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Konflikt mit Russland | Ukrainer klagt: "Wir leben schon seit Jahren im Krieg"


Ärger über Deutschland
"Das ist für die meisten Ukrainer vollkommen unverständlich"

InterviewVon Nils Kögler

Aktualisiert am 27.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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Ukrainische Soldaten: Wie blicken die Ukrainer selbst auf die aktuelle Krise an der Grenze ihres Landes?Vergrößern des Bildes
Ukrainische Soldaten: Wie blicken die Ukrainer selbst auf die aktuelle Krise an der Grenze ihres Landes? (Quelle: Serhii Hudak/imago-images-bilder)

Russische Truppen stehen an der Grenze zur Ukraine. Eine Invasion scheint möglich. Wie reagieren Ukrainer darauf? Der Autor Juri Durkot berichtet – unter anderem von großer Enttäuschung über Deutschland.

Die Welt hält den Atem an: Seit Wochen stehen mehr als Hunderttausend russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine. Experten schließen nicht mehr aus, dass Russlands Präsident Wladimir Putin seine Truppen in das Land einmarschieren lässt. Die westlichen Staaten sind alarmiert, Vertreter verhandeln angestrengt mit russischen Diplomaten.

Doch wie blicken die Ukrainer selbst auf die aktuelle Krise und wie beurteilen sie Deutschlands Rolle in dem Konflikt? Darüber hat t-online mit Juri Durkot gesprochen. Der Journalist und Autor lebt in Lemberg im Westen der Ukraine und erlebt die Krise hautnah.

t-online: Herr Durkot, rechnen Sie mit einer Invasion Russlands in der Ukraine?

Juri Durkot: Wir wissen natürlich nicht, was in den Köpfen der russischen Führung vor sich geht. Dass Russland seine Soldaten in die Ukraine schicken und das Land militärisch angreifen könnte, ist nicht ausgeschlossen. In Wirklichkeit leben wir aber schon seit Jahren in einem Krieg, der nie aufgehört hat. Nach der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass sind wir in einer Situation, in der Russland im Grunde genommen ständig angreift.

(Quelle: Privat)


Juri Durkot (geb. 1965) studierte Germanistik in Lemberg und Wien. Er arbeitet als freier Journalist, Publizist und Übersetzer. Durkot lebt in L'viv/Lemberg im Westen der Ukraine.

Im Westen wirken die aktuellen Entwicklungen eher wie ein "Hallo-wach-Moment". Sind die Ukrainer nicht aufgeschreckt?

Alle Menschen in der Ukraine haben sich an die Situation angepasst. Die Wahrnehmung heute ist eine ganz andere als in den ersten Wochen des Krieges um Donbass 2014. Ich kann mich erinnern, dass damals alle am Morgen sofort überprüft haben, was in der Nacht passiert ist. Mittlerweile hat diese Auseinandersetzung mehr als 13.000 Opfer gefordert und es klingt vielleicht zynisch, aber psychologisch müssen wir uns darauf einstellen, dass wir im Krieg leben. Man kann nicht acht Jahre mit derselben Anspannung leben.

Was heißt das konkret? Wie reagieren die Menschen im Alltag?

Angesichts der drohenden Invasion ziemlich gelassen. Es gibt keine Hamsterkäufe, niemand hortet Unmengen an Toilettenpapier oder Nudeln. Es gibt keine Schlangen in den Supermärkten. Im Grunde herrscht also ein fast normales Leben, wenn da nicht die psychologische Kriegsführung Russlands wäre. Allein in den ersten 20 Tagen des Jahres sind knapp 340 Meldungen eingegangen über Sprengstoffe, die angeblich in öffentlichen Gebäuden – Schulen, Universitäten, Bahnhöfen, Flughäfen, Verwaltungen, U-Bahn-Stationen – platziert wurden.

Und Russland steckt hinter diesen Meldungen?

Diese Meldungen kommen entweder direkt aus Russland oder aus den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten. Sie waren alle falsch, aber die Polizei muss jede Warnung einzeln überprüfen und das passiert in jeder größeren ukrainischen Stadt.

Wie reagiert die ukrainische Politik auf die Situation?

Der Präsident versucht die Bevölkerung zu beschwichtigen, aber die Ukrainer haben wenig Vertrauen in die Politik. Ihr Vertrauen gilt der Armee. An zweiter Stelle kommen in den Umfragen dazu die freiwilligen Helfer, die die Armee unterstützen. Immerhin war es so, dass ganz normale Ukrainerinnen und Ukrainer im Jahr 2014 das Land vor einem weiteren Vorrücken der russischen Truppen und der prorussischen Separatisten gerettet haben. Heute ist die Armee deutlich besser aufgestellt, aber die Hilfsbereitschaft ist geblieben.

Das klingt nach großer Einheit, dabei besteht im Westen häufig die Annahme, die Ukraine sei geteilt. Während der Westen des Landes Europa zugeneigt sei, orientiere sich der Osten eher in Richtung Russland. Stimmt das überhaupt?

Das ist eine stark vereinfachte Darstellung. Dabei darf die Sprache nicht mit der Politik verwechselt werden. Klar, im Westen der Ukraine wird ukrainisch gesprochen, während im Osten überwiegend russisch gesprochen wird. Das entspricht aber nicht der geopolitischen Einstellung.

Abgesehen davon hat sich die Situation nach der Annexion der Krim und dem Krieg in Donbass 2014 stark verändert. Heute unterstützen die meisten Ukrainer den Nato-Beitritt des Landes. Außerdem gibt es starke Unterschiede zwischen den Generationen. Die jungen Menschen unterstützen mittlerweile auch im Osten sowohl den EU- als auch den Nato-Beitritt. Bei der älteren Generation mag das noch etwas anders aussehen.

Man könnte also sagen: Russland hat durch sein aggressives Vorgehen seit 2014 genau das Gegenteil seiner Ziele erreicht. Die Ukraine wendet sich stärker ab?

Genau. In der Ukraine gibt es momentan nur noch eine kleine prorussische Opposition im Parlament, die aber auch in keiner leichten Situation ist. Sie bekommen nicht viel mehr als zehn Prozent der Stimmen. Das war vor 2014 noch ganz anders. Damals gab es immer ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den europäischen Parteien und den prorussischen Parteien.

Außerdem haben sich die Handelsströme der Ukraine seit 2014 komplett verändert. Mittlerweile handelt das Land viel mehr mit der Europäischen Union als mit Russland. Die Ukraine kauft zum Beispiel seit mittlerweile sechs bis sieben Jahren kein Gas mehr von Russland. Das heißt nicht, dass das Land gar kein russisches Gas mehr verbraucht, aber es kauft es jetzt von europäischen Ländern und nicht mehr direkt von Russland – interessanterweise ist das sogar billiger.

Die zentrale Forderung Russlands ist eine schriftliche Garantie, dass die Ukraine nie Mitglied des westlichen Militärbündnisses Nato wird. Was, wenn der Westen nachgibt?

Dafür gibt es bislang keine konkreten Anzeichen und wir verstehen, dass die Nato nicht militärisch für die Ukraine kämpfen wird. Vielmehr sind die Ukrainer in dieser Situation der direkten Bedrohung besonders enttäuscht darüber, dass die Nato uns und Georgien 2008 nicht die Mitgliedschaftsperspektive eröffnet hat. Nur wenige Monate später sind die Russen in Georgien einmarschiert.

In diesem Zusammenhang beobachten wir hier auch besonders kritisch und aufmerksam, was die deutschen Politiker sagen. Deutschland betont sehr stark, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied werden kann und die Ukraine bekommt keine Waffenlieferungen aus Deutschland.

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Sind viele Ukrainer enttäuscht von Deutschland?

Ja, auf jeden Fall. Es wird immer schwieriger, die deutsche Haltung nachzuvollziehen. Eine renommierte ukrainische Zeitung hat vor wenigen Tagen ein Editorial veröffentlicht, indem die Redaktion die Meinung vertritt, dass die ukrainisch-deutschen Beziehungen auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Auch wenn die Bundesrepublik die Ukraine in der Vergangenheit in vielen Bereichen tatkräftig unterstützt habe, öffne ihre heutige Politik – so schreibt es die Zeitung – dem Krieg die Tür.

Sogar einige deutsche Experten für Sicherheitspolitik und Osteuropa sind einer ähnlichen Meinung. Sie haben in der "Zeit" einen offenen Brief veröffentlicht, indem sie eine grundlegende Kurskorrektur verlangen und feststellen, dass Deutschland in den vergangenen 30 Jahren mehr oder weniger tatenlos beim Vorgehen des Kremls zugeschaut hat. Es ist richtig, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung in Europa hat. Zu dieser Verantwortung gehört aber auch, dass keine Wirtschaftsprojekte realisiert werden, die für andere Staaten eine existenzielle Gefahr darstellen.

Sie sprechen von der Gaspipeline Nord Stream 2.

Genau. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie solche Projekte politisch instrumentalisiert und als Druckmittel eingesetzt werden. Außerdem besteht die deutsche Verantwortung auch darin, einen Staat nicht schutzlos und wehrlos dem Aggressor auszuliefern. Die Amerikaner und die Briten liefern mittlerweile defensive Waffen an die Ukraine. Damit wächst auch der Druck auf Deutschland. Es wäre falsch zu argumentieren, dass die Waffenlieferungen den Aggressor provozieren könnten. Das Gegenteil ist richtig. Der Aggressor fühlt sich zu einem Angriff eingeladen, wenn er sieht, dass sein Opfer sich nicht verteidigen kann. Das ist der entscheidende Punkt.

Sie glauben also, Waffenlieferungen könnten tatsächlich einen Unterschied machen und sind nicht nur reine Symbolik?

Ja. Zumindest kann es Russland abschrecken, wenn deutlich wird, dass ein Angriff nicht nur zu Sanktionen, sondern auch zu großen eigenen Verlusten führen würde.

Sie haben gesagt, dass die Ukraine sehr genau darauf hört, welche Aussagen in Deutschland getätigt werden. Wie kamen die Aussagen des mittlerweile zurückgetretenen deutschen Marinechefs Schönbach an, der Russland Respekt bekundet hat?

Das war ein Skandal. Das könnte man vielleicht als einen verbalen Ausrutscher einstufen, aber das Problem ist doch, dass es in Deutschland anscheinend mehrere wichtige Persönlichkeiten gibt, die solche Ansichten vertreten – sogenannte Russland-Versteher. Das ist umso erstaunlicher, da die Entwicklung Russlands in den letzten 20 Jahren – nicht nur international, sondern auch innenpolitisch – eine deutliche Sprache spricht. Das Land ist ein autokratisches Regime geworden, das seine eigenen Leute schikaniert, gesellschaftliche Organisationen verfolgt, die Opposition hinter Gitter bringt und in dem es keine unabhängigen Medien mehr gibt. Die Propaganda hat mittlerweile Goebbels-ähnliche Ausmaße erreicht. Vor diesem Hintergrund ist es für die meisten Ukrainer vollkommen unverständlich, wie sich irgendjemand in Deutschland für Russland begeistern kann.

Was würden Sie sich von Deutschland und dem Westen wünschen?

Den Europäern hat es in der Vergangenheit sehr oft an Einigkeit gefehlt. Auch jetzt sehen wir wieder, dass es aus unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Kommentare und Reaktionen gibt. Möglicherweise ist das ein Wunschdenken, aber für die Ukraine wäre es besonders wichtig, dass der Westen mit einer Stimme spricht und dann den Worten auch Taten folgen lässt.

Insbesondere von Deutschland wünsche ich mir ein Umdenken in der Politik, bevor es zu spät ist. Denn eigentlich geht es momentan nicht nur um die Ukraine, sondern um den Frieden in Europa und die europäischen Werte.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Juri Durkot am 26.01.2022
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