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Bergkarabach: Aserbaidschan will "ethnische Säuberung"


Eskalation in Bergkarabach
"Wir erwarten jetzt nichts anderes"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

Aktualisiert am 20.09.2023Lesedauer: 4 Min.
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Angriffe in Bergkarabach: In Videos sind weitere Schüsse und Luftalarm zu hören. (Quelle: t-online)

Was bedeutet der erneute Militäreinsatz von Aserbaidschan in Bergkarabach? Ein Experte nimmt den Westen in die Pflicht.

Vom Krieg wird in Aserbaidschan nicht gesprochen. Eine "Anti-Terror-Operation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" werde zurzeit in der Region Bergkarabach durchgeführt, teilte das Verteidigungsministerium am heutigen Dienstag mit. Das armenische Außenministerium sprach dagegen von einer "ethnischen Säuberung", die die Regierung in Baku in der Region jetzt durchführen wolle.

Narek Sukiasyan verfolgt den Konflikt schon seit Jahren aus der Nähe. Der Politikwissenschaftler lehrt nicht nur an der staatlichen Universität in der armenischen Hauptstadt Jerewan, sondern ist in dem Land auch für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung tätig. t-online erreichte Sukiasyan per Videochat wenige Stunden, nachdem Aserbaidschan seinen Angriff verkündet hatte.

t-online: Herr Sukiasyan, Aserbaidschan hat laut dem dortigen Verteidigungsministerium eine "Anti-Terror-Operation" in Bergkarabach begonnen. Das erinnert ein wenig an den Kreml, der bei dem Krieg in der Ukraine immer von einer "Spezialoperation" spricht. Wie würden Sie das nennen, was wir gerade in Bergkarabach erleben?

Narek Sukiasyan: Das ist keine "Anti-Terror-Operation", wie es die aserbaidschanische Diktatur nennt. Es ist ein vorsätzlicher, unprovozierter Versuch, die dortige armenische Bevölkerung zu töten und die volle Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Aserbaidschan hatte 2020 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, nachdem sie einen weiteren Angriffskrieg begonnen hatten und einen Großteil von Bergkarabach zurückerobert hatten. In all diesen eroberten Gebieten lebten genau null Armenier. Außerdem gab es in allen Orten, die unter aserbaidschanische Kontrolle kamen, Beweise für systematische Massenmorde, von Enthauptungen oder der Zerstückelung von Leichen. Die Bezeichnung "Anti-Terror-Operation" ist nur ein weiterer Versuch des Regimes von Ilham Alijew, seine illegalen Aktionen zu rechtfertigen. Ihr einziges Ziel ist eine ethnische Säuberung.

(Quelle: privat)

Zur Person

Dr. Narek Sukiasyan ist Politikwissenschaftler und Projektkoordinator bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Armenien und Dozent an der staatlichen Universität in der Hauptstadt Eriwan.

Wirklich überraschend war der Angriff nicht. Aserbaidschan hatte bereits seit Wochen die Lieferung von Hilfsgütern nach Bergkarabach blockiert.

Aserbaidschan blockiert seit Monaten den Korridor, der die einzige Lebensader ist, um die Grundversorgung in Bergkarabach zu sichern. Alle Vermittler waren sich dieser Entwicklung sehr wohl bewusst, und sie griffen nicht präventiv ein, um einen weiteren groß angelegten Angriffskrieg zu verhindern. Aserbaidschan hat nicht nur 120.000 Menschen ausgehungert, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Die Duldung der völkermörderischen Politik durch Russland, die EU oder die Vereinigten Staaten hat logischerweise zu der jetzigen Situation geführt.

Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, sagte uns kürzlich, dass Aserbaidschan bereits einen Völkermord begonnen habe, indem es die Lieferungen von Hilfsgütern blockiert hatte. Würden Sie dem zustimmen?

Ocampo hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Aushungern einer ethnischen Gruppe ein Völkermord ist. Die Armenier werden entweder ausgehungert, wie es in den letzten neun bis zehn Monaten der Fall war, oder sie werden mit physischer Gewalt angegriffen. Aserbaidschan behauptet, dass es sich dabei um sehr gezielte Angriffe auf militärische Ziele handelt. Wir haben jedoch bereits eine Reihe von Opfern und Verletzten unter Kindern zu beklagen. Aserbaidschan hat während des Krieges 2020 sogar ein Kinderkrankenhaus angegriffen. Wir erwarten jetzt nichts anderes.

Der Konflikt um Bergkarabach

Der Konflikt ist einer der ältesten der Neuzeit. Die Führung der Sowjetunion sprach das überwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er-Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schließlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte. 2020 startete Aserbaidschan eine Offensive, um die Region zurückzuerobern. Bergkarabach selbst bezeichnet sich als unabhängig, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen.

Russland hatte vor drei Jahren einen Waffenstillstand ausgehandelt. Noch immer sind dort russische Soldaten stationiert, die das Abkommen überwachen. Warum haben sie die Truppen aus Aserbaidschan nicht aufgehalten?

Russland hatte schon in den vergangenen drei Jahren das Militär von Aserbaidschan nicht daran gehindert, weitere Orte zu besetzten. Es gab aus Russland weder eine militärische noch eine diplomatische Reaktion darauf. Vom russischen Außenministerium hieß es jetzt lediglich, dass ihre Truppen erst wenige Minuten vor dem Angriff informiert wurden.

Man könnte vermuten, dass Russland zuvor eine Erlaubnis für den Angriff gegeben hat.

Darüber wird derzeit in armenischen Medien sehr viel spekuliert. Wir wissen es natürlich nicht. Allerdings befindet sich Aserbaidschan in einer sehr günstigen strategischen Lage, sowohl gegenüber Russland als auch der EU. Moskau konnte Teile der Sanktionen der EU über Baku umgehen. Russland exportiert auch einen Teil seines Gases über Aserbaidschan in die EU. Dadurch entsteht eine gewisse Abhängigkeit, obwohl die Exporte nur 1 bis 3 Prozent des europäischen Bedarfs entsprechen.

Deshalb hat die EU zuvor nichts unternommen?

Die EU hat ein Auge zugedrückt in der Hoffnung, dass man dadurch Aserbaidschan beschwichtigen könnte. Das hat allerdings nicht funktioniert und dem Land nur noch mehr Möglichkeiten beschert.

Haben Deutschland, die EU oder der Westen allgemein jetzt noch Möglichkeiten, den Krieg zu stoppen?

Was der Westen tun kann, ist, maximalen diplomatischen Druck auf das diktatorische Regime in Baku auszuüben. Es müssen Sanktionen verhängt werden. Das Regime wäscht im Westen sein Geld und hat dort große Summen gehortet, das ist kein Geheimnis. Der EU-Sonderbeauftragte Toivo Klaar twitterte allerdings heute davon, dass ein sofortiger Waffenstillstand nötig sei, um einen echten Dialog zu ermöglichen. Angesichts der aktuellen Aggression aus Aserbaidschan ist das absurd, wenn nicht sogar zynisch.

Wie wird sich der Konflikt von hier an weiterentwickeln?

Aktuell hängt sehr viel davon ab, ob Aserbaidschan von außen unter Druck gesetzt werden kann. Die Möglichkeit einer Ausweitung der Kämpfe entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze ist sehr hoch, weil die Kämpfe in unmittelbarer Nähe stattfinden. Schon jetzt kontrolliert Aserbaidschan rund 300 Quadratkilometer in Armenien, und es gibt keinerlei Absichten, sich zurückzuziehen.

Haben die Menschen in Bergkarabach überhaupt die Möglichkeit, sich gegen die aserbaidschanischen Truppen zu verteidigen?

Die armenischen Truppen haben sich nach dem Krieg 2020 aus dem Gebiet zurückgezogen. Die Menschen in Bergkarabach sind also von ihren eigenen Streitkräften abhängig. Aber dort leben nur 120.000 Menschen, und nur ein Bruchteil davon beteiligt sich an dem dortigen Militär. Auf der anderen Seite verfügt Aserbaidschan über eine gut ausgebildete Armee, die ihre Truppen entlang der Kontaktlinie zusammengezogen hat. Auch die armenischen Truppen haben sich noch nicht vollständig von den Kämpfen 2020 erholt. Aserbaidschan hat dagegen in den vergangenen Monaten Rüstungslieferungen aus der Türkei und Israel erhalten. Der Vergleich zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan ist also ein Vergleich von David und Goliath, mit dem Unterschied, dass David seit zehn Monaten hungert und von der gesamten Welt isoliert ist.

Herr Sukiasyan, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Narek Sukiasyan
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