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Kommentar zu Ergebnissen der Bundestagswahl: Isch over


Wahl markiert Zeitenwende
Isch over

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 27.09.2021Lesedauer: 4 Min.
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Erste Reaktion der Parteien: SPD und Grüne jubeln – Raunen bei der Union, Entsetzen bei Linken. (Quelle: t-online)

Es ist eine Zäsur: Union und SPD sind gemeinsam so schwach wie noch nie. Die alte Bundesrepublik ist damit endgültig Geschichte. Aber das führt nicht zwangsläufig zu instabileren Verhältnissen.

Diese Bundestagswahl ist historisch.

Erst dieser Sonntag bedeutet das Ende der alten Bundesrepublik.

Der 26. September 2021 wirbelt im politischen System mehr durcheinander als alle Wahlen seit der Wiedervereinigung.

Puh. Ist das nicht alles ein wenig übertrieben?

Nicht wirklich.

Wer sich die außergewöhnliche Dimension dieser Wahl klarmachen möchte, blickt am besten zunächst ein wenig zurück. Die alte Bundesrepublik war geprägt vom Dreiparteiensystem (wenn man CDU und CSU als Union betrachtet, was sie früher schon nicht immer waren). Das Zünglein an der Waage war stets die FDP. Sie allein sorgte dafür, dass Willy Brandt 1969 Kanzler wurde – und Helmut Kohl 1982.

Die Volksparteien erlebten ihren Höhepunkt wiederum 1972 und 1976. Union und SPD vereinten bei beiden Bundestagswahlen rund 91 Prozent der Stimmen auf sich – bei einer Wahlbeteiligung von jeweils um die 91 Prozent. Eine so große gemeinsame Mobilisierung erreichten sie nie mehr.

Seither ging es zumeist bergab. Darunter litt zunächst vor allem die SPD. Denn es gab mit den Grünen in den Achtzigerjahren und mit der Linkspartei infolge der Wiedervereinigung gleich zwei Neugründungen, die ebenfalls im linken Lager um Wähler buhlten. Erst mit der AfD spürte auch die Union, dass das einstige Mantra von Franz Josef Strauß ("Rechts von mir ist nur noch die Wand") nicht mehr galt. Zwischen CDU/CSU und der Wand ist inzwischen ziemlich viel Platz.

Und dennoch: Dass die Grünen inzwischen seit gut 40 Jahren, die Linke (mit einigen Namenswechseln) seit mehr als 30 Jahren und die AfD seit bald einem Jahrzehnt existieren, hat die Machtlogik der alten Bundesrepublik nicht in ihren Grundfesten erschüttert.

Wie wenig sich die fortschreitende Erosion der Volksparteien und die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems bemerkbar machten, zeigt sich schon allein an den Koalitionen auf Bundesebene: Es gab bislang noch nie eine Regierung, die von mehr als zwei Fraktionen im Bundestag getragen wurde.

Eine Koalition muss das andere Lager integrieren

Es stimmt zwar, dass sich Union und SPD zuletzt nur noch in immer kleiner werdende große Koalitionen retten konnten. Aber sie regierten ja wie gehabt – wenn auch eher miteinander als abwechselnd. Den viel größeren Machtverlust als die Volksparteien erlitt die FDP: Bei den sechs Bundestagswahlen zwischen 1998 und 2017 konnte sie nur noch einmal entscheiden, wohin das Pendel ausschlug.

Mit dieser Bundestagswahl hat es Union und SPD nun endgültig erwischt. Oder um es mit Wolfgang Schäuble zu sagen: Isch over.

Dieser Sonntag markiert deshalb eine Zeitenwende, weil Union und SPD gemeinsam nur noch auf rund 50 Prozent kommen. Für die Sozialdemokraten mag sich das Ergebnis wie ein Triumph anfühlen, aber es ist eines der schlechtesten seit 1949. Für die Union kommt das bescheidenste Resultat ihrer Geschichte einem Desaster gleich. Noch vor acht Jahren erreichte sie beinahe die absolute Mehrheit der Mandate im Bundestag.

Selbst wenn sich Union und SPD noch einmal zusammenraufen würden, hätten sie künftig keine allzu komfortable Mehrheit im Bundestag mehr. Dafür braucht es ein Bündnis aus drei Fraktionen, das zwingend ein anderes Lager integriert: also zwischen Union, FDP und Grünen oder SPD, Grünen und FDP.

Wir können trotz allem optimistisch sein

Mehr Parteien, weniger Prozente für den Sieger, schwierigere Verhältnisse im Bundestag – markiert die Wahl vom Sonntag auch das Ende der politischen Stabilität? Eine abschließende Antwort darauf kann es natürlich noch nicht geben.

Aber es gibt dann doch Gründe, trotz der dramatischen Umbrüche halbwegs optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Im internationalen Vergleich geht Deutschland künftig alles andere als einen Sonderweg. Es verlässt ihn eher und normalisiert sich. Denn in anderen Ländern sind unübersichtliche Verhältnisse im Parlament häufig bereits die Regel. Im Bundestag sitzen wie bisher sechs Fraktionen, vielleicht werden es in ein paar Jahren noch ein, zwei zusätzlich sein. Aber mehr als ein Dutzend wie in den Niederlanden sind es noch lange nicht.

Und selbst wenn: Der politische Wettbewerb wird belebt. Das ist nicht das Schlechteste. Für die Parteien gibt es viel zu gewinnen, aber eben auch viel zu verlieren, weil die Wähler so ungebunden sind wie nie zuvor. Noch vor zehn Wochen hätten weder Olaf Scholz (nicht im Traum) noch Armin Laschet (nicht im Albtraum) daran gedacht, dass das Rennen so knapp wird.

Grüne und Liberale punkten bei Jungen

Wenn gut 20 Prozent bereits reichen, um in einer Regierung den Kanzler zu stellen, haben die Grünen mit einem besseren Kandidaten und einer schlüssigeren Kampagne durchaus auch Chancen. Und natürlich auch die FDP, wenn es ihr gelingt, ihr Wählerpotenzial noch besser auszuschöpfen. Mittel- und langfristig sind sogar Koalitionen ohne Beteiligung von Union und SPD denkbar. In den Altersgruppen unter 45 Jahren kamen sie am Sonntag nicht einmal mehr auf 40 Prozent. Grüne und FDP erreichten dagegen bei den 18- bis 29-Jährigen bereits mehr als 40 Prozent. Das ist ein deutliches Signal dafür, wie viel in Bewegung geraten ist.

Und ob in einem unübersichtlicheren Parlament die Kompromissfindung tatsächlich so viel komplizierter wird als im System der großen Volksparteien, muss sich erst noch weisen. Früher führten Union und SPD mit ihren diversen Strömungen praktisch interne Koalitionsverhandlungen und waren durch ein bereits abgeschliffenes Programm recht anschlussfähig an die Konkurrenz.

Je kleiner eine Partei ist, desto pointierter sind ihre Inhalte. Bei der Suche nach Mehrheiten prallen dann erst einmal deutlichere Forderungen aufeinander, die Lösungen schwierig erscheinen lassen. Aber wahrscheinlich liegt das Erfolgsrezept in diesem Fall genau in jenem Weg, den auch die nächste Regierung gehen dürfte: Jeder Partner bekommt ein paar Projekte, die ihm wirklich wichtig sind – und mit denen er sich bei seiner Wählerschaft erfolgreich profilieren kann.

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