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Syrien-Feldzug der Türkei: Kritik an Erdogan lenkt vom eigenen Versagen ab


Syrien-Feldzug der Türkei
Kritik an Erdogan lenkt nur vom eigenen Versagen ab

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 17.10.2019Lesedauer: 6 Min.
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Der türkische Präsident Erdogan: Kritik an ihm darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die internationale Staatengemeinschaft in der Syrienfrage versagt hat, meint unsere Kolumnistin.Vergrößern des Bildes
Der türkische Präsident Erdogan: Kritik an ihm darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die internationale Staatengemeinschaft in der Syrienfrage versagt hat, meint unsere Kolumnistin. (Quelle: reuters)

Wegen des Einmarsches in Syrien auf die Türkei zu schimpfen, ist leicht – dabei hat sich der Westen damit vollends in die Sackgasse manövriert. Die Syrer sind nun auf sich allein gestellt.

Und da fluchen und schimpfen sie wieder alle auf die Türkei, die in Nordsyrien einmarschiert ist. Den angeschlagenen Regenten in Ankara zum Buhmann zu machen, ist einfach und bequem. Es tut nicht weh und lädt so manche dazu ein, ihren Ressentiments, die sie schon immer unterbewusst oder offen gegen Türken gehegt haben, freien Lauf zu lassen. Zudem lenkt der Fingerzeig auf die Türkei wunderbar vom eigenen Versagen ab.

Dabei macht die Türkei letztlich nur – undiplomatischer und ungeschickter freilich – das nach, was andere Staaten vormachen. Was soll man von einem Staatschef wie Recep Tayyip Erdogan erwarten? Es gehört sozusagen zum Portfolio eines Machtpolitikers mit autoritärer Herrschaftsattitüde, sein Militär einzusetzen. Er hat es schon zweimal in Syrien getan. Den Konflikt mit den Kurden im eigenen Land ließ er eskalieren, um Präsident zu werden und seine Verfassungsreform umzusetzen. Was soll also das eklatante Echauffieren über das türkische Vorgehen?

Die "freie Welt" wollte keine Sicherheitszone

Ankaras Idee einer Schutzzone im Norden Syriens ist an sich gar nicht schlecht. Sie stand schon am Anfang des Syrien-Konflikts, bevor es zu irgendwelchen nennenswerten Kriegseingriffen aus dem Ausland kam und die Zahl der Flüchtlinge sowie die Zahl der islamistischen Söldner noch vergleichsweise überschaubar war. Doch die internationale Sicherheitszone, die Erdogan damals vorgeschlagen hatte, wurde von der "freien Welt" nicht unterstützt. Das war der erste große Fehler im Syrien-Krieg.

Eine solche Zone unter internationaler Kontrolle wäre eine Möglichkeit gewesen, die berechtigten Sicherheitsinteressen der Türkei zu wahren, die syrischen Flüchtlinge im Land zu halten und sie von dort aus den Aufstand gegen ihre Diktatur führen zu lassen. Doch die Syrer wurden im Stich gelassen, sodass sich ihnen schließlich skrupellose Dschihadisten aus aller Welt andienten und ihnen letztlich die Revolution entrissen.

Die "Schutzzone", die Erdogan jetzt allerdings mit seinem Militär durchsetzen will, hat mit den ursprünglichen Zielen nichts mehr zu tun. Hier geht es bloß darum, den türkischen Machtbereich auszudehnen, die schwächelnde AKP-Regierung innenpolitisch zu stärken, die syrischen Flüchtlinge außer Landes zu bringen und durch deren Umsiedlung in die "Schutzzone" die derzeitige Bevölkerungsmehrheit der Kurden umzukehren, was neue ethnische Konflikte, neue Wut und neue Gewalt bewirken wird.

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Gutes Zureden wird Erdogan nicht von seinem Weg abbringen, ebenso wenig wie die sinnlosen Verurteilungsfloskeln und Sorgensbekundungen aus den Brüsseler EU und Nato-Zentralen und den Hauptstädten der Welt. Diese steigern stattdessen nur die Wut auf die Institutionen und regierenden Politiker.

Für Erdogan zählt nur der türkische Nationalismus

Was für Erdogan zählt, ist der massive türkische Nationalismus, der sich dieser Tage wieder an allen Ecken und Enden zeigt. Salutierende türkische Nationalspieler, beinah gottgleiche Verehrungen für den Präsidenten, mit türkischen Flaggen geflutete soziale Netzwerke, aggressive Verbalattacken gegen Kritiker türkischer Politik. All das ist Wasser auf die Mühlen des Feldherrn.


Der vollkommen übersteigerte türkische Nationalismus ist eines der größten Probleme dieses wunderbaren Landes. Die glühende Begeisterung vieler für die türkische Nation übersteigt selbst die Ausmaße des amerikanischen Nationalismus. Auch Menschen mit türkischen Wurzeln im Ausland werden dadurch immer wieder in Schwierigkeiten gebracht.

Das zeigen nicht nur echte oder vermeintliche Sympathiebekundungen von prominenten Fußballern und die nachfolgende Empörung darüber, sondern auch der Alltag in Deutschland: Der Keil zwischen Kurden und Türken, zwischen AKP-Anhängern und -Gegnern, zwischen Auswanderern, die in der neuen Heimat ankommen möchten, und Auswanderern, die ihr Umfeld unbedingt weiter an die Türkei binden wollen, zwischen Deutschen und Migranten. Sie alle stehen sich vor dem Hintergrund des Feldzugs in Nordsyrien zunehmend unversöhnlich gegenüber. Erste Ausschreitungen gab es bereits, leider muss mit weiteren gerechnet werden.

In Syrien zeigt sich das Totalversagen der Politik

Und dennoch ist es wohlfeil, auf Erdogan allein zu zeigen, denn in Syrien konturiert sich gerade erneut das totale Versagen der internationalen Politik – insbesondere das der freien Welt bzw. des Westens. Dieses Mal manifestiert sich das verfehlte Vorgehen jedoch in einem neuen tragischen Opfer – den Kurden. Die Situation in Syrien ist derart verfahren, dass es keinerlei vernünftige Auswege mehr gibt. Die Welt hat es geschafft, sich in eine Sackgasse hineinzumanövrieren.

Weder das Abarbeiten an der Türkei führt zum Erfolg, noch am syrischen Diktator Baschar al-Assad, weder eine Unterstützung der Kurden, noch der bewaffneten arabischen Rebellen wird den Konflikt beenden. Niemand steht mehr auf der richtigen Seite: die Freie Syrische Armee kollaboriert erst mit den Islamisten und wirft sich nun dem Invasoren Erdogan an den Hals, die YPG holt sich Assad zur Hilfe. Die Beteiligten syrischen Parteien sind längst Marionetten Russlands, des Irans, der Hisbollah, der Golfaraber, den USA, und je nach Lage der Dinge werden sie verkauft und verraten. Wenn man an Syrien denkt, kommt einem automatisch Karl Kraus in den Sinn: "Es gibt Dinge, die sind so falsch, dass noch nicht einmal das absolute Gegenteil richtig ist."

Friedensbemühungen sind ein Treppenwitz

Die UN-Friedensbemühungen in Genf zwischen Anhängern der Opposition und der Regierung in Syrien sind ein Treppenwitz der Geschichte, die Gespräche in Astana reine Show-Veranstaltung. Der Nato sind die Hände gebunden, sie kann die Türkei als eines der wichtigsten Mitgliedsländer nicht verlieren.

Die Europäische Union – sämtliche Beschreibungen aus dem Wortfeld zahnloser Tiger sind bereits zu Recht für sie benutzt worden – kann außenpolitisch nur wenig Druck auf die Türkei ausüben. Ansonsten kehrt das Problem der Flüchtlinge zurück, was das Potenzial besitzt, Europa und speziell Deutschland aus den Angeln zu heben. Auch bei den anderen Akteuren steht die EU außen vor, wie die offenkundig ineffektiven Sanktionen gegen Russland wegen der Krim-Annexion oder die Unfähigkeit, das Atomabkommen mit dem Iran zu retten, zeigen. Tun wir also nicht so, als könnten wir etwas bewirken.

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Der US-Präsident ist bekanntlich auf einem völlig falschen Dampfer und an Peinlichkeit nicht zu überbieten, doch den Kardinalfehler im Syrien-Konflikt hat sein hochgeschätzter und mit dem Friedensnobelpreis bedachter Vorgänger Barack Obama begangen. Er hat nicht nur Assad gewähren lassen, sondern dem Iran und vor allem Russland erst ermöglicht, sich endgültig in Syrien zu etablieren und die Herrschaft im Land zu übernehmen. Trump hat das jetzt lediglich besiegelt, indem er seine Soldaten abzog.

Es gibt keine diplomatischen Mittel, um Russland zu einer Politik zu bewegen, die es nicht selber will. Kremlchef Putin ist kein Verhandlungspartner auf Augenhöhe. Russland hat die Geschicke Syriens fest in der Hand und wird sie nicht mehr loslassen.

Es interessiert niemanden, was mit den Syrern passiert

Durch all das wird das Vertrauen in die freie Welt ins Nichts, ins Nirwana geschickt. Gebrochene internationale Verträge, nicht eingehaltene Zusagen und das heimtückische Preisgeben der Kurden, die den Rest der Welt von der Terrororganisation IS befreit hatten. Egal mit wem ich spreche, überall sind Menschen von Verschwörungstheorien und Halbwahrheiten überzeugt.

Was sagt uns das? Die Wahrheit ist so einfach wie brutal: Es interessiert schlicht niemanden, was mit Syrien und seinen Bewohnern passiert. Jenseits von Moskau gibt es so etwas wie eine Syrienpolitik nicht – schon gar nicht im angrenzenden Europa. Niemand hat sich dort jemals ernsthaft für eine Lösung des Konflikts eingesetzt. Es gibt nur eine kurzsichtige Flüchtlingsabwehr- und Terrorvermeidungspolitik, die lediglich neue Gefahren entstehen lässt, so wie einst der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein ohne Etablierung einer Nachkriegsordnung den IS entstehen ließ. Nichts Halbes, nichts Ganzes. Sollten die Waffen in Syrien irgendwann einmal schweigen, herrscht kein bisschen Frieden.


Das mag sich nach einer ziemlich deprimierenden Beschreibung der Lage anhören, aber die Lage ist ziemlich deprimierend. Am Ende bleiben nur noch mehr tote Menschen, mehr Vertriebene und mehr Geflüchtete, neuer Terror, ein gespaltenes Land, von Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte weiter entfernt denn je, eine impotente Staatengemeinschaft. Die Syrer können daraus nur eines lernen: Jeder ist auf sich allein gestellt. Wer kann, verlässt das Land. Alle anderen sterben entweder oder arrangieren sich mit Islamisten, dem Assad-Regime oder wer auch immer gerade die Kontrolle hat. Die Freiheit ist damit für die nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte, verloren.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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