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Ukraine-Krieg | Russlands Dilemma: "Putin gehen die Soldaten aus"


Krieg in der Ukraine
Experte: "Mir ist schleierhaft, warum Russland so vorgeht"

InterviewVon Patrick Diekmann

28.04.2022Lesedauer: 6 Min.
Interview
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Tschetschenische Kämpfer in Mariupol: Die russischen Truppen verzeichnen seit Beginn des Ukraine-Kriegs hohe Verluste.Vergrößern des Bildes
Tschetschenische Kämpfer in Mariupol: Die russischen Truppen verzeichnen seit Beginn des Ukraine-Kriegs hohe Verluste. (Quelle: Sergei Bobylev/TASS/imago-images-bilder)

Die russische Armee greift mit neuen Kräften den Osten der Ukraine an und nimmt die westlichen Waffenlieferungen ins Visier. Kann Präsident Wladimir Putin bis zum 9. Mai Erfolge präsentieren? Ein Überblick über die militärische Lage.

Es ist die vielleicht entscheidende Phase in diesem Krieg: Die russische Armee greift im Osten der Ukraine massiv an. Zwar kann Russland in einigen Regionen Geländegewinne erzielen, bislang konnten die Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin jedoch bis auf Cherson keine größere Stadt erobern.

Aber um militärische Eroberungen geht es in der aktuellen Phase des Konfliktes auch nicht mehr. Vielmehr herrscht ein Abnutzungskrieg, in dem russische und ukrainische Kräfte versuchen, dem Gegner so schwere Verluste zuzufügen, dass sich das militärische Gleichgewicht für mögliche Verhandlungen verschiebt. Die Folge: Dieser Konflikt kann noch sehr lange dauern und noch blutiger werden.

Putin scheint seine Kriegsziele noch nicht aufgegeben zu haben, aber er hat nicht genug Soldaten in der Ukraine, um sie erreichen zu können. Ein Dilemma. Kann der Kreml bis zum 9. Mai – dem Tag des Sieges in Russland – der russischen Bevölkerung Erfolge präsentieren? Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", gibt im Interview mit t-online einen Überblick über die militärische Lage.

t-online: Russlands Angriff auf den Osten der Ukraine hat begonnen. Wie erfolgreich ist die russische Armee bisher?

Gustav Gressel: Die Vorstöße Russlands in der Ukraine sind aktuell sehr kleinräumig. Das Gerede von großen Einkesselungen ukrainischer Städte ist Quatsch – stattdessen sehen wir kleine Angriffe und ein langsames Vorrücken der russischen Armee, um ihre überlegene Feuerkraft der Artillerie auszunutzen.

Trotzdem scheinen die russischen Truppen nicht wirklich voranzukommen.

Es ist noch etwas zu früh, um zu sagen, wie erfolgreich dieser zweite Teil der Operation für Russland ist. Seit Sonntag rückt die russische Armee etwas koordinierter vor. Vorher hat es viele kleine Angriffe gegeben, die nicht aufeinander abgestimmt waren und die nur dazu geführt haben, dass die russischen Kräfte weiter ausgedünnt wurden. Mir ist schleierhaft, warum Russland so vorgegangen ist. Sie haben nur Verluste angehäuft.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs in Berlin. Seine Schwerpunkte sind Russland, Osteuropa und bewaffnete Konflikte.

Und jetzt?

Jetzt geht die russische Armee das etwas methodischer an. Besonders im Raum um die ukrainische Stadt Isjum gibt es Fortschritte für Moskau. Die sind aber immer noch kleinräumig.

Es scheint momentan nicht um Eroberungen zu gehen, sondern die Ukraine befindet sich in einem Abnutzungskrieg. Das heißt: Beide Seiten versuchen, möglichst viele gegnerische Kräfte zu beseitigen, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern.

Das ist richtig. Deswegen können wir den Erfolg der russischen Offensive gegen den Osten der Ukraine aktuell noch nicht bemessen. Wir müssen zum Beispiel schauen, wie viele abgeschossene russische Panzer auf einen abgeschossenen ukrainischen Panzer kommen. Erst mit dem Wissen kann man abschätzen, ob die Offensive für Russland militärisch gewinnbringend ist.

Der Krieg hat demnach mit der neuen russischen Offensive neue Leitlinien bekommen. Wie zeigt sich das auf dem Schlachtfeld?

Die russische Armee rückt langsam vor und sichert ihre Flanken, um die eigenen Verluste zu minimieren. Die russische Strategie läuft nicht mehr auf Kesselschlachten hinaus, sondern – wie schon gesagt – auf ein höheres Abnutzungsverhältnis. Das ist der Sinn von Putins Donbass-Offensive. Doch es ist nicht klar, ob das im Sinne des Kremls aufgeht, weil auch die russische Armee schwere Verluste hinnehmen muss.

Abnutzungskriege können Monate oder sogar Jahre dauern. Experten bringen immer wieder den 9. Mai – den Tag des Sieges in Russland – als Datum ins Gespräch, an dem Putin Ergebnisse sehen möchte. Wie passt das zusammen?

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es bis dahin Ergebnisse gibt. Bis zum 9. Mai wird der Ukraine-Krieg nicht entschieden sein und Russland wird bis dahin auch nicht die Oblaste Donezk and Luhansk eingenommen haben. Die russische Armee möchte wahrscheinlich noch mehr Gelände in der Ukraine einnehmen und das ist bis zum 9. Mai nicht zu erreichen. Das Datum spielt im Westen eine größere Rolle als in Russland.

Warum?

Am 9. Mai wird es eine Parade in Moskau geben und die russische Propaganda kann im Notfall aus ständigen Misserfolgen einen ruhmreichen Sieg machen. So wurden in Mariupol zum Beispiel Fahrzeuge und Abzeichen des Asow-Regiments erbeutet, die die russische Führung an dem Tag glorreich präsentieren könnte. Im Westen wird dieser Tag etwas überschätzt. Die russische Propaganda braucht keine tatsächlichen Siege, um Siege feiern zu können – das vergessen wir manchmal.

Besonders in einem Abnutzungskrieg sind westliche Waffenlieferungen für Russland natürlich ein Problem. Nimmt die russische Armee diese nun ins Visier?

Die russische Armee versucht Verkehrsinfrastruktur anzugreifen, aber es gibt viele Routen, die diese Transporte nehmen können. Außerdem gelingt es den ukrainischen Eisenbahngesellschaften bislang, die Strecken relativ schnell zu reparieren, wenn sie durch russischen Beschuss beschädigt wurden. Und die Aufklärung der Russen ist nicht so gut, dass sie wissen, wo welcher Transport steht. Dadurch sind die russischen Angriffe auf die Versorgungslinien bislang wenig effizient.

Wie läuft der Nachschub denn auf russischer Seite? Wie lange kann Putin noch angreifen?

Das ist schwer zu sagen. In manchen Bereichen gibt es schon Engpässe, zum Beispiel bei den luftgestützten Präzisionswaffen. Bei Marschflugkörpern oder bei Munition für Infanterie und Artillerie dürfte Russland aber noch sehr viel haben. Die knappste Ressource, die die russische Armee hat, ist das Personal. Putin gehen die Soldaten aus.

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Wie kommt das?

Die russischen Verluste sind erheblich und vor allem ist auch eine hohe Zahl von Offizieren darunter. Einen Panzerfahrer kann ich in sechs Monaten ausbilden, aber die Schulung von Kommandanten dauert viel länger. Die wachsen nicht auf Bäumen und da tun sich für Russland eher Engpässe auf als in der Materialfrage.

Dabei gab es doch Anfang April Zehntausende Russen, die gerade ihren Wehrdienst abgeschlossen hatten und die der Kreml für den Krieg anwerben wollte. Was ist da schiefgelaufen?

Laut ukrainischem Generalstab konnte Russland knapp 60.000 neue Kräfte rekrutieren, aber Anfang April gab es auch die Situation, dass die russische Armee viele Vertragssoldaten aus dem Dienst entlassen musste. Eigentlich werden die Verträge von russischen Soldaten, die in einem militärischen Einsatz sind, automatisch verlängert. Doch das russische Verteidigungsministerium hat das offenbar nicht gemacht, weil Soldaten gemeutert haben. Wenn man die Zahl der gefallenen oder verwundeten Soldaten dazurechnet, spricht vieles dafür, dass die Zahl der russischen Kräfte aktuell geringer ist als noch zu Beginn des Krieges.

Momentan werden im Westen viele militärstrategische Szenarien durchgespielt. Zum Beispiel könnte Russland Odessa angreifen und die Ukraine vom Schwarzen Meer abschneiden. Das ist in Anbetracht der russischen Soldaten im Einsatz doch völlig unrealistisch, oder?

Putin hat sein Ziel, die Ukraine ganz zu schlucken, noch nicht aufgegeben. Das sieht man vor allem an der Rhetorik des russischen Präsidenten, aber von den Kräften her kann es immer nur eine Offensive an einer Front geben. Das sieht man aktuell gut: Russland kann nicht gleichzeitig um Cherson und im Donbass angreifen. Dafür hat Putin zu wenig Soldaten. Wenn Russland seine Ziele im Osten erreicht haben sollte, könnte sich Moskau überlegen, wie man nun weiter vorgeht.

Warum gibt es dann jetzt schon die Unruhe in Transnistrien?

Die russischen Soldaten in Transnistrien sind mit altem sowjetischem Gerät ausgerüstet und sie könnten nur etwas bewegen, wenn sie zusammen mit russischen Verbänden aus dem Osten vorrücken – aber davon sind wir noch weit entfernt. Warum Russland nun die Situation in Transnistrien aufheizt, verstehe ich nicht. Das macht aus russischer Perspektive keinen Sinn.

Von Südosten kommt der russische Angriff aber kaum voran. Gibt es für die Ukraine die Chance, den Brückenkopf in Cherson zu erobern?

Um Cherson toben immer noch schwere Kämpfe und es ist der russischen Armee bisher gelungen, den wichtigen Brückenkopf zu verteidigen. Die Kämpfe dort sind in einem ebenen Terrain, die den Angreifer sehr begünstigen. Deshalb liefern sich ukrainische und russische Kräfte dort Kämpfe um Dörfer, die stetig den Besitzer wechseln. Es ist dort ein ständiges Katz- und Mausspiel.

Insgesamt scheint es an vielen Fronten schwere Kämpfe zu geben, aber letztlich macht keine Seite große Fortschritte. Gibt es Anzeichen dafür, dass es Putin endlich mal genug sein könnte?

Die Frage ist eine andere: Wann ist Putin so geschwächt, dass eine kalte Phase des Krieges nicht nur eine taktische Pause wäre, um neue Kräfte zu mobilisieren und kaputte Panzer auszutauschen?

Diese Frage können wir auch nehmen. Ihre Antwort?

Aktuell sehen wir noch keine Anzeichen dafür, dass Putin in einer operativen Pause daran denkt, aus dem Krieg auszusteigen, und zu welchen für die Ukraine annehmbaren Bedingungen er einen Waffenstillstand einwilligen würde. Bislang haben wir nur eine taktische Pause gesehen, mehr jedoch nicht.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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