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Christen im Nahen Osten: Die Wurzeln der Weltreligionen trocknen aus


Christen im Nahen Osten in Not
Eine moralische Bankrotterklärung

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

24.12.2020Lesedauer: 5 Min.
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Weihnachten in Bethlehem: Dort steht die Wiege des Christentums.Vergrößern des Bildes
Weihnachten in Bethlehem: Dort steht die Wiege des Christentums. (Quelle: imago-images-bilder)

Weihnachten gilt nicht nur für Christen in Deutschland als hohes Fest. Auch Gläubige im Nahen Osten dürfen dabei nicht vergessen werden, findet Kolumnistin Lamya Kaddor und geht noch einen Schritt weiter.

Da ist es nun: unser Weihnachtsfest im Corona-Lockdown. Ja, "unser", denn auch als Muslimin werde ich heute mit Teilen meiner Familien zu Feierlichkeiten unterm Tannenbaum zusammenkommen. Frohe Weihnachten an alle! Besonders eindringlich möchte ich den Wunsch an dieser Stelle an Christinnen und Christen richten, die das Fest im Nahen Osten begehen.

An Weihnachten schauen traditionell viele für einen Moment dorthin, wo die Wiege des Christentums steht. Bilder vom Heiligen Abend in Bethlehem gehören am 24. Dezember zu jeder Nachrichtensendung. Die kurzen Sequenzen jedoch, die an die Geburt Jesu in der Stadt, die heute im von Israel besetzten Westjordanland liegt, erinnern, haben einen bitteren Beigeschmack.

Unser diesjähriges Fest ist angeblich "das härteste Weihnachten, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben". Das meinte jedenfalls NRW-Ministerpräsident Armin Laschet vor einem Monat. Eine solche Aussage irritiert schon, wenn man an die Weihnachtsfeste denkt, die die Menschen nach 1945 hungernd in Trümmern und viele von ihnen in Kriegsgefangenschaft verbringen mussten. Im krisengeschüttelten Nahen Osten klingen solche Einordnungen geradezu wie Hohn; ja, auch dort gibt es Nachkriegsgenerationen, der Zweite Weltkrieg tobte nicht nur in Deutschland, was im weitverbreiteten Eurozentrismus rasch untergeht, und anders als in Europa folgten dort in den vergangenen 75 Jahren noch diverse weitere Kriege.

Geburtskirche verleiht Welt ein Wohlgefühl

Das Schlaglicht, das jedes Jahr an Weihnachten auf Bethlehem gerichtet wird, stellt eine Form orientalistischer Verklärung dar. Die Aufnahmen von der Geburtskirche dienen allein dazu, der Welt ein Wohlgefühl zu vermitteln. Um die "Treuhänder" vor Ort geht es nicht.

Die Schlussfolgerung daraus ist nicht, auf Weihnachtsbilder aus Bethlehem zu verzichten, sondern die Lage der orientalischen Christen und Christinnen losgelöst von Jesu Geburtstag im Blick zu behalten. Für gewöhnlich sind die Kamerateams der TV-Sender aus dem "christlichen Abendland" schon in zwei Wochen wieder abgezogen, wenn die meisten Christen in der Region, die einer orthodoxen Kirche angehören, ihr Weihnachtsfest feiern. Im Rest des Jahres kommen sie allenfalls sporadisch wieder.

"Die Wiege der Christenheit wird bald frei von Christen sein, wenn die fatale Verdrängung der religiösen Minderheit aus der Region nicht gestoppt wird." Mit diesen erschreckenden Worten wies der Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Ulrich Delius, zu Beginn der Woche auf die dramatische Lage der Christinnen und Christen im Nahen Osten hin. Früher habe man die christliche Bevölkerung massenhaft dazu gedrängt, zum Islam zu konvertieren, heute zwinge man sie zur Auswanderung, erklärte er.

Bittere kulturelle Komponente

Selbst wenn Flucht, Vertreibung oder Emigration alle Bevölkerungsgruppen in der Krisenregion betrifft, sollte es die Welt im Fall der Christen besonders schmerzen. Dieser Exodus aus Syrien, dem Irak, den Palästinensergebieten, Ägypten hat zusätzlich zum Leid jedes einzelnen Menschen eine bittere kulturelle Komponente: die Wurzeln der größten Weltreligion trocknen mehr und mehr aus. Für gläubige Menschen, für die Staaten der Region und die Weltgemeinschaft ist das eine moralische Bankrotterklärung. Es müsste im Interesse jedes kultur- und geschichtsbewussten Menschen liegen, diese Entwicklung zu stoppen. Was wäre, wenn von der Wiege des Islams im saudi-arabischen Mekka und Medina nach und nach alle Musliminnen und Muslime vertrieben würden?

In Syrien leben Schätzungen zufolge nur noch rund 600.000 Christen. Damit hat sich die Zahl seit 2010 halbiert. Im Irak ist der geschätzte Bevölkerungsanteil in den vergangenen 20 Jahren von etwa zehn auf unter einen Prozent gesunken. Beide Länder werden seit Jahren von Kriegen heimgesucht. Im Krieg ist der Druck auf Minderheiten meist größer, weil sie verletzlicher sind und weil sie leicht zum Spielball der Mächtigen werden können.

Christentum gehört zur DNA des Nahen Ostens

Orientalischen Christinnen und Christen geht es ähnlich wie westlichen Musliminnen und Muslimen. Beiden wird mitunter vorgeworfen, machtvollen Kräften anzugehören. Orientalische Christen werden beschuldigt, die Fünfte Kolonne imperialistischer Westmächte, westliche Muslimen, die Fünfte Kolonne islamistischer Regimes zu sein. Für manche Außenstehende ist das schwer zu verstehen. Ein Mensch mag zu einer Gruppe gezählt werden, die in Teilen der Welt Macht ausübt, das schützt ihn aber nicht davor, anderswo auf der Erde Diskriminierung oder gar Verfolgung zu erleiden.

Das Christentum gehört zur DNA des Nahen- und Mittleren Ostens. Ohne Christen ist dort nichts mehr wie es war. Wer nur einmal etwa im syrischen Maalula war, einer kleinen Stadt in Syrien, wo teilweise noch die Sprache Jesu, Aramäisch, im Alltag gesprochen wird, weiß, wovon ich hier schreibe. Es ist es die politische, gesellschaftliche und historische Pflicht all jener, die über Macht verfügen, das Leben für Christinnen und Christen in der Region lebenswert zu erhalten. Die Regierungen der islamischen Länder müssen dazu viel stärker in die Pflicht genommen werden - von der eigenen Bevölkerung und vom Ausland.

Der Exodus wird nicht von gewöhnlichen muslimischen Bürgerinnen und Bürger vorangetrieben, sondern von Islamisten. Sie propagieren politische und islamische Vorstellungen, die auf Rassismus beruhen. Sie betreiben Ausgrenzung oder gar Verfolgung Andersdenkender. Ihnen gegenüber darf es kein Appeasement geben. Für Islamistinnen und Islamisten zählt letztlich nur schwarz oder weiß. Zu Kompromissen sind sie nicht fähig.

Islamisten muss die Stirn geboten werden

Islamistinnen und Islamisten muss im In- und Ausland die Stirn geboten werden. Und das weltweit. Auch die deutsche Außenpolitik ist da gefordert, mehr zum Schutz orientalischer Christen zu tun und die Friedenspolitik zu intensivieren. Dann und wann eine Mahnung von Verbänden oder vom Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, Markus Grübel (CDU), reichen nicht.

Um hierzulande die Phalanx durch die politischen Lager hindurch zu schließen, wäre es dringend nötig, das Thema vom Ruch des Rechtspopulismus à la AfD und der Islamfeindlichkeit à la Pegida zu befreien. Bei Fürsprechern, auch unter orientalischen Christinnen und Christen selbst, kommen zu oft Zweifel an den Absichten auf. Ich selbst frage mich bei manchen Advokaten immer wieder, geht es ihnen tatsächlich um das Leid der christlichen Bevölkerung oder um antimuslimische Propaganda? Die Zweifel beginnen da, wo der Eindruck vermittelt wird, Christen ginge es unter Muslimen generell schlecht. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern befördert das böse Spiel der Islamisten, deren Ziel die Konfrontation ist.

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"Mehrheitsgesellschaften" nicht pauschal verunglimpfen

Der Kampf um das orientalische Christentum kann nur mit der muslimischen Bevölkerungsmehrheit in der Region gewonnen werden, so wie Integration in Deutschland nur mit der sogenannten Mehrheitsgesellschaft und nicht gegen sie erreicht werden kann. Dazu ist es zwingend erforderlich, die jeweiligen "Mehrheitsgesellschaften" nicht pauschal zu verunglimpfen. Wer für eingewanderte Menschen in Deutschland etwas tun will, darf nicht alle Deutschen zu Rassisten erklären, und wer für Christinnen und Christen im Nahen Osten etwas tun will, darf nicht den Anschein von Islamfeindlichkeit erwecken. Unter diesen Bedingungen kann man eine breite Bewegung schmieden, um die Ziele zu erreichen.

Um die Lage der orientalischen Christinnen und Christen zu verbessern, sollten somit ad hoc zwei Ziele in den Fokus rücken: 1. mehr Aufmerksamkeit für sie schaffen, das erhöht den Handlungsdruck. 2. eine deutliche Grenze zu all jenen ziehen, die das Thema als Vehikel nutzen wollen, um ihre Abneigung gegenüber Musliminnen und Muslimen zu verbreiten. Mit beiden Punkten kann man noch heute anfangen. In diesem Sinne:

عيد ميلاد مجيد وكل عام وأنتم بخير – frohe Weihnachten!

Lamya Kaddor ist Deutsche mit syrischen Wurzeln. In ihrer Kolumne "Zwischentöne" analysiert die Islamwissenschaftlerin, Islamische Religionspädagogin und Publizistin, die Mitglied der Grünen ist, für t-online die Themen Islam und Migration. Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorin wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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