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Juan Moreno, Edward Snowden, türkische Rapper: Drei Helden, vor denen ich meinen Hut ziehe


Whistleblower und Rebellen
Drei Helden, vor denen ich meinen Hut ziehe

  • Gerhad Spörl
MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 16.09.2019Lesedauer: 6 Min.
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Whistleblower Edward Snowden: Der IT-Experte warnt vor dem Einfluss von sozialen Netzwerken wie Facebook. (Archivbild)Vergrößern des Bildes
Whistleblower Edward Snowden: Der IT-Experte warnt vor dem Einfluss von sozialen Netzwerken wie Facebook. (Archivbild) (Quelle: ap-bilder)

Wer sind die Helden unserer Zeit? Whistleblower wie Edward Snowden? Türkische Rapper, die gegen Erdogan texten? Ja – denn sie verschreiben sich einer Sache, die größer ist als sie selbst.

Mit Helden will ich mich heute beschäftigen. Helden, das ist ein wirklich großes Wort, aber manchmal eben angemessen. Helden setzen einiges aufs Spiel, manchmal ihre Existenz, manchmal sogar ihr Leben. Sie suchen es sich nicht aus. Oft sind sie Helden wider Willen und Erwarten. Die Sache, für die sie eintreten, ist größer als sie.

Wir lernen türkische Rapper kennen, wir begegnen Edward Snowden, der im Moskauer Exil lebt, und wir begegnen einem deutschen Journalisten, der fast daran gescheitert wäre, einen pathologischen Geschichtenfälscher zu enttarnen.

Türkische Rapper besingen, was sie an ihrem Land stört

Gefängnis oder andere Repressalien nehmen 18 türkische Rapper auf sich. "Susamam" nennen sie ihren Rap, auf Deutsch: Ich kann nicht schweigen. Sie rappen darüber, was sie an ihrem Land stört und ihr Leben beschwert. Daraus machten sie ein Video, das seit dem 6. September im Netz steht und innerhalb kurzer Zeit 20 Millionen Mal geklickt worden ist. Ganz offensichtlich sprechen sie ihren Landsleuten aus der Seele.

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Sie rappen über Jugendarbeitslosigkeit und Gewalt gegen Frauen, über Unrecht und Willkür, die Brutalität des Staates und das kulturelle Leitbild einer Herrschaft der Starken über die Schwachen. Ihre Lieder sind politische Stellungnahmen zur Türkei im Jahr 2019. Einer der 18 rappt: "Wenn sie dich nachts holen, schreibt kein Journalist darüber, denn die sitzen alle im Knast."

Nirgendwo fällt im Video der Name Erdogan. Es weiß ja eh jeder, wer gemeint ist. Die herrschenden Verhältnisse tragen nur diesen Namen. Eines der obrigkeitshörigen Blätter schrieb, die Rapper seien Terroristen. Das war noch jedes Mal der Freibrief für das Verschwinden in einem der Gefängnisse, die voll sind von Menschen, die handverlesene Richter aus nichtigen Gründen zu vielen Jahren Haft verurteilten.

Vor drei Jahren gab es einen Putschversuch, den Erdogan zur autoritären Umwandlung des Landes nutzte: 77.000 Menschen gerieten in Haft, darunter Journalisten, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker. 130.000 Staatsbedienstete verloren ihren Job, dazu 4.000 Richter und Staatsanwälte. Vor zwei Wochen waren 18.000 Lehrer, Polizisten und Soldaten an der Reihe.

Wer die Macht hat, hat auch die Deutungsmacht

Der Grund für den gewaltigen Umbau: Den Betroffenen wurde unterstellt, einem alten Prediger nahezustehen, der in Amerika lebt, früher Erdogan förderte und heute vom Präsidenten als Todfeind betrachtet wird. Für Fethullah Gülen zu sein, das nutzt Erdogan als Vorwand für eine gigantische Säuberung des Staatsapparates. Wer die Macht hat, hat auch die Deutungsmacht.

Die 18 Rapper wissen, was ihnen blühen kann. Dass noch nichts passiert ist, bedeutet nicht, dass nichts passieren wird. Was sie eventuell schützen könnte, ist der Nerv, den sie getroffen haben, wofür die enorme Zahl der Klicks ein schlagender Beweis ist. Die Rapper sprechen aus, was jeder weiß, was jeder sieht, was viele belastet, ärgert oder in die Verzweiflung treibt.

Womöglich hat Erdogan sogar den Zenit seiner allumfassenden Macht überschritten. In Istanbul regiert ein Bürgermeister, den er auf-Teufel-komm-raus weg haben wollte. Einer seiner Getreuen, Ahmet Davutoglu (er war Außenminister und Ministerpräsident), verließ in der vorigen Woche die Staatspartei AKP und will eine Konkurrenzpartei gründen.

Der Mut der 18, die das Schweigen brechen, verdient Hochachtung. Ihr Risiko ist nicht gering. Angeschlagene Paschas sind gefährliche Paschas. In ihrer Hochmut glauben sie fast immer, sie müssten jedes zarte Pflänzchen Widerstand mit ihren Stiefeln zertreten, um ein Exempel zu statuieren. Wir können nur hoffen, dass es nicht so kommt, wie es eigentlich kommen muss.

Der zweite Held ist Edward Snowden, der Mann, der die umfassende Observation der US-Geheimdienste NSA und CIA öffentlich machte und dafür ein Leben im Exil auf sich nahm, das in Südamerika liegen sollte und ihn auf halbem Wege in Moskau stranden ließ. Zu Hause in den USA würde er wegen Geheimnisverrats für lange Zeit ins Gefängnis kommen. Jetzt hat er ein lesenswertes Buch geschrieben, in dem er seine allmähliche Desillusionierung über sein Land beschreibt.

Der 13-jährige Snowden bemerkt die Sicherheitslücke

Sein Vater zeigt ihm den Umgang mit dem Commodore 64. Der Junge hat Talent, er bringt sich das Programmieren selber bei, da ist er sieben Jahre alt. Als er 13 ist, liest er einen Artikel über die Geschichte des amerikanischen Nuklearprogramms, geht auf die Website der Kernforschungsanstalt in Los Alamos und dringt ohne Schwierigkeiten zu internen Informationen über einzelne Angestellte vor, die eigentlich geschützt sein sollten, es aber nicht sind.

Was macht ein Junge in diesem Alter? Er schreibt dem Webmaster des Labors und macht ihn auf die Sicherheitslücke aufmerksam. Nichts passiert. Er ruft an, spricht auf Band. Eines Abends ruft tatsächlich jemand zurück und kann gar nicht glauben, dass ein Teenager das Sicherheitsproblem erspäht hat und die Kernforscher beharrlich darauf hinweist. Am Ende bietet ihm die Forschungsanstalt einen Job an, sobald er 18 ist.

Was ist wichtig daran? Die Eltern Snowdens arbeiten für den Staat und sind gute Amerikaner, die ihren Jungen zu einem guten Amerikaner heranziehen. Und Edward Snowden ist ein ungewöhnliches Computer-Talent wie die Generation vor ihm, die im Silicon Valley oder in Seattle die digitalen Konzerne von heute aufbaute, von Microsoft über Apple bis Google.

Snowden ist ein Nerd, kein Rebell. Er ist ein Patriot wie seine Eltern. Er möchte seinem Land dienen, will zuerst nach 9/11 zur Armee und startet dann bei der CIA eine rasante Karriere. Bald aber kommt die Ernüchterung, dann die Enttäuschung, aus der heraus ein Entschluss mit weitreichenden Konsequenzen für sein Leben reift.

Jeder Nutzer wird im World Wide Web vermarktet

Denn das schöne, neue World Wide Web entpuppt sich nicht als Freiheitssphäre, sondern als Überwachungskapitalismus, in dem Sie und ich und jeder Nutzer vermarktet wird. Wer von Freiheit und Gemeinsinn faselte, meinte nichts als die Ware, die wir sind.

Dazu kommt, dass die amerikanischen Geheimdienste nach 9/11 auf Digitaltechnik und Cyberspionage umschalten und von der Regierung freie Hand zur Anhäufung von jeglichem Wissen bekommen – Bürgerrechte hin, Bürgerrechte her. Die Jagd nach Terroristen und der Schutz vor Anschlägen wie 9/11 ist der Zweck, der die Mittel heiligt. Und Snowden, der Patriot, hilft dabei, das Monster zu erschaffen, vor dessen Gefräßigkeit er dann erschrickt.

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Schließlich entschließt sich Snowden zum Geheimnisverrat. Niemand kann das von ihm verlangen, außer ihm selbst. Er fliegt nach Hongkong, trifft zwei Journalisten, erzählt ihnen seine Geschichte und gibt ihnen die Geheimnisse preis, die sie im "Guardian" und der "Washington Post" veröffentlichen. Die Pointe seines lebensverändernden Vorgehens liegt darin, dass er noch immer der Patriot ist, der er war.

Jetzt zu Held Nummer Drei: Juan Moreno ist der Mann, der in Claas Relotius den Betrüger erkannte, den niemand im "Spiegel" in ihm sehen wollte oder konnte oder beides. Relotius war ja so nett und bescheiden, vielfach preisgekrönter Reporter schon in jungen Jahren, wegen seiner Bescheidenheit gerühmt. Und er sollte ein Fälscher sein?

Moreno – das war die Ausgangsposition – war nur ein freier Mitarbeiter, dem seine Vorgesetzten alsbald bedeuteten: Junge, bist du vielleicht neidisch oder eifersüchtig und willst du ernsthaft dieses Riesentalent vernichten? Denk darüber nach: Entweder du gehst am Ende oder er!

An Moreno lässt sich das Problem des Whistleblowers veranschaulichen. Solange er nur einen Verdacht hegt, steht er vor einer üblen Alternative: Entweder hat er Unrecht und fliegt raus – was mit Mitte Vierzig und mit vier Kindern nicht erstrebenswert sein kann –, oder er hat Recht und löst einen Riesenschock aus, von dem sich das Blatt über längere Zeit erst einmal erholen muss, falls das überhaupt möglich sein sollte. Er löst etwas aus, das er nicht übersehen kann und fühlt sich dennoch dafür verantwortlich.

Relotius, das waren gefälschte Texte mit erfundenen Figuren, dutzendweise. Auszeichnungen für Reportagen, an denen so gut wie nichts stimmte. Zitate, Szenen und Details erfunden. Fiktion anstatt Journalismus. Fahrten an ferne Orte, an denen reale Menschen mit realen Namen und realer Biographie lebten, über die er reale Geschichten hätte schreiben sollen, anstatt in einem Hotelzimmer zu sitzen und über fiktive Menschen und deren fiktive Biographien zu fantasieren.

Moreno tat dem "Spiegel" einen Gefallen

Übrigens riss Relotius zwei verdienstvolle, aber blinde Vorgesetzte mit sich herunter. Der eine sollte Blattmacher werden, der andere stellvertretender Chefredakteur. Daraus wurde nichts. Ihre Vertrauensseligkeit hatte überlang angehalten, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Sie misstrauten nicht Relotius, sondern Moreno. Sie mussten dazu gezwungen werden, das Unfassbare zur Kenntnis zu nehmen.

Juan Moreno tat dem "Spiegel" einen Gefallen, indem er ihn vor sich selber rettete. Das war schwer genug. Er begann mit der Selbstaufklärung, die der „Spiegel“ weiterführte. Radikale Selbstaufklärung im eigenen Haus. War überfällig.


Jeder unserer Helden hat seine eigene Geschichte, die ihn Konsequenzen ergreifen lässt, die er sich auch hätte ersparen können. Sie gehen den schweren Weg. Etwas in ihnen beschließt, das zu machen, was zu machen ist. Die Konsequenzen stehen vor ihren Augen und sie sagen: Sei’s drum. Da kann man nur seinen Hut ziehen.

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