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Bergkarabach-Krieg: Videos zeigen brutale Kriegsverbrechen an Armeniern


Bilder des Hasses
Videos belegen Kriegsverbrechen im Kampf um Bergkarabach

Von Neil Hauer, Jerewan

Aktualisiert am 04.12.2020Lesedauer: 6 Min.
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Diese Aufnahmen zeigen brutale Kriegsverbrechen an armenischen Menschen und wurden von aserbaidschanischen Soldaten selbst in sozialen Netzwerken geteilt.Vergrößern des Bildes
Diese Aufnahmen zeigen brutale Kriegsverbrechen an armenischen Menschen und wurden von aserbaidschanischen Soldaten selbst in sozialen Netzwerken geteilt. (Quelle: Telegram / Karabah News)

Seit dem Waffenstillstand nach dem Krieg um Bergkarabach kursieren brutale Videos von Kriegsverbrechen. Der Inhalt ist kaum zu ertragen – und genau deshalb sollte die Welt sie kennen.

Achtung: Im Artikel finden sich detaillierte Beschreibungen von brutaler Gewalt, Kriegsverbrechen und Mord, die beim Lesen verstörend wirken könnten.

Das Video auf einem Handy zeigt einen kopflosen Körper, gerade erst enthauptet. Der filmende Mann spricht mit seinem Kameraden, einem Soldaten in Uniform mit einem Gewehr am Arm. Der tritt plötzlich mit seinen Stiefeln auf die am Boden liegende Leiche ein, sodass Blut aus dem freiliegenden Hals spritzt. Dann schwenkt die Kamera nach rechts, zeigt den abgeschlagenen Kopf, der neben einem geschlachteten Schwein platziert wurde.

Diese Szene stammt nicht etwa aus Syrien oder dem Irak und wurde auch nicht von der Terrormiliz IS verbreitet. Das Video kommt aus Bergkarabach, dem seit Jahrzehnten umkämpften Gebiet im Südkaukasus. Hier hat ein 44 Tage anhaltender Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gerade erst sein Ende gefunden – mit dem Sieg Aserbaidschans.

Auf diesen Sieg folgte im November eine lange Reihe grauenvoller Kriegsverbrechen. Das beschriebene Handyvideo ist nur ein Beispiel. Die Taten wurden verübt, gefilmt und geteilt von aserbaidschanischen Soldaten und haben alle eines gemeinsam: Sie zeigen Demütigung, Folter und Hinrichtungen. Die Opfer: armenische Kriegsgefangene.

t-online zeigt im Video oben oder hier verfremdete Ausschnitte, die die Taten einordnen.

Die abscheulichen Details sind kaum zu ertragen oder zu beschreiben

Die Einzelheiten sind so abscheulich, dass man sie nicht einmal beschreiben möchte – doch genau deswegen ist es so wichtig, dass die Welt von ihnen erfährt.

Ein anderes Video etwa verbreitete sich Mitte November und zeigt einen armenischen Soldaten dabei, wie er gezwungen wird, die Worte "Karabach ist Aserbaidschan" in die Kamera zu sagen. Nach einem Schnitt sieht man den Kriegsgefangen nochmal, diesmal ist er tot: Aufgespießt mit einer Holzlatte, die zwei aserbaidschanische Soldaten festhalten.

Im Verlauf des über eineinhalb Monate andauernden Krieges, den die aserbaidschanische Armee am 27. September begonnen hatte, konnte Aserbaidschan große Teile der zuvor von Armenien kontrollierten Territorien erobern.

Über den Autor: Neil Hauer ist kanadischer Journalist und Analyst. Seine Spezialgebiete sind der Syrienkonflikt sowie Politik, Krisen und Konflikte in Süd- und Nordkaukasus (insbesondere Tschetschenien und Inguschetien). Zuvor war er Senior Intelligence Analyst bei der SecDev Group in Ottawa, Kanada und Berater in Radikalisierungs- und Sicherheitsfragen für die EU und die OSZE.

Dazu gehören nicht nur die "sieben besetzten Bezirke" des früheren aserbaidschanischen Staatsgebietes, die bis zum ersten Karabach-Krieg Anfang der 1990er von Aserbaidschanern bewohnt waren und danach von Armenien als Pufferzone um Bergkarabach herum genutzt wurden.

Die jüngsten Eroberungen Aserbaidschans betreffen auch große von Armeniern bewohnte Gebiete mitten in Bergkarabach selbst. Noch vor zwei Monaten hatten etwa 30.000 Armenier hier gelebt, zum Großteil im südöstlichen Hadrut, das nun fast vollständig unter aserbaidschanischer Kontrolle steht. Die meisten Zivilisten konnten rechtzeitig flüchten, doch bei Weitem nicht alle – und für viele der Zurückgebliebenen, die in die Hände der aserbaidschanische Armee fielen, hatte das düstere Folgen.

Übereinstimmende Zeugenaussagen bestätigen die Gewalt

Neben zuvor erwähnten Hinrichtungsvideos kursiert auf Telegram auch Material, auf dem zu sehen ist, wie aserbaidschanische Soldaten ältere Zivilisten in Zentral-Bergkarabach zusammenschlagen. Die Nichtregierungsorganisation "Crisis Group" hat Zeugenaussagen von Geflüchteten gesammelt, die beschreiben, wie aserbaidschanische Truppen Dorfbewohner hinrichteten und Häuser in Brand setzten.

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Es gibt übereinstimmende und bestätigte Aussagen, dass mindestens fünf Zivilisten, allesamt ältere Männer, erschossen wurden, nachdem das aserbaidschanische Militär in ihre Dörfer eingefallen war. Einer dieser Männer wurde zunächst von einem Schuss verletzt, anschließend von Soldaten verfolgt und aus nächster Nähe mit einem gezielten Kopfschuss getötet.

Das vielleicht abschreckendste dieser Videos, das Folter und Gewalt gegen armenische Zivilisten zeigt, ist ebenfalls eines von Mitte November: Es stammt aus einem nicht näher erkennbaren Gebiet in Bergkarabach. Darin drücken mehrere aserbaidschanische Soldaten einen älteren Mann in seinem Haus zu Boden. Einer der Soldaten sitzt auf dem Rücken des Mannes und schneidet ihm sorgfältig bei lebendigem Leib die Ohren ab – eines nach dem anderen. Man sieht Blut, das sich überall verteilt. Man hört den Mann, wie er vor Schmerzen wimmert.

Verbrechen gibt es nicht nur auf aserbaidschanischer Seite

Doch es gibt nicht nur Beweise aserbaidschanischer Kriegsverbrechen an Armeniern: Erst kürzlich tauchte ein Video auf, gefilmt von einem armenischen Soldaten. Zu sehen ist ein verletzter aserbaidschanischer Soldat, der bereits am Boden liegt. Der Armenier rammt ihm einen Dolch in den Hals und tötet ihn.

Spätestens seit diesem Video ist zwar klar, dass keine der beiden Kriegsparteien moralisch in irgendeiner Weise überlegen ist – doch nach derzeitigem Stand existieren bei Weitem mehr Beweise für aserbaidschanische Kriegsverbrechen als welche von armenischer Seite.

"Wie sollen wir mit solchen Menschen zusammenleben?"

Die aserbaidschanischen Videos haben auch die Bewohner Bergkarabachs erreicht. Einige haben sich vorgenommen, ebenso mit Gewalt auf aserbaidschanische Truppen zu reagieren, trotz der Waffenstillstandsvereinbarung. Einer von ihnen ist (oder war) Ashot Sevyan, ein Bewohner des Dorfes Chareknar im Nordwesten Bergkarabachs. Sevyans Dorf sollte am 25. November an Aserbaidschan übergeben werden. Aus Armeniens Hauptstadt Yerevan hatten die Bewohner die Anweisung erhalten, das Dorf bis dahin zu verlassen. Er hatte sich vorgenommen, sich dem zu widersetzen und stattdessen sein Haus mit seinem eigenen Gewehr zu verteidigen.

Auf das Video, in dem das Abschneiden der Ohren gezeigt wird, antwortete er: "Wie sollen wir mit solchen Menschen zusammenleben?" Was seit dem Interview mit Sevyan oder seinem Dorf passiert ist, ist nicht bekannt. Einige Quellen behaupten, dass das Örtchen offenbar doch nicht an Aserbaidschan gegangen sein könnte. Bestätigt ist dies jedoch bislang nicht.

Der Konflikt um Bergkarabach: Die Führung der Sowjetunion sprach das überwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schließlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte. Bergkarabach selbst bezeichnet sich als unabhängig, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen. Mehr dazu lesen Sie hier.

Alijew selbst bezeichnete Armenier als "Hunde" und "Ratten"

Rassistischer Hass gegen Armenier – auch "Armenophobie" genannt – ist in Aserbaidschan kein Einzelfall, sondern Staatspolitik. Dieser Hass spielt eine treibende, befeuernde Rolle bei Kriegsverbrechen wie diesen. Hinweise auf dehumanisierende Rhetorik fanden sich überall in der Kommunikation Bakus während des Krieges: Aserbaidschanische Drohnen etwa wurden mit dem Schriftzug "iti qovan" geschmückt, was wörtlich "Hunde-Jäger" bedeutet.

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Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew selbst hat armenische Menschen in seinen Ansprachen wiederholt als "Hunde" und "Ratten" bezeichnet, während er mit dem Vormarsch seiner Truppen prahlte: "Wir treiben sie (die Armenier) jetzt heraus, wir werden sie wie Hunde jagen", sagte der aserbaidschanische Präsident über die armenische Armee in einer Rede am 4. Oktober.

Aserbaidschan verstößt gegen Punkt der Waffenstillstandsvereinbarung

Doch die Folter und Gewalt gegen armenische Kriegsgefangene ist nicht alles: Richard Giragosian, politischer Analyst und Berater aus Jerewan, betont: "Auf die großen Verluste Armeniens im jüngsten Karabach-Krieg folgt nun der Verstoß Aserbaidschans gegen einen Punkt der Waffenstillstandsvereinbarungen, die von Russland verhandelt wurden. Denn mindestens 50 armenische Kriegsgefangene können aktuell nicht zurückkehren. Material in sozialen Netzwerken zeigt die Misshandlung und Folterung einiger dieser Kriegsgefangenen. Doch Aserbaidschan sträubt sich offenbar noch dagegen, grundsätzliche Abmachungen zu erfüllen."

Giragosian gehört zu den erfahrensten Experten in seinem Gebiet: Zusammengearbeitet hat er unter anderem mit der EU-Delegation in Armenien, dem französischen Außenministerium, der OSZE, dem US-Außenministerium und dem US-Kongress. Er sieht Armenien aktuell in einer düsteren Verhandlungslage, denn die Staatsführung musste erneut Schwäche zeigen und auch jetzt wieder Russland um Hilfe bitten.

Eine erste Reaktion gibt es von Human Rights Watch

Langsam erregen die Kriegsverbrechen auch internationale Aufmerksamkeit. Am 2. Dezember veröffentlichte Human Rights Watch (HWR) einen detaillierten Bericht über Aserbaidschans Misshandlungen armenischer Kriegsgefangener. Zugleich fordert HRW die Regierung in Baku auf, diese Verbrechen unverzüglich zu stoppen und aufzuklären.

Am Abend des 3. Dezember einigten sich Armenien und Aserbaidschan darauf, alle jeweiligen Kriegsgefangene auszutauschen. Noch ist unklar, ob diese Vereinbarung auch für jene Soldaten und Zivilisten gilt, die vor Kriegsausbruch am 27. September gefangen genommen wurden.

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"Es ist bezeichnend, dass einige der Soldaten, die diese Misshandlungen begangen haben, keine Bedenken hatten, gefilmt zu werden", sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei HRW. Er verwies auch auf das geläufige Vorgehen Aserbaidschans, Misshandlungen armenischer Menschen unverfolgt und unbestraft zu lassen.

"Es braucht internationalen Druck, damit Kriegsgefangene zurückkehren können"

In Armenien wird derzeit mithilfe einer Kampagne versucht, noch größere internationale Aufmerksamkeit für diese Verbrechen zu generieren, um weitere Gewalt zu verhindern und Kriegsgefangene sowie sterbliche Überreste der Getöteten wieder nach Hause zu bringen. Angeführt von Medienberater und IT-Sicherheitsexperte Samvel Martirosyan hat eine Gruppe armenischer Journalisten und Wissenschaftler alle Beweisvideos der Kriegsverbrechen gesammelt, dokumentiert und an internationale Organisationen und Regierungen geschickt, unter anderem an die OSZE und das US-Außenministerium.

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Martirosyans Ziel ist, derartige Missbräuche gegen armenische Soldaten und Zivilisten in aserbaidschanischer Gefangenschaft zu verhindern. "Wir werden nicht zulassen, dass sich Schweigen über dieses Thema legt", sagt er t-online. "Wir bemerken jetzt schon, dass Aserbaidschan versucht, dieses Problem unter den Tisch zu kehren. Es braucht internationalen Druck, damit alle Kriegsgefangenen zurückkehren können, um vor Folter sicher zu sein."

Auch drei Wochen nach Kriegsende werden Hunderte armenische Soldaten noch immer vermisst und tauchen in keiner Statistik auf. Martirosyan sagt: "Es ist bestätigt, dass sich mehr als ein Dutzend Zivilisten und etwa 50 Soldaten in aserbaidschanischer Gefangenschaft befinden."

Wenigstens für diese Gefangenen bleibt also ein wenig Hoffnung – trotz der vielen dokumentierten Grausamkeiten, die in den vergangenen Wochen ans Licht gekommen sind. Für die Familien der getöteten und gefolterten Opfer ist das jedoch kein Trost.

Die englische Version dieses Artikels lesen Sie hier.

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