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Dramatische Zustände in Italien: Wie die zweite Corona-Welle Italien überrollt


In der roten Zone
Wie die zweite Corona-Welle Italien überrollt

Hans-Jürgen Schlamp, Rom

Aktualisiert am 17.11.2020Lesedauer: 5 Min.
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Krankenhaus in Rom: Ein Patient erhält Sauerstoff, das Land wurde von der zweiten Welle des Coronavirus schwer getroffen.Vergrößern des Bildes
Krankenhaus in Rom: Ein Patient erhält Sauerstoff, das Land wurde von der zweiten Welle des Coronavirus schwer getroffen. (Quelle: Alessandra Tarantino/ap-bilder)

Italien wurde bereits einmal schwer vom Coronavirus getroffen, jetzt wütet die zweite Welle. Mit drastischen Maßnahmen will die Regierung gegensteuern.

San Camillo-Forlanini ist ein großes und altehrwürdiges, gleichwohl modern ausgestattetes Krankenhaus mitten in Rom. Wer dort eingeliefert wird, muss keine langen Wartezeiten fürchten, garantiert die Klinik in ihrem schicken Internetauftritt. Dringende Fälle werden in der Notaufnahme binnen 15 Minuten erstbehandelt, selbst Patienten ohne jede Dringlichkeit würden innerhalb von vier Stunden untersucht. Vielleicht war das früher ja tatsächlich so – jetzt ist es anders.

"Das Krankenhaus ist schlimmer als die Krankheit", klagte Bruno Q., 58 Jahre alt, einem Reporter der Tageszeitung "La Repubblica" sein Leid. Am 30. Oktober eingeliefert, verbrachte er 12 Tage auf einer Liege im Korridor gemeinsam mit über 100 anderen Kranken – 70 von ihnen positiv auf Corona getestet. An manchen Tagen kam das Essen nicht, weil – wie die Krankenschwestern sagten – die Küchenhelfer aus Angst vor Ansteckung nicht zur Arbeit erschienen. Erst nach großem Geschrei und der Drohung, die Carabinieri zu rufen, erzählte Bruno Q., bekamen die Flur-Patienten etwas zu essen: Eine Dose Thunfisch, Salat, einen Apfel.

Italien in drei Farben

So geht es nicht nur in Rom zu, sondern in vielen Städten und Regionen. Italiens Gesundheitswesen steht vor dem Zusammenbruch. Es ist der neuerlichen epidemischen Welle ganz offensichtlich nicht gewachsen.
27.354 Neuansteckungen wurden am Sonntag gemeldet und 504 Todesfälle (nach 544 am Samstag). Damit sind in der Coronavirus-Epidemie insgesamt rund 1,2 Millionen infiziert worden und etwa 45.000 Menschen gestorben. Bislang.

Die römische Regierung reagierte jetzt, ähnlich wie bei der ersten Welle im Frühjahr, mit drastischen Maßnahmen. Dazu hat sie das Land, entsprechend der regionalen Covid-Bedrohung, in drei Farbzonen geteilt:

Gelb gilt für fünf Regionen, von Sardinien bis Venetien, die keinen größeren Einschränkungen unterworfen werden;

Orange sind neun Regionen gefärbt, vor allem im Süden, aber auch Umbrien gehört dazu, die Emilia Romagna, die Marken und Friaul. Dort dürfen sich die Bewohner in ihren Kommunen weitgehend frei bewegen, aber es ist ihnen verboten, in andere Orte oder Regionen zu fahren. Ausnahmen gelten für den Weg zur Arbeit, dringende Arztbesuche und Ähnliches.

Richtig hart wird es in der roten Zone, zu der das Piemont, die Lombardei, Kalabrien, das Aosta-Tal, die autonome Provinz Bozen und seit Sonntag auch Kampanien und die Toskana gehören. Hier wird das Leben arg beschnitten: Die Bürger dürfen sich nur innerhalb ihrer Kommune bewegen und auch das nur aus triftigem Grund: Zur Arbeit, zum – notwendigen! – Einkauf und zum Arzt. Bars und Restaurants sind geschlossen, dürfen allenfalls "außer Haus" verkaufen. Die meisten anderen Geschäfte, die keine Lebensmittel, Medikamente oder Zigaretten verkaufen, werden zwangsweise geschlossen, ebenso wie Universitäten. Schulen bleiben für die unteren Jahrgänge geöffnet, die älteren müssen via Internet zu Hause lernen.


In der roten Zone, in der fast die Hälfte der Italiener leben, dürfen sich mithin Freunde oder Verwandte nicht besuchen, darf man nicht gemeinsam Sport treiben oder spazieren gehen. Skandalös finden das viele, allen voran der toskanische Regionalpräsident Eugenio Giani: Die Infektionszahlen in seiner Toskana gingen nach unten, der R-Faktor liege mit 1,2 am unteren Ende. Aber mithilfe alter Zahlen, die längst nicht mehr aktuell seien, werde die Toskana zum Krisengebiet gestempelt. "Absurd" sei das. Genauso sehen das viele Bewohner der roten Zonen.

Bei der Arbeit gestorben: 189 Ärzte, 46 Schwestern und Pfleger

"Ich weiß, dass wir weitere Opfer verlangen, aber es gibt keinen anderen Weg, wenn wir die Zahl der Todesopfer senken, die Ansteckungen eindämmen und einen unerträglichen Druck auf unser Gesundheitssystem verhindern wollen", begründete Gesundheitsminister Roberto Speranza die restriktiven Maßnahmen der Regierung.

Vermutlich hat er ja recht. Jetzt. Nur vielleicht hätte man ja auch rechtzeitig Vorsorge treffen und den medizinischen Sektor ausbauen und stärken können, nach den desaströsen Erfahrungen im Frühjahr, als die Bilder der mit Särgen beladenen Armeelaster in Norditalien die ganze Welt schockierten. Schließlich hatten fast alle Fachleute frühzeitig eine zweite Epidemie-Welle für den Herbst prophezeit. Dass nicht nur Intensivbetten, sondern auch Ärzte und Krankenschwestern allerorten fehlen, war lange bekannt.

An denen liegt es bestimmt nicht, wenn das System nun wieder vor dem Katastrophenfall steht. Viele arbeiten 12 Stunden und mehr am Tag. 189 Ärzte hat ihr Einsatz seit Beginn der Epidemie das Leben gekostet. Von den Schwestern und Pflegern sind 46 gestorben, 25.000 haben sich, so deren Berufsverband "Fnopi", infiziert.

Italiens Gesundheitssystem: Seit Langem skandalös

Es liegt am Überbau des Gesundheitsapparates, an der Politik und der Bürokratie. Dort gilt seit Langem ein großer Teil der Verantwortlichen als unfähig oder unwillig. In der Lombardei zum Beispiel, orderte das Gesundheitsressort kürzlich 400.000 Einheiten eines Influenza-Impfmittels. Dumm nur, dass es keine Zulassung der italienischen Behörden hat. Auf die Schnelle musste die gleiche Menge, zu noch höheren Preisen, in den USA nachgekauft werden.

In Kampanien stießen Inspekteure aus Rom auf dem Parkplatz eines Krankenhauses auf elf Pkw, in denen Patienten mit Sauerstoff aus einer Flasche versorgt wurden. Was die Prüfer eigentlich suchten, aber weder dort noch in drei weiteren Krankenhäusern fanden, war ein Konzept für die sich längst abzeichnende Wiederkehr der Epidemie.

Nicht einmal die schlichtesten Abläufe funktionieren zuverlässig: So wandte sich eine junge Römerin an eine Zeitung, weil sie 25 Tage in ihrer kleinen Wohnung allein in Quarantäne bleiben musste, obwohl sie seit 20 Tagen einen negativen Testbefund hatte. Das Gesundheitsamt reagierte auf ihre Mails und Anrufe schlicht nicht. Und ohne dessen schriftliche Erlaubnis durfte sie die Wohnung nicht verlassen. Ganz gewiss, heißt es in der Gesundheitsbranche, sei das kein Einzelfall – die Gesundheitsämter seien berüchtigt für ihr professionelles Desinteresse.

Schlimme Zustände im Land

Krankenhausskandale sind in Italien seit Jahren an der Tagesordnung. Mal sterben in Apulien acht Herzpatienten in der neuen Intensivstation, weil sie statt mit Sauerstoff mit Stickstoff beatmet wurden. Mal bekommen drei Menschen in Florenz Leber und Nieren einer an HIV verstorbenen Patientin. Jetzt schockiert gerade ein Video, das im Netz zirkuliert: Es zeigt nicht nur Notbetten mit Patienten im Flur eines neapolitanischen Krankenhauses, sondern zudem einen Mann, der tot im Waschraum eines Krankenhauses in Neapel liegt. Die näheren Umstände sind noch unklar.

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Aber sie zeigten, so schrieb Außenminister Luigi Di Maio am Mittwochabend auf Facebook, dass die Lage in den Krankenhäusern "in Neapel und in vielen Teilen Kampaniens außer Kontrolle" sei.
Das miserable Gesundheitswesen durch radikale Einschnitte in die Privat- wie in die Geschäftssphäre vor dem Kollaps zu bewahren, wie die Regierung sagt, hat natürlich ihren Preis.

Mittelschicht bettelt bei der Caritas

Vor allem in den roten Zonen stehen Tausende kleine Betriebe vor der Pleite: Restaurants, kleine Textilläden in den verödeten Straßen und Gassen, in denen sich einst Touristen drängten, Bars, die allenfalls noch einen Espresso "to go" verkaufen dürfen. Die Regierung verspricht zwar großzügige Hilfen für alle – 38 Milliarden Euro soll ein neues Finanzprogramm enthalten und en passant Italiens Verschuldung noch ein großes Stück nach oben treiben –, aber bis die Hilfsgelder die notleidenden Empfänger erreichen, könnten viele von denen längst pleite sein. Und nicht wenige sind schon jetzt finanziell am Ende oder werden ohnehin nie in den Genuss solcher Staatsgelder kommen.

Manche von ihnen lernen die Akteure der katholischen Hilfsorganisation Caritas jetzt kennen. Um 500 Prozent habe sich die Nachfrage nach Carepaketen bei ihm erhöht, erzählt Don Enzo Capitani, Caritas-Leiter in der toskanischen Provinzhauptstadt Grosseto, in einem Zeitungsinterview.

Und es seien nicht nur viel mehr Menschen gekommen, sondern auch ganz andere: Schausteller etwa, die mit ihren Kirmesgeschäften hier gestrandet sind, Schwarzarbeiter, die auf den Feldern, in den Haushalten oder in Restaurantküchen gearbeitet haben und die keinerlei Ansprüche auf Arbeitslosengeld oder dergleichen haben, saisonal Beschäftigte aus der Tourismusbranche und auch manche, die bislang zur gut verdienenden Mittelschicht gehörten: Handwerker und Geschäftsleute, die plötzlich nicht einmal mehr ihre Strom- oder Gas-Rechnung bezahlen können.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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