Videos belegen Kriegsverbrechen im Kampf um Bergkarabach
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr fΓΌr Sie ΓΌber das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Seit dem Waffenstillstand nach dem Krieg um Bergkarabach kursieren brutale Videos von Kriegsverbrechen. Der Inhalt ist kaum zu ertragen β und genau deshalb sollte die Welt sie kennen.
Achtung: Im Artikel finden sich detaillierte Beschreibungen von brutaler Gewalt, Kriegsverbrechen und Mord, die beim Lesen verstΓΆrend wirken kΓΆnnten.
Das Video auf einem Handy zeigt einen kopflosen KΓΆrper, gerade erst enthauptet. Der filmende Mann spricht mit seinem Kameraden, einem Soldaten in Uniform mit einem Gewehr am Arm. Der tritt plΓΆtzlich mit seinen Stiefeln auf die am Boden liegende Leiche ein, sodass Blut aus dem freiliegenden Hals spritzt. Dann schwenkt die Kamera nach rechts, zeigt den abgeschlagenen Kopf, der neben einem geschlachteten Schwein platziert wurde.
Diese Szene stammt nicht etwa aus Syrien oder dem Irak und wurde auch nicht von der Terrormiliz IS verbreitet. Das Video kommt aus Bergkarabach, dem seit Jahrzehnten umkΓ€mpften Gebiet im SΓΌdkaukasus. Hier hat ein 44 Tage anhaltender Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gerade erst sein Ende gefunden β mit dem Sieg Aserbaidschans.
- Die HintergrΓΌnde des Konflikts um Bergkarabach: Worum geht es?
Auf diesen Sieg folgte im November eine lange Reihe grauenvoller Kriegsverbrechen. Das beschriebene Handyvideo ist nur ein Beispiel. Die Taten wurden verΓΌbt, gefilmt und geteilt von aserbaidschanischen Soldaten und haben alle eines gemeinsam: Sie zeigen DemΓΌtigung, Folter und Hinrichtungen. Die Opfer: armenische Kriegsgefangene.
t-online zeigt im Video oben oder hier verfremdete Ausschnitte, die die Taten einordnen.
Die abscheulichen Details sind kaum zu ertragen oder zu beschreiben
Die Einzelheiten sind so abscheulich, dass man sie nicht einmal beschreiben mΓΆchte β doch genau deswegen ist es so wichtig, dass die Welt von ihnen erfΓ€hrt.
Ein anderes Video etwa verbreitete sich Mitte November und zeigt einen armenischen Soldaten dabei, wie er gezwungen wird, die Worte "Karabach ist Aserbaidschan" in die Kamera zu sagen. Nach einem Schnitt sieht man den Kriegsgefangen nochmal, diesmal ist er tot: AufgespieΓt mit einer Holzlatte, die zwei aserbaidschanische Soldaten festhalten.
Im Verlauf des ΓΌber eineinhalb Monate andauernden Krieges, den die aserbaidschanische Armee am 27. September begonnen hatte, konnte Aserbaidschan groΓe Teile der zuvor von Armenien kontrollierten Territorien erobern.
Γber den Autor: Neil Hauer ist kanadischer Journalist und Analyst. Seine Spezialgebiete sind der Syrienkonflikt sowie Politik, Krisen und Konflikte in SΓΌd- und Nordkaukasus (insbesondere Tschetschenien und Inguschetien). Zuvor war er Senior Intelligence Analyst bei der SecDev Group in Ottawa, Kanada und Berater in Radikalisierungs- und Sicherheitsfragen fΓΌr die EU und die OSZE.
Dazu gehΓΆren nicht nur die "sieben besetzten Bezirke" des frΓΌheren aserbaidschanischen Staatsgebietes, die bis zum ersten Karabach-Krieg Anfang der 1990er von Aserbaidschanern bewohnt waren und danach von Armenien als Pufferzone um Bergkarabach herum genutzt wurden.
Die jΓΌngsten Eroberungen Aserbaidschans betreffen auch groΓe von Armeniern bewohnte Gebiete mitten in Bergkarabach selbst. Noch vor zwei Monaten hatten etwa 30.000 Armenier hier gelebt, zum GroΓteil im sΓΌdΓΆstlichen Hadrut, das nun fast vollstΓ€ndig unter aserbaidschanischer Kontrolle steht. Die meisten Zivilisten konnten rechtzeitig flΓΌchten, doch bei Weitem nicht alle β und fΓΌr viele der ZurΓΌckgebliebenen, die in die HΓ€nde der aserbaidschanische Armee fielen, hatte das dΓΌstere Folgen.
Γbereinstimmende Zeugenaussagen bestΓ€tigen die Gewalt
Neben zuvor erwΓ€hnten Hinrichtungsvideos kursiert auf Telegram auch Material, auf dem zu sehen ist, wie aserbaidschanische Soldaten Γ€ltere Zivilisten in Zentral-Bergkarabach zusammenschlagen. Die Nichtregierungsorganisation "Crisis Group" hat Zeugenaussagen von GeflΓΌchteten gesammelt, die beschreiben, wie aserbaidschanische Truppen Dorfbewohner hinrichteten und HΓ€user in Brand setzten.
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Es gibt ΓΌbereinstimmende und bestΓ€tigte Aussagen, dass mindestens fΓΌnf Zivilisten, allesamt Γ€ltere MΓ€nner, erschossen wurden, nachdem das aserbaidschanische MilitΓ€r in ihre DΓΆrfer eingefallen war. Einer dieser MΓ€nner wurde zunΓ€chst von einem Schuss verletzt, anschlieΓend von Soldaten verfolgt und aus nΓ€chster NΓ€he mit einem gezielten Kopfschuss getΓΆtet.
Das vielleicht abschreckendste dieser Videos, das Folter und Gewalt gegen armenische Zivilisten zeigt, ist ebenfalls eines von Mitte November: Es stammt aus einem nicht nΓ€her erkennbaren Gebiet in Bergkarabach. Darin drΓΌcken mehrere aserbaidschanische Soldaten einen Γ€lteren Mann in seinem Haus zu Boden. Einer der Soldaten sitzt auf dem RΓΌcken des Mannes und schneidet ihm sorgfΓ€ltig bei lebendigem Leib die Ohren ab β eines nach dem anderen. Man sieht Blut, das sich ΓΌberall verteilt. Man hΓΆrt den Mann, wie er vor Schmerzen wimmert.
Verbrechen gibt es nicht nur auf aserbaidschanischer Seite
Doch es gibt nicht nur Beweise aserbaidschanischer Kriegsverbrechen an Armeniern: Erst kΓΌrzlich tauchte ein Video auf, gefilmt von einem armenischen Soldaten. Zu sehen ist ein verletzter aserbaidschanischer Soldat, der bereits am Boden liegt. Der Armenier rammt ihm einen Dolch in den Hals und tΓΆtet ihn.
SpΓ€testens seit diesem Video ist zwar klar, dass keine der beiden Kriegsparteien moralisch in irgendeiner Weise ΓΌberlegen ist β doch nach derzeitigem Stand existieren bei Weitem mehr Beweise fΓΌr aserbaidschanische Kriegsverbrechen als welche von armenischer Seite.
"Wie sollen wir mit solchen Menschen zusammenleben?"
Die aserbaidschanischen Videos haben auch die Bewohner Bergkarabachs erreicht. Einige haben sich vorgenommen, ebenso mit Gewalt auf aserbaidschanische Truppen zu reagieren, trotz der Waffenstillstandsvereinbarung. Einer von ihnen ist (oder war) Ashot Sevyan, ein Bewohner des Dorfes Chareknar im Nordwesten Bergkarabachs. Sevyans Dorf sollte am 25. November an Aserbaidschan ΓΌbergeben werden. Aus Armeniens Hauptstadt Yerevan hatten die Bewohner die Anweisung erhalten, das Dorf bis dahin zu verlassen. Er hatte sich vorgenommen, sich dem zu widersetzen und stattdessen sein Haus mit seinem eigenen Gewehr zu verteidigen.
Auf das Video, in dem das Abschneiden der Ohren gezeigt wird, antwortete er: "Wie sollen wir mit solchen Menschen zusammenleben?" Was seit dem Interview mit Sevyan oder seinem Dorf passiert ist, ist nicht bekannt. Einige Quellen behaupten, dass das Γrtchen offenbar doch nicht an Aserbaidschan gegangen sein kΓΆnnte. BestΓ€tigt ist dies jedoch bislang nicht.
Der Konflikt um Bergkarabach: Die FΓΌhrung der Sowjetunion sprach das ΓΌberwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schlieΓlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte. Bergkarabach selbst bezeichnet sich als unabhΓ€ngig, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgΓΌltigen LΓΆsung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Alijew selbst bezeichnete Armenier als "Hunde" und "Ratten"
Rassistischer Hass gegen Armenier β auch "Armenophobie" genannt β ist in Aserbaidschan kein Einzelfall, sondern Staatspolitik. Dieser Hass spielt eine treibende, befeuernde Rolle bei Kriegsverbrechen wie diesen. Hinweise auf dehumanisierende Rhetorik fanden sich ΓΌberall in der Kommunikation Bakus wΓ€hrend des Krieges: Aserbaidschanische Drohnen etwa wurden mit dem Schriftzug "iti qovan" geschmΓΌckt, was wΓΆrtlich "Hunde-JΓ€ger" bedeutet.
Der aserbaidschanische PrΓ€sident Ilham Alijew selbst hat armenische Menschen in seinen Ansprachen wiederholt als "Hunde" und "Ratten" bezeichnet, wΓ€hrend er mit dem Vormarsch seiner Truppen prahlte: "Wir treiben sie (die Armenier) jetzt heraus, wir werden sie wie Hunde jagen", sagte der aserbaidschanische PrΓ€sident ΓΌber die armenische Armee in einer Rede am 4. Oktober.
Aserbaidschan verstΓΆΓt gegen Punkt der Waffenstillstandsvereinbarung
Doch die Folter und Gewalt gegen armenische Kriegsgefangene ist nicht alles: Richard Giragosian, politischer Analyst und Berater aus Jerewan, betont: "Auf die groΓen Verluste Armeniens im jΓΌngsten Karabach-Krieg folgt nun der VerstoΓ Aserbaidschans gegen einen Punkt der Waffenstillstandsvereinbarungen, die von Russland verhandelt wurden. Denn mindestens 50 armenische Kriegsgefangene kΓΆnnen aktuell nicht zurΓΌckkehren. Material in sozialen Netzwerken zeigt die Misshandlung und Folterung einiger dieser Kriegsgefangenen. Doch Aserbaidschan strΓ€ubt sich offenbar noch dagegen, grundsΓ€tzliche Abmachungen zu erfΓΌllen."
Giragosian gehΓΆrt zu den erfahrensten Experten in seinem Gebiet: Zusammengearbeitet hat er unter anderem mit der EU-Delegation in Armenien, dem franzΓΆsischen AuΓenministerium, der OSZE, dem US-AuΓenministerium und dem US-Kongress. Er sieht Armenien aktuell in einer dΓΌsteren Verhandlungslage, denn die StaatsfΓΌhrung musste erneut SchwΓ€che zeigen und auch jetzt wieder Russland um Hilfe bitten.
Eine erste Reaktion gibt es von Human Rights Watch
Langsam erregen die Kriegsverbrechen auch internationale Aufmerksamkeit. Am 2. Dezember verΓΆffentlichte Human Rights Watch (HWR) einen detaillierten Bericht ΓΌber Aserbaidschans Misshandlungen armenischer Kriegsgefangener. Zugleich fordert HRW die Regierung in Baku auf, diese Verbrechen unverzΓΌglich zu stoppen und aufzuklΓ€ren.
Am Abend des 3. Dezember einigten sich Armenien und Aserbaidschan darauf, alle jeweiligen Kriegsgefangene auszutauschen. Noch ist unklar, ob diese Vereinbarung auch fΓΌr jene Soldaten und Zivilisten gilt, die vor Kriegsausbruch am 27. September gefangen genommen wurden.
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"Es ist bezeichnend, dass einige der Soldaten, die diese Misshandlungen begangen haben, keine Bedenken hatten, gefilmt zu werden", sagte Hugh Williamson, Direktor fΓΌr Europa und Zentralasien bei HRW. Er verwies auch auf das gelΓ€ufige Vorgehen Aserbaidschans, Misshandlungen armenischer Menschen unverfolgt und unbestraft zu lassen.
"Es braucht internationalen Druck, damit Kriegsgefangene zurΓΌckkehren kΓΆnnen"
In Armenien wird derzeit mithilfe einer Kampagne versucht, noch grΓΆΓere internationale Aufmerksamkeit fΓΌr diese Verbrechen zu generieren, um weitere Gewalt zu verhindern und Kriegsgefangene sowie sterbliche Γberreste der GetΓΆteten wieder nach Hause zu bringen. AngefΓΌhrt von Medienberater und IT-Sicherheitsexperte Samvel Martirosyan hat eine Gruppe armenischer Journalisten und Wissenschaftler alle Beweisvideos der Kriegsverbrechen gesammelt, dokumentiert und an internationale Organisationen und Regierungen geschickt, unter anderem an die OSZE und das US-AuΓenministerium.
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Martirosyans Ziel ist, derartige MissbrΓ€uche gegen armenische Soldaten und Zivilisten in aserbaidschanischer Gefangenschaft zu verhindern. "Wir werden nicht zulassen, dass sich Schweigen ΓΌber dieses Thema legt", sagt er t-online. "Wir bemerken jetzt schon, dass Aserbaidschan versucht, dieses Problem unter den Tisch zu kehren. Es braucht internationalen Druck, damit alle Kriegsgefangenen zurΓΌckkehren kΓΆnnen, um vor Folter sicher zu sein."
Auch drei Wochen nach Kriegsende werden Hunderte armenische Soldaten noch immer vermisst und tauchen in keiner Statistik auf. Martirosyan sagt: "Es ist bestΓ€tigt, dass sich mehr als ein Dutzend Zivilisten und etwa 50 Soldaten in aserbaidschanischer Gefangenschaft befinden."
Wenigstens fΓΌr diese Gefangenen bleibt also ein wenig Hoffnung β trotz der vielen dokumentierten Grausamkeiten, die in den vergangenen Wochen ans Licht gekommen sind. FΓΌr die Familien der getΓΆteten und gefolterten Opfer ist das jedoch kein Trost.
Die englische Version dieses Artikels lesen Sie hier.
- The National News: Reportage des Autors Neil Hauer ΓΌber Ashot Sevyan, der nicht flΓΌchten sondern kΓ€mpfen will
- Wikipedia: Anti-Armenian sentiment in Azerbaijan
- axsam.az: aserbaidschanischer Bericht ΓΌber die "HundejΓ€ger-Drohnen"
- Civilnet: Armenien und Aserbaidschan einigen sich auf Kriegsgefangenen-Austausch
- Human Rights Watch: Aserbaidschan misshandelt und demΓΌtigt Kriegsgefangene aus Armenien