Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angriff auf Putins Prestigebau "Die Kraft der Explosion war erheblich"
Der Ukraine ist erneut ein Schlag gegen die Kertschbrücke zwischen Russland und der Krim gelungen. Der Schaden an dem illegalen Bauwerk dürfte erheblich sein.
Es war der zweite schwere Schlag gegen die russische Kriegsmaschinerie innerhalb von Stunden: Kurz nach dem verheerenden ukrainischen Angriff auf mehrere russische Luftwaffenstützpunkte am Sonntag erschütterte am frühen Dienstagmorgen eine Explosion den südöstlichen Stützpfeiler der Kertschbrücke. Diese verbindet das russische Festland mit der besetzten ukrainischen Halbinsel Krim. Zwar gab Russland den Verkehr über die Brücke nur wenige Stunden nach der Explosion wieder frei – doch unbeschädigt blieb das illegal errichtete Bauwerk nach Meinung von Experten nicht.
"Mit ausreichend Sprengstoff kann man einer Brücke erheblichen Schaden zufügen, aber es ist sehr schwierig, sie zum Einsturz zu bringen", erklärte der Bauingenieur Dmytro Makohon der ukrainischen Nachrichtenagentur ukrinform. Bei der Unterwasserexplosion an dem Stützpfeiler kam nach Angaben des Geheimdienstes SBU Sprengstoff mit einer Explosionskraft von 1.100 Kilo TNT zum Einsatz. Viele Details zu der Aktion ließ der SBU zwar offen, doch einige Schlüsse kann der Experte aus den vorhandenen Informationen dennoch ziehen.
"Unter Wasser verhält sich die Schockwelle anders"
"Bei einer Explosion auf der Brücke wird die meiste Energie nach oben abgegeben", erklärt Ingenieur Makohon. "Unter Wasser verhält sich die Schockwelle aber anders. Das Wasser verhindert, dass sich die Druckwelle zerstreut und so geht mehr von der Explosionsenergie direkt auf das Bauwerk", so Makohon. Zum Vergleich erinnert der Fachmann an den Angriff auf die Kertschbrücke im Oktober 2022, als der ukrainische Geheimdienst 21 Tonnen Sprengstoff in einem Lkw auf der Fahrbahn der Brücke zur Explosion brachte. Nach dem Angriff musste die Brücke monatelang repariert werden.
Der jüngste Angriff dagegen könnte seine Wirkung erst mit der Zeit entfalten. Darauf deuten laut Ingenieur Makohon die Aufnahmen von der Explosion hin. Darauf ist zu erkennen, dass auch Teile der Fahrbahn und der Brüstung beschädigt wurden, die weit über der Wasseroberfläche liegen. "Das sagt uns, dass die Kraft der Explosion erheblich war", so Makohon. "Das Wasser wird den zerstörerischen Effekt noch verstärken, aber das dauert – eher Jahre als Tage oder Wochen", so der Ingenieur.
Die vom SBU veröffentlichten Aufnahmen von der Explosion sehen Sie hier oder oben:
Möglich ist, dass die Unterwasserkonstruktion der Brücke so beschädigt wurde, dass nun Salzwasser in die Bewehrung aus Stahlbeton eindringen kann. Die Träger der Brücke ruhen auf Dutzenden Betonröhren, die im Meeresgrund verankert sind. Denkbar ist auch, dass die tragende Konstruktion nun von Wasser unterspült und damit in ihrer Tragfähigkeit beeinträchtigt wird.
- Marschflugkörper Taurus: Der Brücken-Killer aus Bayern
Allerdings hätten die Russen durchaus die Möglichkeit, entstandene Schäden zu reparieren. "Das würde monatelange Arbeiten mit Tauchern bedeuten", erklärt Dmytro Makohon. "Alternativ könnten sie einen Kofferdamm aus Stahl rund um den Pfeiler errichten, das Wasser herauspumpen und die Stelle dann reparieren." Der Angriff zeigt demnach aber auch, wie schwierig es ist, die Brücke zum Einsturz zu bringen.
"Sie könnte selbst eine Atomexplosion aushalten"
"Solche Brücken werden mit einem großen Sicherheitsspielraum gebaut", erklärt Makohon. "Sie sind dafür ausgelegt, Kollisionen mit Schiffen oder Eisbergen auszuhalten. Sie könnte selbst eine Atomexplosion aushalten, die nicht direkt auf die Brücke gerichtet wäre." Wollte man die meterdicken Brückenpfeiler kontrolliert sprengen, bräuchte es genaue Berechnungen und sorgfältig platzierte Sprengladungen – undenkbar angesichts der engmaschigen Überwachung des Bauwerks.
Als Misserfolg will der ukrainische Militärexperte Oleksii Hetman den Angriff dennoch nicht werten. Er glaubt, der Angriff könnte ein Test gewesen sein, um zu ermitteln, wie gut das Bauwerk unter Wasser geschützt ist. "Entscheidend ist, dass sie überhaupt an die Brücke herangekommen sind", sagte Hetman ukrinform.
Der Angriff sei vermutlich mit Unterwasserdrohnen erfolgt, glaubt Hetman unter Verweis auf eine Andeutung des Geheimdienstes SBU. "Und das bedeutet, dass sie die Brücke wieder treffen können – beim nächsten Mal womöglich mit mehr Sprengstoff. Früher oder später wird die Brücke einstürzen."
Angriff mit Unterwasserdrohnen?
Wie genau der Angriff auf den Brückenpfeiler erfolgte, ließ der SBU zwar offen; nach Ansicht von Fachleuten kommen dafür aber vor allem zwei selbst entwickelte Unterwasserdrohnen der Ukrainer infrage. Die Toloka-Drohne kann je nach Variante zwischen 500 und 5.000 Kilo Sprengstoff ins Ziel tragen und hat eine Reichweite von 1.200 bis 2.000 Kilometer. Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde die Toloka-Drohne erstmals im April 2023, seither wurden verschiedene Modelle der torpedoförmigen Waffe entwickelt, wie das Fachportal militarnyi.com kürzlich berichtete.
Als heiße Kandidatin für den jüngsten Angriff wird auch die Marichka-Drohne gehandelt. Sie wurde von freiwilligen ukrainischen Ingenieuren mit Spenden entwickelt und im August 2023 vorgestellt. Sie soll eine Reichweite von 1.000 Kilometern haben und 1.000 Kilo Sprengstoff tragen können. Nach ukrainischen Angaben könnte eine Marichka-Drohne unter einem Schiff montiert worden sein, das auf dem Weg in einen Hafen am russisch kontrollierten Asowschen Meer war – und sich nahe der Brücke von ihrem "Mutterschiff" gelöst haben.
Diese Aufnahmen sollen eine Testfahrt der Marichka zeigen:
Die Kertschbrücke, benannt nach der Meerenge zwischen Russland und der Krim, wurde im Mai 2018 eröffnet. Ihr Bau verstößt gegen das Völkerrecht, weil Russland sie nach der Annexion der Krim 2014 gegen den Willen der Ukrainer errichtete. Kremlchef Putin weihte die 19 Kilometer lange Brücke persönlich ein und unterstrich damit den russischen Anspruch auf die Krim.
Zerstörung der Krim-Brücke wäre nicht nur ein Symbol
Nach der russischen Vollinvasion im Februar 2022 hatte die Brücke große militärische Bedeutung für den Kreml, weil sie die einzige Zugverbindung von russischem Territorium in den besetzten Süden der Ukraine darstellte. Über die Krim-Brücke brachte Russland nicht nur Soldaten an die Front, sondern auch große Mengen Treibstoff, Waffen und Munition. Doch nach dem schweren Angriff im Oktober 2022 hat sie an militärischer Bedeutung verloren.
So nahm Russland im August 2024 eine neue Bahnlinie in Betrieb, die von Rostow am Don im Süden Russlands über das zerstörte Mariupol bis in den Norden der Krim führt. Diese Bahnstrecke ist inzwischen die Hauptversorgungslinie für die russischen Besatzer im Süden der Ukraine. Ganz unbedeutend ist die Kertschbrücke für Putins Truppen gleichwohl nicht. "Sie wird nicht mehr für den Transport von Munition und Treibstoff genutzt, sondern für den Transport von Personal, Lebensmitteln, Wasser und Ersatzteilen – also von Dingen, die nicht explodieren", erklärt der Militärexperte Pawlo Naroschny ukrinform.
Dies sei die Lehre aus dem Angriff im Oktober 2022 gewesen, bei dem auch mehrere Treibstoffwaggons eines Zuges in Brand gerieten und den Schaden der Explosion potenzierten. Hinzukommt, dass sich die Bahnlinie in der besetzten Südukraine in Reichweite ukrainischer Artillerie befindet. Die vollständige Zerstörung der Brücke wäre also nicht nur ein Symbol der Besiegbarkeit Russlands, sondern würde auch die Logistik der Besatzer weiter schwächen.
- Eigene Recherche
- ukrinform.ua: Wie die Ukrainer die Krimbrücke erreichten und was jetzt damit passieren wird
- militarnyi.com: Die ukrainische Unterwasserdrohne Toloka wird aktualisiert: Was ist neu im Modell TLK-150
- euromaidanpress.com: Ukraine develops a kamikaze underwater drone to hit Russian bridges and warships
- unkrinform.ua: Russen starten neue Eisenbahnlinie aus Rostow nach Mariupol
- twz.com: Ukraine Strikes At The Heart Of Russia’s Highly Defended Kerch Bridge
- x.com: Post des ukrainischen Geheimdienstes SBU vom 3. Juni
- defence-ua.com: SSU Blew Up the Crimean Bridge for the Third Time: What Was Used to Detonate 1100 kg of Underwater Explosives?