Vorbild Willy Brandt SPD und FDP: Im Zweifel hilft ein wichtiger Posten
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dieser Tage verhandeln unter anderem SPD und FDP um eine mögliche Koalition. Das gelang 1969 schon einmal – doch wie? Ein Blick in die Geschichte offenbart drei wichtige Bausteine.
Es ist der 21. Oktober 1969: Fast auf den Tag genau vor 52 Jahren wird mit Willy Brandt der erste Sozialdemokrat im Amt des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland vereidigt. Möglich wird dies durch die erste sozialliberale Koalition zwischen SPD und FDP.
Jetzt wollen die beiden wieder zusammenarbeiten – in einer Ampelkoalition mit den Grünen. Doch die inhaltlichen Unterschiede sind weiterhin groß. Wie können die Parteien von Olaf Scholz und Christian Lindner tatsächlich eine Regierung bilden? Der Blick in die Vergangenheit lässt einige Schlüsse zu.
Die Ampel-Parteien möchten nach eigener Aussage große Vorhaben umsetzen und eine "Zukunftskoalition" sein. Auch 1969 erhob die sozialliberale Koalition den Anspruch, eine "Reformregierung" zu bilden. Die Ausgangslage war jedoch schwierig: SPD und FDP trennten damals eigentlich Welten. Das lag vor allem an der gespaltenen FDP. "Die FDP ist nach dem Krieg zwar eine Partei, aber sie hat trotzdem unterschiedliche Flügel", erklärt Prof. Dr. Daniel Koerfer, Zeithistoriker an der Freien Universität Berlin.
Die FDP rückte nach links
Einem freiheitlich liberalen Flügel habe ein stark rechts gerichteter nationalliberaler Flügel aus ehemaligen Offizieren wie dem langjährigen Parteivorsitzenden Erich Mende gegenübergestanden. "Die Gruppe um Mende konnte mit der SPD überhaupt nichts anfangen", sagt der Historiker. Immerhin hätten die Sozialdemokraten alle zentralen Entscheidungen der frühen Republik, so unter anderem den Beitritt zur Nato und die Westbindung, abgelehnt. "Es gab substanzielle Unterschiede", meint Koerfer.
Dennoch schaffte es der moderate Walter Scheel, nachdem er 1968 den Parteivorsitz von Mende übernommen hatte, die Liberalen in eine sozialliberale Koalition zu führen. Dafür musste die Partei einen großen Schritt nach links machen. So trug sie später unter anderem die Pläne zur Gleichberechtigung von Ehegatten mit. Die traditionelle Vorstellung, dass die Frau den Haushalt führt und der Mann berufstätig ist, sollte damit überwunden werden.
Die FDP ist homogener geworden
Heute steht die Partei von Christian Lindner mit der SPD und den Grünen gleich vor zwei potenziellen Partnern, die dem linken Parteienspektrum zuzuordnen sind. Um eine Ampel zu verwirklichen, wird es also auch in der Gegenwart unvermeidlich sein, dass die Liberalen sich nach links öffnen. Das dürfte ihnen sogar etwas leichter fallen als 1969. FU-Zeithistoriker Koerfer sieht die Partei heute homogener – ein nationalliberaler, hart rechtsliberaler Flügel wie in den Anfangsjahren der Bundesrepublik sei kaum noch existent, allerdings auch kein dezidiert linksliberaler mehr.
Erste Anzeichen für den Schritt nach links sind bereits zu erkennen: Lindners jüngste Ambitionen, im neuen Bundestag mit den Unionsparteien den Platz zu tauschen und in die Mitte (also: nach links) zu rutschen, stehen wohl sinnbildlich für die neue Ausrichtung der Partei. Das Sondierungspapier zeigt, dass die FDP sich linken Positionen wie einem Mindestlohn von zwölf Euro nicht mehr verwehrt. Nichts ist mehr zu hören von den markigen Aussagen der letzten Jahre, die einen Flirt mit rechts vermuten ließen. Jüngst warnte Lindner gar vor einem Rechtsruck in der Union.
Die Liberalen scheinen also auch heute gewillt, sich aus der Mitte heraus für die beiden linken Koalitionspartner zu öffnen – ganz wie das historische Vorbild. "Wir freien Demokraten sind wieder bereit, Neues zu wagen", schrieb Christian Lindner in einem Gastbeitrag in der "Welt".
Die Liberalen als Königsmacher
Umgekehrt werden SPD und Grüne die Liberalen nicht umsonst in eine Koalition locken können. Ein möglicher Hebel: Posten.
Ähnlich wie heute war die FDP auch 1969 in einer Schlüsselposition. Zwar hatte sie mit 5,8 Prozent ein katastrophales Wahlergebnis eingefahren,1965 waren es noch 9,5 Prozent. Doch das Parlament bestand damals nur aus drei Fraktionen: CDU/CSU, SPD und FDP. Eine Regierungsbildung jenseits von Großer Koalition oder der absoluten Mehrheit war also nur mit den Liberalen möglich. Das wusste auch Willy Brandt und machte der FDP ein lukratives Angebot.
"Wie gewinnt man den Königsmacher? Mit Ministerien, mit politischer Macht", sagt Historiker Koerfer. Wie heute das Finanzressort war damals das Außenministerium von essenzieller Bedeutung. Immerhin hatte Deutschland die Frage der Ostpolitik zu lösen. Brandt plädierte dafür, das angespannte Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR und der Sowjetunion durch Annäherung zu entspannen.
Er verschwendete also keine Zeit und eröffnete Scheel den Weg ins Außenministerium. Zusätzlich durfte die FDP auch noch das wichtige Innenministerium besetzen. Ein Angebot, das die Liberalen nicht ablehnen konnten. Sie willigten ein und schickten die Union, obwohl sie stärkste Kraft geworden war, in die Opposition. Einen förmlichen Koalitionsvertrag benötigte man damals nicht. Die Koalitionsverhandlungen waren in drei Tagen abgeschlossen – unfassbar für heutige Politiker, meint Koerfer.
Lindner will Finanzminister werden
In der Gegenwart erhebt FDP-Chef Lindner offen Anspruch auf den Posten des Finanzministers, um sich bei wichtigen Projekten ein Mitspracherecht zu sichern. Der voraussichtliche SPD-Kanzler Scholz dürfte sich an der historischen Strategie Willy Brandts orientieren und versuchen, Lindner mit seinem Wunschressort gefügig zu machen.
Dabei wird er auch riskieren, die eigene Parteilinke zu verärgern – das zumindest vermutet Koerfer. Als Pragmatiker werde sich Scholz ganz an der Grundüberzeugung Brandts – und übrigens später dann auch Helmut Kohls – orientieren: "Der Koalitionspartner muss gepflegt werden. Der Koalitionspartner ist wichtiger als das Rumoren in meiner eigenen Partei."
So werde Scholz lieber die Jusos und den linken Flügel um Kevin Kühnert als Christian Lindner in die Schranken weisen, wie auch Brandt lieber die eigenen Jusos gestutzt habe, anstatt Walter Scheel und seine Freidemokraten zu verprellen. Die Begründung: Ohne die FDP wird das nichts mit dem Regieren, schon gar nicht über mehr als eine Legislaturperiode. Zwar muss Scholz mit den Grünen auch noch einen zweiten Partner bei der Stange halten, doch dafür hat er deutlich mehr inhaltliche Schnittmengen zur Verfügung als bei den Liberalen.
Ein fulminantes Duo
Vorbildfunktion könnte auch die gute persönliche Beziehung zwischen Brandt und Scheel haben. Die sozialliberale Koalition 1969 kam nur durch diese zwei Männer zustande, auch gegen erhebliche Widerstände. Mit Herbert Wehner und Helmut Schmidt waren mächtige Sozialdemokraten gegen eine Koalition mit den Liberalen. "Sie hielten Scheel für einen Luftikus", sagt Koerfer. Die bis 1969 regierende Große Koalition habe in ihren Augen gut funktioniert und sie pochten auf eine Fortsetzung.
Doch Brandt und Scheel verstanden sich gut und arbeiteten pragmatisch zusammen. Scheel und seine FDP hatten den Sozialdemokraten Anfang 1969 mit den Stimmen seiner Partei die Wahl von Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten ermöglicht – dem ersten Sozialdemokraten an der Staatsspitze seit Friedrich Ebert in der Weimarer Republik. Im Gegenzug hatte die SPD eine von der CDU angestrebte Reform hin zum Mehrheitswahlrecht verhindert, die die FDP irrelevant gemacht hätte. "Es war die erste große gemeinsame Entscheidung von SPD und FDP", sagt Koerfer. Sie habe den beiden Politikern gezeigt, dass sie zusammen etwas erreichen könnten. Von da an habe sich der Kontakt zwischen Brandt und Scheel intensiviert.
Das vertraute Miteinander
In einer Dreier-Konstellation wie der Ampel könnte ein guter persönlicher Draht zwischen den Akteuren bei noch komplizierteren inhaltlichen Umständen erst recht eine gute Stütze auf dem Weg zum Kompromiss sein. Mit ihren ständigen Beteuerungen über ein "vertrauensvolles Miteinander" scheinen die Koalitionäre auf einem guten Weg.
Der Blick in die Geschichte zeigt, wie eine Einigung zwischen zwei entgegengesetzten politischen Lagern möglich ist – mit inhaltlichen Kompromissen, stabilen persönlichen Beziehungen, und im Zweifel der Aussicht auf gewinnbringende Posten.
Bevor Olaf Scholz das nächste Mal vom Willy-Brandt-Haus in Richtung Koalitionsverhandlungen aufbricht, dürfte er im Atrium noch mal vor der überlebensgroßen Statue des Mannes innhalten, der der SPD-Parteizentrale seinen Namen gibt. Ein Stück des Geistes von 1969 könnte ihm und seinen Verhandlungspartnern durchaus nutzen.
- Interview mit Prof. Dr. Daniel Koerfer
- Eigenen Recherchen