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Kampf um Downing Street in Großbritannien: Aufzug oder Treppenhaus?


Kampf um Downing Street
Aufzug oder Treppenhaus?

  • David Schafbuch
David Schafbuch, Norwich

Aktualisiert am 01.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Einschätzung der Lage: t-online Redakteur David Schafbuch war in Norwich vor Ort. (Quelle: t-online)

Wer wird Nachfolger von Boris Johnson? In Norwich buhlen Liz Truss und Rishi Sunak um die Gunst ihrer Partei. Doch auch ein anderer Politiker steht im Fokus.

Schnell soll es gehen: Bevor sich Liz Truss und Rishi Sunak den Fragen der Parteimitglieder stellen müssen, startet Moderatorin Julia Hartley-Brewer eine Fragerunde. So möchte sie etwa wissen: Ist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Freund oder Feind?

Der ehemalige Finanzminister Sunak antwortet sofort mit Freund, keine Reaktion im Publikum, nächste Frage. Truss, immerhin seit vergangenem Jahr Außenministerin, macht eine kurze Pause, ehe sie sagt: "Das Urteil steht noch aus." Die Ansage sitzt: Das brexitverliebte Tory-Publikum applaudiert. Schließlich lodern seit dem EU-Ausstieg immer wieder Streitereien zwischen den Ländern auf. Erst drei Tage zuvor waren aus Frankreich fast 1.300 Migranten mit Booten in Großbritannien angekommen – ein Tagesrekord.

Es ist Donnerstagabend in der Kleinstadt gut zwei Autostunden nordöstlich von London: In einem Konferenzraum eines Hotels findet die vorletzte Runde der sogenannten "Hustings" statt. In den letzten Wochen sind Truss und Sunak durch ganz Großbritannien getourt, warben in Fragerunden vor der Parteibasis für sich. Die weißen Wände sind parteigetreu in leicht blaues Licht getaucht. An der Decke umringen gelbe und weiße Lampions eine Discokugel. Das Publikum: Überwiegend weiß, männlich und älter. Im Hintergrund läuft kurz vor Beginn der AC/DC-Klassiker "Thunderstruck".

Truss in Umfragen weit vorne

Mit einer weiteren Schnellfrage will die Moderatorin herausfinden, wer denn der bessere Premier sei: Boris Johnson oder der jeweilige Konkurrent. Sunak, ohnehin selten auf Konfrontation mit Truss aus, nennt schnell den Namen der Außenministerin – und holt dann doch zu einem längeren Monolog aus: Man müsse nach vorne schauen statt zurück. Schließlich sei man immer noch im selben Team.

Truss fasst sich kürzer, ihre Antwort: Boris Johnson. Moderatorin Hartley-Brewer macht große Augen.

Es sind die schnellen Fragen, die an diesem Abend nicht nur für die überraschendsten Antworten sorgen. Sie zeigen auch den entscheidenden Unterschied zwischen den Kandidaten: Truss weiß die Seele der Konservativen zu streicheln, während Sunak eher das ganze Land im Blick hat – und wohl auch deshalb das Rennen um Parteivorsitz und Downing Street verlieren wird.

Erst wenige Tage zuvor hatte eine YouGov-Umfrage gezeigt, dass 55 Prozent der Parteimitglieder der Meinung sind, es sei ein Fehler gewesen, Johnson zu einem Rücktritt zu drängen. In derselben Umfrage wird Truss ein Vorsprung von mehr als 30 Prozent gegenüber Sunak prognostiziert. Die mehr als 160.000 Tory-Mitglieder entscheiden mit ihrer Wahl, wer am 5. September Johnson nicht nur als Parteichef ablöst, sondern auch der nächste britische Premierminister wird.

Wer sich allerdings an diesem Abend in Norwich an der Parteibasis umhört, findet viele Unentschlossene – und das, obwohl der Wahlkreis von Truss in der Region liegt. Als die Moderatorin zu Beginn fragt, wer seine Stimme noch nicht abgegeben hat, gehen fast die Hälfte aller Hände im Saal nach oben. Nicht viel weniger Arme bleiben in der Luft, als die Frage folgt, wer noch nicht entschieden hat, wem er seine Stimme geben möchte.

"Bewundernswerte Konservative"

Zu den vielen eher Unentschlossenen zählt auch Graham: Bart, kurze Haare, Pullover über dem gestreiften Hemd. Insgesamt sei es ein knappes Rennen zwischen den beiden Kontrahenten. Sowohl Truss als auch Sunak seien "bewundernswerte Konservative" und eine gute Wahl. Bei genauerer Betrachtung aber tendiere er gerade leicht zu Sunak, erklärt er vor dem Hotel, als die Veranstaltung zu Ende ist.

Seine Partei müsse sich fragen: Wer kann in dieser schwierigen Situation Großbritannien am besten repräsentieren? "Meine Antwort wäre wohl Rishi". Dessen erste Aufgabe als Premier müsse es sein, die Krise der Lebenshaltungskosten zu bewältigen. Aber auch der Umweltschutz müsse endlich stärker in den Fokus rücken. Sein Ratschlag: "Sie sollten mehr auf Sebastian Vettel hören." Der deutsche Formel-1-Fahrer, im Dienste des britischen Rennstalls Aston Martin, hat in den letzten Jahren den Klimaschutz für sich entdeckt.

Shuna, eine ältere Frau mit angegrauten Haaren, ordnet im Foyer der Halle die Kontrahenten folgendermaßen ein: Sunak sei vermutlich der Kandidat, der nationaler denke. Der Blick von Truss gehe dagegen wohl auch wegen ihres Amtes häufiger über die britischen Grenzen hinaus. Das imponiere ihr, weil sie selbst schottische und irische Wurzeln habe. Aber wem würde sie nun die Stimme geben? "Vermutlich eher Rishi, denn er würde sich mehr um die Umwelt kümmern."

Kostenkrise das bestimmende Thema

An diesem Abend sind allerdings die explodierenden Kosten das allumspannende Thema – und auch das, bei dem sich Sunak und Truss wohl am meisten unterscheiden. Mit mehr als 10 Prozent ist die Inflation auf der Insel so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die gesetzliche Preisdeckelung für Strom und Gas wurde bereits deutlich erhöht. Und sowohl bei Inflation als auch bei Energiepreisen gehen Analysten davon aus, dass das Ende der Entwicklung noch lange nicht erreicht ist.

Truss will dem mit Steuersenkungen entgegentreten: Die Sozialversicherungsbeiträge müssten gekürzt, die Ökostromumlage ausgesetzt werden und die Körperschaftssteuer niedrig bleiben. Als harte Brexit-Vertreterin, zu der Truss erst nach dem Referendum von 2016 wurde, wolle sie zudem "alle diese EU-Gesetze" loswerden. Denn die blockieren in ihren Augen die britische Wirtschaft: "Wir müssen die Post-Brexit-Gelegenheiten nutzen."

Sunak hat andere Vorstellungen: Er werde erst die Steuern senken, wenn die Inflation zurückgegangen ist. Er plane zunächst lediglich, die Mehrwertsteuer bei Energierechnungen zu streichen. Was genau er sonst machen will und was das kosten soll, lässt er an diesem Abend weitgehend offen. Seine eigenwillige Erklärung: "Niemand kann sagen, dass das, was ich vorhabe, nicht genug ist. Denn ich habe noch keine konkrete Summe genannt, weil es schwierig ist, das zu tun." Im Fokus seiner Politik seien für den Winter aber vor allem Geringverdiener und Rentner.

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"Werden wie Scheiße behandelt"

Dass vor allem die Geringverdiener nicht unbedingt zum Kernpublikum der Konservativen zählen, das weiß auch Sunak. Der Großteil der Konservativen stammt aus besserverdienenden Schichten, die von Steuerkürzungen eher profitieren würden. Mit einem großen Hilfspaket hatte er sich allerdings schon in der Corona-Pandemie als Finanzminister bei der Bevölkerung beliebt gemacht.

Vor der Halle in Norwich glaubt dagegen niemand, dass einer der beiden Kandidaten die großen Probleme der Briten lösen kann. Dort haben sich rund 100 Gegendemonstranten zusammengefunden. Viele geben sich zu erkennen als Umweltschützer von Extinction Rebellion, Anhänger der Grünen, Sozialisten oder Brexit-Gegner. "Hart arbeitende Menschen werden wie Scheiße behandelt", klagt eine Demonstrantin. In ihrer Hand hält sie ein Schild mit der Überschrift "Der moralische Kompass der Tories". Darunter ist ein Kompass gezeichnet, dessen Pfeile alle auf dasselbe Wort zeigen: Gier. Wer oder welche Partei das besser machen könnte, wisse sie allerdings auch nicht.

Ein Mann, der sich als James vorstellt, beklagt, dass es bereits viel zu lange eine Hängepartie um die neue Regierung gebe. Fast zwei Monate ist es her, dass Boris Johnson seinen Rückzug aus der Downing Street angekündigt hat. In der Zwischenzeit hatte der scheidende Premier die Ukraine erneut ohne Ankündigung besucht und neue Waffenlieferungen in Aussicht gestellt.

Für viele Beobachter, wie auch für James, sieht es allerdings so aus, als habe der Regierungschef seine Arbeit weitgehend eingestellt. Vor der Downing wurden bereits Umzugslaster gesichtet. Johnson hängte an seine Flitterwochen in Slowenien noch einen Urlaub in Griechenland dran. "Wenn Sunak schon als Finanzminister mit Johnson nicht mehr klarkam, warum hat er nicht einen sofortigen Rücktritt von ihm gefordert?", würde James gerne von dem Politiker wissen. Doch abgesehen von der Presse haben bei den "Hustings" nur Parteimitglieder Zutritt.

"Müssen Labour stoppen"

Im Saal ist die Frage trotzdem Thema – allerdings nur am Rande. Sunak bügelt sie damit ab, dass ein Blick in die Vergangenheit nicht hilfreich sei. Ansonsten herrscht zwischen den Kandidaten viel Gleichklang: Militär und Polizei? Müssen gestärkt werden. Eine trans Frau? Ist keine Frau. Die Corona-Pandemie? Wurde trotz der höchsten Todeszahl in Europa mit zu harten Maßnahmen bekämpft. Außenpolitisch setzt Truss mehr Akzente, während Sunak den Ukraine-Krieg mit keiner Silbe erwähnt. Umgekehrt wird er konkreter beim Klimaschutz.

Einig ist man sich auch, dass der eigentliche Gegner nicht in den eigenen Reihen steht, sondern in der Labour-Partei. Der Parteichef der Sozialdemokraten, Keir Starmer, ist zwar an diesem Abend nicht in Norwich, wirkt aber omnipräsent: Auf Plakaten werben sowohl Truss als auch Sunak damit, dass sie Labour bei den nächsten Parlamentswahlen schlagen werden. Auch in einem kurzen Video vor Beginn der Veranstaltung flammt die Parole auf: "Wir müssen Labour stoppen".

Ob Sunak oder Truss lieber in einem Fahrstuhl mit Starmer oder der schottischen Regierunschefin Nicola Sturgeon stecken bleiben würden, will die Moderatorin von beiden wissen: Sunak würde die Treppe nehmen. Truss ziehe Sturgeon vor, um ihr auszureden, erneut ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten.

Für ihre Antworten ernten beide Politiker Lacher aus der Menge. Doch wer auch immer ab September für Johnson übernimmt, dürfte wohl noch genauer Richtung Labour blicken. Aktuelle Umfragen sehen die Sozialdemokraten landesweit deutlich vor den Konservativen.

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