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Brexit-Deal: Theresa May ist einsam und allein in einem hysterischen Land


Brexit-Deal
Theresa May ist einsam und allein in einem hysterischen Land

  • Gerhad Spörl
MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 19.11.2018Lesedauer: 5 Min.
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Die britische Premierministerin vor dem Regierungssitz in der Downing Street: Viele Brexit-Gegner hoffen, dass nun bald die Brexit-Befürworter die Regierung übernehmen.Vergrößern des Bildes
Die britische Premierministerin vor dem Regierungssitz in der Downing Street: Viele Brexit-Gegner hoffen, dass nun bald die Brexit-Befürworter die Regierung übernehmen. (Quelle: Leon Neal/getty-images-bilder)

Wenn sie wollen, können Boris Johnson und die anderen Kompromissfeinde die britische Premierministerin stürzen. Kein Wunder, dass sie zögern: Sie müssten dann ihre Loge verlassen – und selbst den Brexit vollziehen.

Sie ist ein zurückhaltender Mensch, der sich vor den Kameras unwohl fühlt. Sie ist keine eindrucksvolle Persönlichkeit, sie verlässt sich auf die Macht des Faktischen und wägt Alternativen nüchtern ab. Damit lässt sich in unaufgeregten Zeiten gut über die Runden kommen. Das sind aber nicht die besten Voraussetzungen für die schwerste Aufgabe, die derzeit ein europäischer Politiker bewältigen muss.

May wird pausenlos gedemütigt

Ich meine Theresa May. Aus ihrem Kabinett fliehen reihenweise die Minister und weitere sind auf dem Sprung, berichten die englischen Blätter. In ihrer konservativen Partei zerreißen sich ihre Feinde die Mäuler über sie und konspirieren unverhohlen, wann sie die Premierministerin absägen sollten. Der "Daily Telegraph" machte sich zuerst lustig über sie und nannte sie dann eine schrecklich mittelmäßige Frau, die sich beständig überschätzt.

Sie steht allein. Sie wird pausenlos gedemütigt. Sie muss sich mit exzentrischen Clowns wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg herumschlagen, die aus bestem Haus stammen und früher, als es noch das britische Imperium gab, Cricketplätze in indischer Hitze angelegt oder in Rhodesien Elefanten geschossen hätten, das Glas allerbesten Whiskys in der Hand, das Lächeln mokant und die Miene gelangweilt. Von ihnen erntet sie Hohn und Spott, Verachtung und Häme und könnte schon in dieser Woche zum Rücktritt gezwungen werden. Wie hält sie das aus?

Das Amt war wohl zu verlockend

Je näher der Austritt aus der Europäischen Union rückt, je länger die Verhandlungen mit Brüssel andauern, desto hysterischer und bösartiger geht England mit Theresa May um. Dafür verdient sie unsere Anteilnahme, finde ich. Nicht aber unser Mitleid, da sie einiges Ungeschick darauf verwendet hat, Feinde um sich zu sammeln und Freunde zu entfremden.

Wahrscheinlich ist sie die beste Premierministerin, die England haben kann, wenn es die EU hinter sich lässt. Zugleich ist sie aber auch die falsche. Das Paradox löst sich auf, wenn man bedenkt, dass sie nicht zu den "Brexiteers" gehörte, als das Referendum anstand. Sie war lau dagegen, ähnlich wie David Cameron, der damals Premier war und lieber nicht laut sagte, was er dachte, und dann schnell zurücktrat. Sie stand bereit als Nachfolgerin. Sie hätte besser daran getan, darauf zu verzichten. Aber es muss einfach zu verlockend, zu verführerisch gewesen sein, dieses Aphrodisiakum der Macht.

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Ich war erst dagegen, aber jetzt bin ich dafür, das ist Theresa Mays Logik. Glaubwürdigkeit gewinnt man so nicht, Autorität auch nicht. Damit macht man es den Verächtern leicht und den Wohlgesinnten schwer.

"Gebt mir einen guten Deal, oder ..."

Ich bin wirklich gespannt, ob sie die nächsten Wochen übersteht. Die Chancen stehen nicht einmal schlecht, glaube ich. Die Verhandlungen mit Brüssel sind so gut wie abgeschlossen. Am 25. November steht ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs über den Austritt an, der sich mit den künftigen Beziehungen zum Königreich befassen wird.

Die EU ist froh darüber, dass diese unangenehmen Konsultationen mit den immer neuen Forderungen und den ständigen Versuchen, die einen gegen die anderen auszuspielen, bald ein Ende haben werden. Für Kommissare wie Regierungschefs ist Theresa May eine Medusa, die sie auch noch passabel behandeln mussten, ohne dass sie je zufrieden gewesen wäre.

Ein liberaler Brite und überzeugter Europäer, Timothy Garton Ash, hat geschrieben, sie habe sich die Pistole an den Kopf gehalten und zu den Verhandlungspartnern gesagt: Gebt mir einen guten Deal oder ich erschieße mich. Schön ironisch gesagt, britisch eben.

Nordirland ist ein unlösbares Problem

Was Theresa May ausgehandelt hat, ist kein Wunderwerk, aber passabel unter den herrschenden Verhältnissen. Am 29. März ist D-Day: England verlässt das Bündnis, dem es halbherzig, aber einigermaßen verlässlich angehörte. Danach bleibt es für eine Übergangszeit bis 2020 ein Teil von Binnenmarkt und Zollunion, allerdings ohne Mitspracherecht; die Frist kann verlängert werden.

Der Grund für den halben Brexit ist Nordirland, der Appendix weit oben, der unbedingt zum Königreich gehören will, doch EU-technisch nach dem 29. März zum Ausland wird und somit eine Zollgrenze mit Irland teilt, das natürlich Mitglied bleibt. Darin liegt ein unlösbares Problem für England, das deshalb möglichst lange aufgeschoben wird.

Schrecklich, dumm, absurd, schreien die Clowns, sie verrät uns. Und merken gar nicht oder wollen nicht wahrhaben oder es ist ihnen völlig egal, dass England kein Großbritannien mehr ist. Schottland möchte zu Europa gehören, Wales eigentlich auch, nachdem es einst den Brexit befürwortete und nun mehrheitlich umgeschwenkt ist. Das ist alles, mehr gibt es nicht mehr – England tritt nicht nur aus der EU, sondern auch aus Großbritannien aus.

Sie werden nicht selbst verhandeln wollen

Nonsense, sagen die Clowns, wir gewinnen unsere Freiheit wieder, darauf kommt es an. Sie fiebern danach, Theresa May zu stürzen, damit sie endlich selbst in Downing Street am Schreibtisch Winston Churchills sitzen und Staatsmänner spielen können, die im Jaguar vorfahren und good old England in eine glorreiche Vergangenheit zurückführen, ohne dieses ständige Einmischen Brüssels, ohne polnische Klempner und deutsche Ärzte.

Dennoch werden sie es sich zweimal überlegen, ob sie selbst mit Donald Tusk oder Jean-Claude Juncker, von Emmanuel Macron oder Angela Merkel zu schweigen, noch einmal über den Brexit reden wollen. Es sagt sich ja so leicht: lieber gar keinen Deal als einen schlechten. Doch dann ist es ihr schlechter oder ihr gar kein Deal. Da bietet es sich förmlich an, Theresa May den Schierlingsbecher austrinken zu lassen und sich im uralten Landhaus am Kamin über dieses Monster an Inkompetenz zu amüsieren.

Ironischerweise gibt es eine starke Minderheit, die darauf hofft, dass die Clowns übernehmen: Das sind die Gegner des Brexits, den sie Brexshit nennen.

Freiwillig tritt May die Macht nicht ab

Die Clowns bedeuten Chaos. Sie treibt Jux und Dollerei. Sie sind verantwortungslos und unernst. Unbritisch eben. Mit ihnen an der Macht wird die Ernüchterung der Engländer über den Brexit wachsen und damit die Chance auf ein zweites Referendum, das dann günstig für sie ausgehen wird: Das ist die Logik, die das Unmögliche erhofft, das die Clowns möglich machen sollen.

Das ist um zu viele Ecken gedacht und falls das Wunder dennoch eintreffen sollte, würde sich für ein zweites Referendum wiederum keine große Partei stark machen und zu spät ist es ohnehin. Es müsste schon ganz schnell ein Sturm aus der Zivilgesellschaft aufkommen, der andere mitreißt und den Brexit am Ende glücklich verhindert.

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Trotzdem, die Hoffnung stirbt zuletzt.

Nüchtern betrachtet wird in den nächsten Tagen eher Theresa May gestürzt oder sie setzt vorher Neuwahlen an, damit sie um den Sturz herumkommt. Freiwillig tritt sie die Macht den Clowns bestimmt nicht ab.


Am vorigen Freitag stellte sich die Premierministerin im Radio Fragen der Zuhörer. Einen Anrufer fragte sie nach dem Wetter und der fragte zurück, wann sie endlich ihren Abschied nehme. Sie diskutierte über ihre Blutzuckerwerte und die Folgen des Brexits. Sie wirkte erstaunlich entspannt und ärgerte sich nicht über wenig liebenswürdige Frager. Ich stehe das durch, sagte sie. Ich würde es ihr wünschen, dass sie persönlich den Irrsinn glimpflich überlebt.

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