmäht wurden, ist uns sehr wichtig zu sagen: Das Gegenteil ist richtig. Sie haben sich um unser Land verdient gemacht. Wir danken all diesen Menschen ganz ausdrücklich.

Aber es dauerte leider bis zum Atomunfall in Fukushima im Jahr 2011, bis alle Bundestagsfraktionen vom Atomausstieg überzeugt waren. Doch nun droht der Atomkraft sogar ein spätes Comeback: In der internationalen Klimaschutz-Debatte wird von manchen Akteuren – sogar von einigen Klimawissenschaftlern – die Atomkraft als vermeintliche Lösung für den Klimaschutz gepriesen.

Auf europäischer Ebene setzten sich Länder wie Frankreich sogar dafür ein, Investitionen in Atomkraft als nachhaltig zu labeln. Doch Atomkraft ist das Gegenteil von nachhaltig. Der Einsatz von Atomkraft ist kurzsichtig und egoistisch.

Durch ihren Zwang zum expansiven Stromverbrauch ist die Atomkraft klimaschädlich, wie der Bundestag bereits 1990 festgehalten hat. Sie müssen immer Volllast laufen und blockieren Einsparalternativen. Zudem hinterlassen Atomkraftwerke Unmengen giftigen Mülls, für den es bis heute keine endgültige Lösung gibt.

Eine kurze und teure Geschichte für Deutschland

In Deutschland war die Atomkraft eine kurze und teure Geschichte, deren Folgen die nächsten 30.000 Generationen zu bezahlen haben. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Versicherungen mögliche Unfälle von AKWs nicht abdecken.

Wenn aber die Nutzung der Atomkraft in der EU nicht adäquat bepreist wird, entsteht eine fatale Wettbewerbsverzerrung. Atomkraft darf in Europa keine Zukunft haben. Als wichtigen Zwischenschritt brauchen wir analog zur CO2-Bepreisung ein Preissignal für Atomkraftwerke, das die immensen Folgekosten und Risiken der Atomkraft abbildet.

Der Generationenkonflikt um die richtigen Energieträger ist in Deutschland entschieden. Als einziges hochindustrialisiertes Land steigt Deutschland nicht nur aus der Atomenergie, sondern auch aus der Kohle aus. Stattdessen setzen wir auf erneuerbare Energien und eine Effizienzrevolution.

Die Energiewende beendet die Abhängigkeit von endlichen fossilen Ressourcen und sie hat damit auch eine friedenspolitische Dimension. Die Stromversorgung mit neuen Technologien und aus erneuerbaren Energien steckt voller Chancen für eine klimafreundliche und bezahlbare Energieversorgung, sie schafft Arbeitsplätze und fördert Innovationen sowie Wertschöpfung im eigenen Land. Und sie stärken unsere Exportwirtschaft im Bereich der Zukunftstechnologien.

Zwei große Denkfehler

Heute erkennen wir zwei große Denkfehler des letzten Jahrhunderts: Die Naturvergessenheit und der Glaube an die Allmacht der Technik. Diese Fehler können wir nur mit tiefgreifenden sozial-ökologischen Strukturreformen bewältigen.

Diese Modernisierung braucht mehr Demokratie, dezentrale Strukturen und transparente Entscheidungen, auch und gerade in der Energiepolitik. Um mehr Freiheit und Chancengerechtigkeit für alle zu verwirklichen, muss die Dynamik der Wirtschaft und die Nutzung der Technik mit den sozialen und kulturellen Anforderungen der Zukunft in Einklang gebracht werden.

Das ist die Leitidee der Nachhaltigkeit. Zu ihr gehören mehr soziale Gerechtigkeit, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und Innovationen, die Arbeit, Kapital und Technik so gestalten, dass Ökonomie, Soziales und Natur in ein dauerhaftes Gleichgewicht kommen – dafür stehen wir in der Klimapolitik.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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