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Erdbeben | Interview: "Afghanistan ist in der maximalen Katastrophe"


"Maximale Katastrophe"
Warum Afghanistan nun die nächste Krise droht

InterviewVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 25.06.2022Lesedauer: 5 Min.
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Nach dem Erdbeben: Viele Afghanen in der betroffenen Region haben bei der Katastrophe gleich mehrere Familienmitglieder verloren.Vergrößern des Bildes
Nach dem Erdbeben: Viele Afghanen in der betroffenen Region haben bei der Katastrophe gleich mehrere Familienmitglieder verloren. (Quelle: ap)

Das verheerende Erdbeben im Osten Afghanistans trifft das Land in einer äußerst schwierigen Lage. Warum, erklärt Unicef-Mitarbeiterin Samantha Mort im Interview.

Als alle gingen, blieb sie. Seit mehr als zwei Jahren lebt Samantha Mort in Kabul, arbeitet dort für Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Als im vergangenen August die Taliban die Macht übernahmen, meldeten sich diese kurz darauf bei Unicef. Bitte bleibt, war die Nachricht.

Seitdem arbeiten Mort und ihr Team unter anderen Vorzeichen. Im Interview spricht sie darüber, wie sich das Land verändert hat, über düstere Aussichten – und über das verheerende Erdbeben im Osten des Landes, bei dem am vergangenen Dienstag mindestens tausend Menschen umkamen.

t-online: Frau Mort, was hören Sie aus der Erdbebenregion?

Samantha Mort: Viele Häuser sind eingestürzt, es fehlt aber an Gerät, um in den Trümmern nach Menschen zu suchen. Das Erdbeben ist mitten in der Nacht passiert, als viele Menschen in ihren Häusern waren. Wir fürchten also, dass noch zahlreiche verschüttet sein könnten. Es ist herzzerreißend: Die Gegend ist sehr arm, viele haben nicht einmal das Geld, um ihre Angehörigen richtig zu bestatten.

Die Regierung hat Hilfsorganisationen in einem dringenden Appell um Unterstützung gebeten. Ist Unicef bereits vor Ort?

Wir haben sofort Teams in die Region geschickt. Die ist allerdings nur sehr schwer erreichbar. Das liegt natürlich am Erdbeben selbst. Doch hinzu kommt: Weil es in den vergangenen Wochen viel geregnet hat, sind die Wege schlammig. Immer wieder gibt es Erdrutsche. Dennoch haben wir erste Hilfspakete dort verteilen können, mit Zelten, warmer Kleidung, Hygieneartikeln. Viele dort haben alles verloren, und die Gefahr, dass sich Krankheiten ausbreiten können, ist hoch.

Welche Auswirkungen könnte das Erdbeben für Afghanistan haben?

Es könnte die Ernährungssituation weiter verschärfen, denn in der Region leben viele Bauern. Schon im vergangenen Jahr wurde die Ernte durch Dürre zu großen Teilen vernichtet, im Winter haben deswegen besonders viele Menschen gehungert. Das könnte dieses Jahr wieder passieren.

Das Erdbeben trifft das Land in einer ohnehin schon schwierigen Lage.

Es ist die maximale Katastrophe. Die Wirtschaft ist kollabiert, die Arbeitslosigkeit steigt, 97 Prozent der Bevölkerung sind arm. Nicht einmal jeder Zehnte kann sich selbst ernähren. Acht von zehn Afghanen trinken kontaminiertes Wasser. Es ist schwierig zu sagen, welche dieser Krisen die schlimmste ist. Aber am härtesten trifft es natürlich die Schwächsten in der Bevölkerung, in erster Linie Kinder und sehr gefährdete Familien.

Wie hat sich deren Leben durch die Machtübernahme der Taliban verändert?

Wer sich in Afghanistan umschaut, sieht viele halbfertige Bauten. Denn nach dem 15. August, als die Taliban die Kontrolle übernommen haben, ist ein Großteil aus dem privaten Sektor geflohen, darunter auch viele aus der Baubranche. Das hat zu Arbeitslosigkeit geführt, was wiederum große Auswirkungen auf die Fähigkeit der Familien hat, sich zu ernähren und Medikamente zu kaufen. Früher konnten Tagelöhner vier oder fünf Tage pro Woche arbeiten, jetzt sind es im Schnitt nur noch anderthalb. Dafür gibt es dann etwa einen Dollar. Die durchschnittliche Familiengröße in Afghanistan liegt aber bei acht Personen. Man kann sich vorstellen, in welch schwieriger Lage sich diese Familien befinden.

Dazu kommen die steigenden Lebensmittelpreise.

Die Preise für Grundnahrungsmittel, Treibstoff, Mehl, Öl, Grünzeug sind im letzten Jahr zwischen 50 und 130 Prozent gestiegen. Es ist eine furchtbare Ironie: In Kabul gibt es überall Stände mit Obst und Gemüse. Nur kann es sich niemand leisten, das zu kaufen.

Sie leben seit zwei Jahren in Kabul. Wie hat sich die Stadt verändert?

Die Krise ist überall greifbar. Auf der Straße sitzen Frauen, die um Brot betteln. Menschen versuchen, alles zu verkaufen, was sie besitzen und nicht dringend brauchen – wie Stühle, Tische, Heizöfen. Frauen sind aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens verbannt worden. Sie dürfen nur noch im Gesundheitssektor und am Flughafen beim Zoll arbeiten. Das hat massive Auswirkungen auf ihre Familien, denn in Afghanistan gibt es eine der höchsten Witwen-Raten der Welt. Die Frauen sind darauf angewiesen, zu arbeiten, um ihre Kinder zu ernähren.

Für Unicef kümmern sie sich vor allem um die Belange von Kindern. Wie dramatisch ist die Lage für sie?

Eine Million Kinder sind von schwerer und akuter Unterernährung bedroht. Das bedeutet, dass sie wahrscheinlich sterben, wenn sie nicht behandelt werden. Und wir haben etwa drei Millionen Kinder, die von mäßig akuter Unterernährung bedroht sind. Dazu kommen weitere besorgniserregende Entwicklungen. Wir sehen derzeit etwa einen enormen Anstieg der Unterernährung bei schwangeren und stillenden Müttern als Folge der vielen Entbehrungen während des Winters. Ein weiterer Trend ist, dass mehr Mädchen als Jungen an schwerer akuter Unterernährung leiden und ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das beobachten wir vor allem im Süden des Landes.

Wissen Sie, wieso?

Als unsere Chef-Ernährungsberaterin vor ein paar Wochen in der Stadt Kandahar war, hat sie mit Müttern gesprochen. Und eine Mutter sagte zu ihr: "Mein Mann verdient gutes Geld. Er glaubt einfach nicht an die Ernährung von Mädchen." Es ist eine Menge Arbeit, das soziale Verhalten zu ändern. Man kann also sagen: Seit dem 15. August hat sich die Lage stark verschlechtert, aber sie war zuvor auch nicht gut.

Mit den Taliban hat eine radikal-islamistische Gruppe das Land übernommen. Können Sie mit denen überhaupt zusammenarbeiten?

Sie haben ein Interesse daran, dass es der Bevölkerung nicht noch schlechter geht. Tatsächlich kommen wir jetzt in alle Teile des Landes. Vor der Machtübernahme waren es 60 bis 70 Prozent, oft wegen bewaffneter Konflikte.

Auf Twitter teilt Unicef Bilder und Videos davon, wie ihre Mitarbeiter mit Autos über extrem klapprige Brücken fahren oder Hilfsgüter mit Eseln ausliefern.

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Das sind teilweise Gebiete, in denen wir seit 20 Jahren nicht waren. Ich war kürzlich in einem Ort, da hatten die Menschen noch nie eine medizinische Versorgung. Frauen, die schwanger waren, hatten noch nie eine Untersuchung. Kindern, die sich etwas gebrochen hatten, wurden die Knochen vom Hirten gerichtet. Es ist normal, dass Frauen bei der Geburt sterben. Als ich die Gemeinde fragte, ob Babys routinemäßig geimpft werden, sagten die Ältesten: "Was ist eine Routineimpfung?" Es ist für uns schwer vorstellbar, dass im Jahr 2022 so viele Menschen immer noch nicht über diese Grundlagen Bescheid wissen. Aber das ist es, was wir jetzt in Afghanistan feststellen.

Und die Taliban unterstützen Sie dabei?

Ja. Wir haben auch schon vor der Machtübernahme mit den Taliban verhandelt, wenn wir Zugang zu einer Region brauchten, die unter ihrer Kontrolle stand. Wir haben dort dann Bildungsprojekte aufgebaut für Mädchen, die nicht in die Schule dürfen. Etwa, weil sie aus besonders konservativen Familien kommen, die nicht wollen, dass die Tochter einen weiten Weg zu einer öffentlichen Schule zurücklegt – sei es aus Angst vor Entführung oder wegen des sozialen Drucks.

Nun dürfen in weiten Teilen des Landes zumindest jugendliche Mädchen gar nicht mehr in die Schule. Die Taliban haben zwar versprochen, dieses Verbot wieder aufzuheben, doch bislang ist nichts passiert. Gibt es überhaupt noch Hoffnung, dass sich das ändert?

Hoffnung ist unsere Währung bei Unicef. Wir hoffen immer auf positive Änderungen, denn darauf arbeiten wir ja hin. Die Tatsache, dass in immerhin neun der 34 Provinzen Mädchen die weiterführende Schule besuchen, ist ein Grund zur Hoffnung. Es wäre noch viel schlimmer, wenn es kein einziges Mädchen gäbe. Und die Frauen in Afghanistan haben nicht aufgegeben. Sie gehen auf die Straße und setzen sich für ihre Rechte ein. Und wir werden weiterhin unseren Teil dazu beitragen – bis wir positive Veränderungen sehen.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Samantha Mort
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