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Geflüchtete aus der Ukraine in Berlin: Droht ein neues 2015?


Fluchtbewegung aus der Ukraine
Wird es ein neues 2015 geben?


Aktualisiert am 02.03.2022Lesedauer: 5 Min.
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Eine Gruppe Geflüchteter unterschiedlicher Nationalitäten kommt aus der Ukraine über die polnische Grenze. Viele Länder in Europa, darunter auch Deutschland, bereiten sich auf einen Strom Geflüchteter vor.Vergrößern des Bildes
Eine Gruppe Geflüchteter unterschiedlicher Nationalitäten kommt aus der Ukraine über die polnische Grenze. Viele Länder in Europa, darunter auch Deutschland, bereiten sich auf einen Strom Geflüchteter vor. (Quelle: Dominika Zarzycka/imago-images-bilder)

Hunderttausende Ukrainer fliehen vor Putins Krieg ins Ausland. Auch nach Deutschland. Experten warnen vor einer Fluchtbewegung "historischen Ausmaßes". Doch es gibt einen großen Unterschied zu 2015.

Vor einer Woche noch vermietete Emre Karachelebi Wohnungen und Taxis in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Jetzt steht der 49-Jährige mit seiner Frau Hanna und seiner Tochter vor der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin-Reinickendorf. Er trägt einen Rucksack über der Schulter, eine kleine Tasche vor der Brust. Viel mehr ist der Familie nicht geblieben.

"Wir haben in wenigen Stunden alles verloren", sagt er. "Wären wir nicht sofort gegangen, hätten wir auch unsere Leben verloren."

Tagelang ohne Schlaf im Stau

In der Nacht zu Donnerstag marschierte die russische Armee in der Ukraine ein, kurz darauf hörten die Karachelebis erste Explosionen in Kiew. Ungläubig seien sie gewesen. Wie so viele, die hier warten. Die achtjährige Tochter sei in Tränen ausgebrochen. "Wir hätten niemals gedacht, dass Putin es wirklich wagt, dass Brüder Brüder angreifen", sagt Karachelebi. Er schüttelt die dunklen Locken.

Die Karachelebis zögerten zunächst und telefonierten mit Freunden in Deutschland. Die drangen darauf, dass die Familie Kiew sofort verlässt. Drei Tage lang standen der gebürtige Türke und die gebürtige Russin mit ihrem Auto an der polnischen Grenze im Stau.

48 Stunden lang tat Karachelebi kein Auge zu. Nur nicht den kostbaren Platz in der Schlange verlieren, nur nicht überholt werden. Bloß raus aus der Ukraine.

Hunderttausende fliehen vor Putins Krieg

Russlands Präsident Wladimir Putin hat einen Krieg in der Ukraine entfesselt, der viele Bewohner aus dem Land treibt. Eine Million Menschen haben ihre Wohnungen verlassen und irren im Land umher, weitere 660.000 sind nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerk bereits ins Ausland geflohen.

Meist sind zunächst direkte Nachbarländer im Westen wie Polen, Ungarn oder die Slowakei ihr Ziel. Bereits am Wochenende erreichten die ersten Geflüchteten aber auch Berlin.

Die Zahlen erinnern an 2015, als der Krieg in Syrien, den Putin ebenfalls befeuerte, eine Million Menschen aus ihrer Heimat in die EU vertrieb. Erneut warnen Reporter vor einer Fluchtbewegung "historischen Ausmaßes", der Städte- und Gemeindebund fordert Kommunen dringend zur Vorbereitung auf eine große Zahl Geflüchteter auf, die Politik diskutiert höhere Budgets und vereinfachte Aufnahmebedingungen.

Doch während der Ansturm 2015 so groß war, dass das damals zuständige Amt in Berlin kollabierte, ist die Lage zurzeit noch ruhig. Ständig trudeln Neuankömmlinge ein, ziehen schwere Koffer über das Kopfsteinpflaster. Mal sind sie allein, mal zu dritt, mal zu acht – Stau vor den Gebäuden aber bleibt aus, die Zahlen scheinen gut zu bewältigen. Schon jetzt allerdings stellt sich die Frage: Wie lange noch?

Die Community entlastet den Staat

Die derzeit relativ entspannte Lage hat vor allem einen Grund. "Die Hilfsbereitschaft ist enorm groß, gerade in der ukrainischen Community", sagt Sascha Langenbach, Sprecher des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten in Berlin. Er wirbelt über das weitläufige Gelände, brieft Mitarbeiter und Journalisten, klopft Schultern und verteilt High-Fives.

Die allermeisten Geflüchteten kommen nach Langenbachs Einschätzung derzeit privat unter, bei Verwandten, Freunden oder ihnen bisher unbekannten Landsleuten, die sich über den Messenger Telegram koordinieren. Konkrete Zahlen zu Schutzsuchenden kann Langenbach deswegen nicht nennen, der Überblick fehlt.

Ein Bus soll an diesem Tag eigentlich Dutzende Geflüchtete vom Berliner Ostbahnhof nach Reinickendorf bringen – doch die Fahrt fällt aus, alle Betroffenen haben sich bereits verteilt.

Zu acht in einer 80-Quadratmeter-Wohnung

Die Privatleute, die das staatliche System entlasten, begleiten ihre Schützlinge oft auch zur Aufnahmestelle. Mit Zetteln in der Hand dirigieren, koordinieren und übersetzen sie. Da ist der gebürtige Türke Efegan Ardic, 56 Jahre alt, der die Familie seines langjährigen Kollegen Karachelebi bei sich aufgenommen hat.

Statt zu fünft leben die Ardics nun mit acht Personen auf 80 Quadratmetern im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf. "Die mussten da raus", sagt Ardic und zieht an einer Zigarette. "Putin glaubt, er ist Gott."

Da ist die 32-jährige Kristina, die am Montag überall in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung Luftmatratzen ausgebreitet hat. Neben ihrem Mann und ihren zwei Kindern schlafen dort nun auch ihr Schwager, seine Frau und deren drei Kinder. Natürlich sei das eng, sagt sie auf Nachfrage, aber für sie keine Belastung. "Es muss passen, man macht es passend", sagt sie. "Die Angst ist größer als alles andere."

Da ist der 24-jährige Marlon Kroitblat, der fünf Frauen und drei Kinder zur Aufnahmestelle begleitet und zwischen Deutsch und Ukrainisch fließend wechselt. Eine Nacht haben die Frauen und Kinder bei seiner Mutter übernachtet, die auch aus der Ukraine stammt. Verwandt oder befreundet ist man nicht, eher entfernt bekannt. Doch Kroitblat fasst es kurz: "Man muss helfen."

"Wir helfen gern – nur geht es nicht für immer"

Da ist Olexandr Zhuravel, der seine Enkelin im rosafarbenen Kinderwagen über das Gelände schiebt. Seine Tochter und ihre zwei Kinder, die Schwiegermutter und ihre Schwester laufen an seiner Seite. Sie alle wohnen nun in der kleinen Wohnung des 62-Jährigen. Ihre Männer kämpfen in der Ukraine, schweißen Barrieren zusammen, um russische Panzer zu stoppen, erzählt Zhuravel. Er wolle die Frauen in Berlin anmelden, damit sie Asyl erhalten.

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Zhuravel geht es ähnlich wie Ardic, der es so formuliert: "Wir helfen gerne – nur geht es nicht für immer." Die Regierung müsse rasch reagieren, für Unterkünfte und Aufenthaltstitel sorgen.

Die EU-Staaten haben in der Krise bisher Einigkeit bekundet. Zum ersten Mal überhaupt, wenn es um die Verteilung von Flüchtlingen geht. Auf "unbürokratische Lösungen" pocht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Und der Berliner Flüchtlingskoordinator Langenbach bestätigt erfreut: "Wege, die normalerweise sehr lang sind, werden gerade sehr kurz."

Wird der Asylantrag für ukrainische Kriegsflüchtlinge überflüssig?

Die wichtigste Entscheidung aber steht noch aus: Werden Ukrainer in EU-Ländern, auch in Deutschland, vereinfachtes Asyl erhalten? Derzeit dürfen sie ohne Visum 90 Tage lang in Deutschland bleiben, eine Verlängerung um weitere 90 Tage soll angesichts der aktuellen Lage unkompliziert möglich sein, versprechen die Behörden.

Wollen jene, die alles verloren haben, aber eine Arbeitserlaubnis, Zugang zu medizinischer Versorgung, dem Schulsystem sowie Sozialhilfe, brauchen sie mehr als das.

Zwar können Ukrainer schon jetzt auf regulärem Weg Asyl beantragen – doch der Prozess ist langwierig. Wenn es schlecht läuft, wenn die Ämter überfordert sind, kann es bis zu rund einem Jahr dauern, bis über den Antrag entschieden wird. Die Politik diskutiert jetzt für ukrainische Kriegsflüchtlinge eine Abkürzung.

EU-Innenminister beraten

Am Donnerstag beraten die EU-Innenminister über eine einheitliche Regelung, eine Sonderrichtlinie könnte aktiviert werden. Ein Asylantrag wäre dann nicht mehr nötig.

Bis die Minister sich geeinigt haben, hören Emre, Kristina und Olexandr in Reinickendorf auf Fragen nach Arbeit, Schule, Perspektive immer wieder denselben Satz: "Wir wissen es noch nicht. Kommt in ein paar Tagen wieder."

Emre Karachelebi will rasch Geld verdienen. Schließlich sei seiner Familie nichts geblieben. Wovon und wie sonst leben? Vorerst aber hat er Geduld und nur eine Priorität: "Ich will einfach, dass meine Familie sicher ist."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräche mit Geflüchteten und Helfern vor Ort
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