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Belarus: So kann die EU jetzt den Menschen im Ex-Sowjetstaat helfen


Massenproteste in Belarus
Sie wollen sich vom Erbe des Kommunismus befreien

MeinungEin Gastbeitrag von Nils Schmid (SPD)

Aktualisiert am 06.09.2020Lesedauer: 4 Min.
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Eine Frau vor Sicherheitskräften bei einer Demonstration gegen Lukaschenko in Minsk: Die EU sollte die Zivilgesellschaft in Belarus unterstützen, schreibt SPD-Außenpolitiker Nils Schmid.Vergrößern des Bildes
Eine Frau vor Sicherheitskräften bei einer Demonstration gegen Lukaschenko in Minsk: Die EU sollte die Zivilgesellschaft in Belarus unterstützen, schreibt SPD-Außenpolitiker Nils Schmid. (Quelle: TUT.BY/Reuters-bilder)

Die Menschen wollen endlich selbst bestimmen, wie es in Belarus zugeht. Die politische Landkarte zu verändern, ist nicht ihr Ziel. Das hat Folgen für die Politik der EU, schreibt SPD-Außenpolitiker Nils Schmid im Gastbeitrag.

Die offensichtlichen Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl Anfang August in Belarus haben nicht nur eine in ihrer Breite historisch einmalige Protestbewegung im Land selbst hervorgerufen. Auch in Europa wächst die Hoffnung auf politische Veränderungen in diesem seit über 25 Jahren autokratisch regierten Land zwischen der EU und Russland. Die Bilder von friedlich demonstrierenden Bürgern aller Schichten in allen Teilen des Landes berühren uns im Herzen, die Berichte über Polizeigewalt und Folter schmerzen uns in der Seele.

Seit fast 30 Jahren regiert Präsident Alexander Lukaschenko das Land mit harter Hand, unterdrückt die politische Opposition, kontrolliert die Medien und versorgt die Bevölkerung über eine staatlich kontrollierte Wirtschaft mit Sozialleistungen. Der für die ehemalige Sowjetunion durchaus ansehnliche Lebensstandard wurde bislang durch eine starke Anlehnung an Russland finanziert, das nicht nur verbilligt Energie liefert, sondern damit auch Gewinne aus dem Weiterverkauf von Öl und Gas ermöglicht.

Über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ist Belarus ökonomisch und über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) militärisch so eng mit Russland verbunden wie kein anderer postsowjetischer Staat. Dennoch hat es Lukaschenko über Jahre hinweg verstanden, die Umsetzung des Unionsvertrages mit Russland hinauszuzögern. Die Bewahrung der Eigenständigkeit und damit der Ausbau der Beziehungen zur EU, aber auch zu China war Kern belarussischer Außenpolitik.

Die nachholende Befreiung

Souveränität und Volkssouveränität sind der Schlüssel zur Einordnung der Vorgänge in Minsk. Belarus ist von allen Nachfolgeländern der UdSSR sicher eines derjenigen mit dem am schwächsten ausgeprägten Nationalbewusstsein. Das Ende des Kommunismus vor 30 Jahren hat Belarus zwar erlebt, aber in seinen politischen und ökonomischen Strukturen weitaus weniger verändert als andere ehemalige Sowjetrepubliken.

Zugespitzt gesagt: Wir erleben gerade eine nachholende Befreiung Belarus vom autoritären Erbe des Kommunismus. Was in Osteuropa 1989/90 geschah, wollen in nie dagewesener Breite und Tiefe die Bürger des Landes jetzt durchsetzen: politischen Pluralismus, Meinungsfreiheit, freie Wahlen, kurz: Demokratie. Demokratie heißt Volkssouveränität: Die Bürger entscheiden darüber, wer sie regiert und wie sie regiert werden. Das Volk in Belarus geht auf die Straße, um diese Werte für sich und für ihr Land zu erkämpfen.

Diese Werte sind europäische Werte, die selbstverständlich auch die EU vertritt. Und es ist kein Zufall, dass gerade Polen und Balten besonders stark mit den Menschen in Belarus fühlen, wissen sie doch ganz genau, was es bedeutet, sich vom kommunistischen Joch zu befreien. Aber es ist eben auch kein Zufall, dass es die Fahnen des unabhängigen Belarus und nicht die Europaflagge oder gar das Nato-Emblem sind, die auf den Straßen und Plätzen gezeigt werden.

Es geht um die Souveränität von Belarus und die Souveränität des Volkes, um Selbstbestimmung durch das Volk und Selbstermächtigung (Empowerment) des Volkes. Die Bürgerinnen und Bürger wollen das Schicksal ihres Landes selbst in die Hand nehmen und es nicht einer verknöcherten, offenkundig reformunfähigen Clique überlassen. Sie wollen frei reden und frei wählen.

Es geht nicht um Außenpolitik

Damit ist aber auch klar, um was es aktuell in Minsk nicht geht: um Geopolitik. Die Oppositionsbewegung schöpft ihre Kraft gerade daraus, nicht die außenpolitischen Koordinaten des Landes fundamental verschieben zu wollen. Das erinnert an die Samtene Revolution 2018 in Armenien. Damals gelang ein innenpolitischer Umbruch, ohne die enge Zusammenarbeit mit Russland (ebenfalls über Mitgliedschaft in der EAWU und OVKS) in Frage zu stellen. Daraus lassen sich wichtige Schlussfolgerungen für die Politik der EU gegenüber Belarus ableiten.

Kurzfristig sollte die EU weiterhin die sofortige Freilassung politischer Gefangener und ein Ende des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte einfordern. Dazu gehört auch die rasche Verhängung von Sanktionen gegen die dafür Verantwortlichen und die Unterstützung der Zivilgesellschaft. Hier hat die EU rasch und wirkungsvoll außenpolitische Handlungsfähigkeit demonstriert. Die EU – am besten angestoßen durch eine kraftvolle diplomatische Offensive des Weimarer Dreiecks Polen, Frankreich und Deutschland – sollte für einen Runden Tisch zur Vorbereitung freier und fairer Wahlen eintreten. Dabei könnte auch die OSZE wichtige Vermittlerdienste übernehmen, insbesondere aufgrund ihrer Expertise bei der Organisation von Wahlen.

Darüber hinaus sollte die EU konditionierte Angebote zur Zusammenarbeit machen: Technologie, Wissenschaft, Reform des Staatssektors, Hilfe zur Entwicklung des Mittelstandes, Energie – Themen gibt es genug. Der schnell wachsende IT-Sektor in Minsk zeigt, dass Belarus durchaus Chancen für wirtschaftliche Modernisierung eröffnet, die aber nur mit westlicher Hilfe die notwendige Breite gewinnen wird. Gleichzeitig belegt das hohe Engagement der "Aitischniki" bei den Protesten, dass wirtschaftliche Öffnung auch politische Erneuerung vorantreiben kann.

Ein Partnerschaftsabkommen wäre der richtige Weg

Wir sollten daher die Möglichkeiten von wirtschaftlicher Kooperation nutzen. Der richtige Rahmen dafür wäre – ähnlich wie im Falle Armeniens – ein umfassendes und verbessertes Partnerschaftsabkommen (CEPA). Bei Beibehaltung der Bindung an die EAWU ermöglicht ein solcher Vertrag die Übernahme von EU-Regeln und den Zugang zum Binnenmarkt.

Der Abschluss eines solchen Abkommens ist strikt an Fortschritte bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Neben der Freilassung politischer Gefangener und freien Wahlen ist der wichtigste Schritt hierzu die Abschaffung der Todesstrafe. Dann könnte Belarus endlich Mitglied des Europarates werden und die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen. Dies würde die Menschenrechte und die Arbeit der Zivilgesellschaft in Belarus weiter stärken.

Bei aller Freude über den Aufbruch in Belarus sollten wir zur Kenntnis nehmen und respektieren, dass eine EU-Mitgliedschaft oder gar ein Nato-Beitritt nicht auf der Tagesordnung steht. Stattdessen sollten wir Europäer das Prinzip der Volkssouveränität hochhalten und den belarussischen Weg zur Demokratie unterstützen.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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