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Wladimir Kaminer: Kein Russe ist so naiv, dass er Sputnik V vertrauen würde


Unbeliebter Impfstoff
Kein Russe ist so naiv, dass er Sputnik V vertrauen würde

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 10.07.2021Lesedauer: 5 Min.
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Wladimir Putin und Sputnik V (Bildmontage t-online): Der russische Impfstoff ist umstritten, sagt Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin und Sputnik V (Bildmontage t-online): Der russische Impfstoff ist umstritten, sagt Wladimir Kaminer. (Quelle: ITAR-TASS/imago-images-bilder)

Die Delta-Variante grassiert in Russland, aber kaum jemand will den Impfstoff Sputnik V. Die Menschen glauben nicht einmal, dass sich Wladimir Putin damit schützen ließ.

Erst jetzt wird langsam klar, wie übel uns Corona mitgespielt hat. Ich habe diese Zeilen in einer Gaststätte in Mittelfranken verfasst. Es war der Tag der Konfirmation, alle Räume in den Hotels und Lokalen dieser alten, an dieser Stelle nicht benannten Kleinstadt waren bereits vor Wochen reserviert.

Um 10 Uhr früh rannte die Menge in die Kirche, Alt und Jung mit solchen enthusiastischen Gesichtern, als wären sie noch nie in ihrem Leben in einer Kirche gewesen. Danach saßen diese Familien an langen Tischen, Tanten und Onkel von weit weg waren gekommen, Verwandte mit Vorerkrankungen, Omas auf Krücken, Rollstuhlfahrer durften sich wieder mit den anderen treffen.

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon".

Sie waren alle geimpft, und für Geimpfte ist die Anzahl der Haushalte, die zusammenkommen dürfen, nun unbegrenzt. In Berlin haben wir immer wieder gestaunt über dieses scheinbar wichtige Corona-Thema, wie viele Angehörige aus wie vielen Haushalten sich treffen dürfen. In einer Großstadt bestehen die Familien, wenn überhaupt, aus einem Haushalt: Mama, Papa, Kind und Katze. Auf dem Land sind es locker 30 bis 40 Personen, die zu den wichtigen Anlässen wie einer Konfirmation zusammenkommen.

Sie haben einander lange nicht gesehen, es wurde viel geschmust, geweint und gelacht. Wir haben es leicht in Deutschland, bei einer Inzidenz von um die 5 derzeit. In England, wo die Delta-Variante wütet, liegt die Inzidenz bei 200. Trotzdem heben sie dort die Maskenpflicht auf, sie öffnen die Clubs und Diskotheken. Ist das Virus nicht mehr schlimm?

Schlimm war es letztes Jahr, als es keine Impfstoffe gab außer dem russischen Sputnik V, der aber in der EU nicht zugelassen war. Jetzt hat sich die Situation geändert. Die Wissenschaft hat es längst herausgefunden: Die Impfung ist der Schlüssel zur Bekämpfung der Pandemie.

Natürlich werden sich nicht alle impfen lassen, und das Virus wird weiter die Menschen anstecken, aber sie sterben nicht mehr daran. Und wenn doch, dann auf eigenen Wunsch. Wir haben dem Staat vertraut, sind den Anweisungen gefolgt. Jetzt kann der Staat den Bürgern vertrauen, dass sie wissen, was sie tun. Und man kann die Pandemie nicht meistern, wenn es kein Vertrauen zwischen dem Staat und den Bürgern gibt. Russland hat mit dem Vertrauen ein großes Problem.

Keiner will die Impfung

Und dieses Problem hat die russische Führung jetzt mit großer Deutlichkeit zu spüren bekommen bei dem Versuch, eine Massenimpfung in Gang zu setzen. Zum ersten Mal während der ganzen Pandemie wandte sich endlich der Präsident persönlich im Rahmen seines "direkten Drahtes", einer dreistündigen Fernsehsendung, an das Volk. Er rief alle auf, sich impfen zu lassen. Zum ersten Mal erzählte er, dass er mit dem russischen Vakzin Sputnik V geimpft sei. Und das gleich zweimal.

Zum ersten Mal habe ich mir gewünscht, dass die Russen, die ihren Präsidenten so gern und lieb haben, ihm glauben und auf ihn hören. Immerhin sollen das laut Umfragen beinahe 70 Prozent aller Einwohner sein. Wenn sie bloß ihrem Lieblingspräsidenten folgen und sich impfen lassen würden. Doch nichts dergleichen ist passiert, gerade einmal rund zehn Prozent trauten sich bislang.

Und das, obwohl sie als erste einen sicheren Impfstoff hatten, von erfahrenen Ärzten entwickelt. Seit über einem Jahr ist das Impfangebot zumindest in großen Städten beinahe an jeder Ecke vorhanden, kostenlos. Die Menschen wurden mit Eis angelockt, ebenfalls kostenlos, mit einer Lotterie, man konnte eine Wohnung oder ein Auto gewinnen, wenn man sich impfen ließ. Trotzdem ging und geht keiner hin.

Auf der Liste der geimpften Länder steht das flächenmäßig größte Land der Welt auf Platz 85. Dafür wimmelt es von obskuren Verschwörungstheorien. "Nur die ersten zwei Spritzen sind für umsonst", erzählen sich die Menschen, "danach entwickelt der Körper eine Sputnik-Abhängigkeit und ab der dritten Spritze muss man richtig viel zahlen. Deswegen bestellt die Führung auch keine Impfstoffe im Ausland, wie das alle anderen Länder tun."

Trauerfeier im "Kaukasus"

Meine Schwiegermutter erzählte neulich am Telefon, dass sie in ihrem Dorf zu einer Trauerfeier in die Gaststätte "Kaukasus" eingeladen war. Eine alte Dame aus dem Dorf nebenan war gestorben, und zwar gleich nach der Impfung. Das ist schon die zweite Alte, die gleich nach der Impfung starb: Das Dorf bleibt jetzt natürlich ungeimpft. Sie mögen Wladimir Putin, wie er dem Westen frech ins Gesicht lügt und betrügt, das finden sie großartig.

Aber vertrauen tun sie ihm nicht – so blöd ist keiner.

Natürlich hat er sich nicht geimpft, denken die Menschen, warum sollten denn sonst alle, die ihn treffen, ob Minister oder Journalisten, für zwei Woche in Quarantäne? Und wenn er wirklich geimpft ist, dann sicher nicht mit Sputnik V, sondern mit einem westlichen, amerikanischen Präsidenten-Stoff. Den teilen sich die Mächtigen dieser Welt, während sie uns irgendein Gift einspritzen, war doch schon immer so, seit Anbeginn der Zeiten. So denken die Russen leise und lassen sich nicht impfen.

In Russland gehen die Meinungen der geimpften Intelligenzija über die Impfverweigerung des Volkes weit auseinander. Die einen sagen, dies sei eine Form des Widerstandes, die Menschen dürften nicht auf die Straße gehen, dürften nicht demonstrieren, dürften nicht frei wählen. Na gut, dann sterben wir halt, sagen sie und zeigen mit ihrer Impfverweigerung dem Boss den Stinkefinger. Die anderen behaupten, die Impfkampagne würde zu inkonsequent geführt, zu langsam und stümperhaft, weil es Sputnik V wahrscheinlich gar nicht gibt.

Auf jeden Fall nicht ausreichend, 200 Millionen Dosen, die es bräuchte, sind nicht vorhanden. Und der Staat hat Angst vor zu vielen Vakzinierungswilligen, die zur gleichen Zeit die Kliniken stürmen, er hat Angst vor langen Schlangen, vor Mangelware und der damit verbundenen Unruhe. Daran sei angeblich schon mal die Sowjetunion zugrunde gegangen.

Lange Zeit handelte der Kreml nach dem Motto "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser". Das wusste bereits Josef Stalin. Sie konnten das Land mit eiserner Faust an der Gurgel halten. Jetzt stirbt ihnen das Land unter der Faust weg. Jeder Tag bringt neue traurige Rekorde, die Krankenhäuser sind überfüllt, die Sirenen der Krankentransporte heulen Tag und Nacht. Neulich 25.000 Infizierte, über 700 Tote. Der Westen wäre gut beraten, jetzt der russischen Regierung Hilfe anzubieten.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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