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Der bodenständige Landesvater: Winfried Kretschmanns wundersamer Aufstieg


Grünes Erfolgsgeheimnis
Winfried Kretschmanns unwahrscheinlicher Aufstieg

Von Tilman Baur, Stuttgart

Aktualisiert am 07.03.2021Lesedauer: 4 Min.
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Winfried Kretschmann wurde als erster Grüner Ministerpräsident eines Bundeslandes: Nun könnte er zum zweiten Mal wiedergewählt werden.Vergrößern des Bildes
Winfried Kretschmann wurde als erster Grüner Ministerpräsident eines Bundeslandes: Nun könnte er zum zweiten Mal wiedergewählt werden. (Quelle: Sebastian Gollnow/dpa-bilder)

Winfried Kretschmann regiert seit zehn Jahren Baden-Württemberg. Die CDU hat das traumatisiert. In einer Woche könnte der Grüne wiedergewählt werden. Doch sein Erfolgsrezept gefällt nicht jedem.

Winfried Kretschmann ist mittlerweile so sehr eins geworden mit seinem Amt, dass man schnell vergisst, wie unwahrscheinlich sein Wahlerfolg vor einem Jahrzehnt war. Bevor der Grünen-Politiker zum Ministerpräsidenten wurde, war die Politik in Baden-Württemberg über Jahrzehnte zementiert: Regierungen führte die CDU an, das war Gesetz. Mal in Koalition mit den Liberalen, mal mit der SPD, aber immer unangefochten an der Spitze. Zwanzig Jahre lang, zwischen 1972 und 1992, regierten die Konservativen sogar allein.

Auch 2011 war das noch so: Mit 39 Prozent der Stimmen wurde die CDU damals wieder einmal stärkste Kraft im Land. Doch sie brachte keine Koalition zustande. Für Grün-Rot reichte es hingegen, wenn auch nur knapp. Es war die Konstellation, die den Aufstieg Winfried Kretschmanns zum ersten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Republik ermöglichte.

Am 12. Mai, knapp zwei Monate nach der Wahl, wurden Kretschmann und seine Minister vereidigt. "Der Wechsel beginnt" nannten sie ihren Koalitionsvertrag. "Er soll eine Dynamik in und mit allen Teilen der Bevölkerung auslösen und soll nicht einfach abgearbeitet werden", sagte Kretschmann bei seiner Regierungserklärung. "Wir wollen eine Bürgerregierung sein!"

Die spezielle grüne Dynamik

Eine spezielle lokalpolitische und weltgeschichtliche Dynamik hatte den grün-roten Sensationserfolg überhaupt erst möglich gemacht. Die Spätwehen des Protests gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 und der Ärger über den brutalen Polizeieinsatz gegen Demonstranten im Herbst 2010 brachten den Grünen auf regionaler Ebene Stimmen. Die Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima kurz vor der Wahl spielte ihnen als Ur-Atomgegnern ebenfalls in die Karten.

"Die Themen Umweltschutz, Energiepolitik und Atomkraft waren vielen Wählerinnen und Wählern deshalb sehr wichtig", sagt Marc Debus, Professor für Politikwissenschaft und Vergleichende Regierungslehre an der Universität Mannheim, im Gespräch mit t-online. Viele hätten den Grünen auf diesen Feldern die größte Problemlösungskompetenz zugetraut, was am Ende zu einem knappen Vorsprung vor der SPD geführt habe.

Seither hat sich viel getan: Der heute 72-jährige Kretschmann hat sich zum prototypischen Landesvater entwickelt, zählt seit vielen Jahren zu den beliebtesten Politikern Deutschlands, einige Umfragen sehen ihn gar als den Beliebtesten von allen. In seiner Amtszeit haben die Grünen die CDU in der Wählergunst überholt, sind stärkste Partei im Land geworden.

Nur: Woran liegt das?

Ein Erfolg, viele Gründe

Kretschmanns Erfolg liegt, erstens, an den Südwest-Grünen: Der Landesverband sei schon immer moderater ausgerichtet gewesen als die Bundespartei oder andere grüne Landesverbände, sagt Marc Debus. "Das mag geholfen haben, die Grünen für viele bürgerliche Wähler wählbar zu machen."

Zweitens hat der bodenständige, zutiefst und betont bürgerliche, stark schwäbelnde Kretschmann selbst einen großen Anteil am Erfolg, der lange Jahre als Gymnasiallehrer arbeitete und 30 Jahre im Landtag saß, bevor er erstmals Regierungsverantwortung übernahm. "Das Amt muss zum Mann kommen, nicht der Mann zum Amt", ist einer seiner oft verwendeten Sätze, die Beharrlichkeit und Bescheidenheit ausdrücken. Das Zitat stammt von einem seiner Vorgänger, Erwin Teufel, einem CDU-Mann.

Die moderaten Kretschmann-Grünen schafften es, Stimmen aus verschiedenen Milieus zu gewinnen: von den Katholiken – Kretschmann selbst bekennt sich zu dem Glauben – den Pietisten und den Akademikern, deren Anteil in Baden-Württemberg überdurchschnittlich hoch ist.

Der Mannheimer Professor Debus attestiert Kretschmann in seiner Rolle als Ministerpräsident, sich weitgehend schadlos durch zwei schwierige Koalitionen navigiert zu haben. Insbesondere das grün-schwarze Bündnis mit der lange staatstragenden CDU als Juniorpartner der Grünen hebt er dabei hervor. "Da gehört schon ein gewisses Feingefühl dazu, die Koalitionen zusammenzuhalten, moderierend einzugreifen. Kretschmann scheint da die entsprechenden Fähigkeiten zu haben", sagt Debus.

Wo bleibt der Überdruss?

Kretschmann ist Baden-Württembergs neunter Ministerpräsident, nur drei seiner Vorgänger haben bislang länger regiert. Ist das Land langsam Kretschmann-müde? Ein Indiz dafür könnte die Klimaliste Baden-Württemberg sein. Das in Freiburg gegründete Bündnis speist sich aus jungen Klimaaktivisten, die die zu zaghafte Klimapolitik der Landesregierung scharf kritisieren und die den Grünen wertvolle Stimmen kosten könnten.

"Kretschmann ist hier in einem Dilemma. Er ist in einer Koalition mit der CDU dazu gezwungen, Kompromisse einzugehen. Diese sind natürlich weit von den eigentlichen Vorstellungen der Grünen entfernt – und noch weiter entfernt von jenen der 'Ur-Grünen', die eine stärker pointierte ökologische Wende wollen", analysiert Debus. Am Ende könnten die Stimmen der Klimaliste ausschlaggebend werden, wenn es zwischen CDU und Grünen knapp würde, glaubt der Experte.

Unabhängig vom Ausgang der Landtagswahl am 14. März hat die Ära Kretschmann die Grünen in Baden-Württemberg als Volkspartei etabliert. "Die Grünen im Land stehen strukturell gut da, ob mit oder ohne Kretschmann. Es geht schließlich nicht nur um die Person, sondern um Problemlösungskompetenz", sagt Marc Debus.

Wie viel der Wahlerfolge vom beliebten Landesvater abhängt, vermag der Professor nicht zu sagen. Fest steht nur eins: "Wer auch immer einmal seine Nachfolge antritt, muss große Fußstapfen ausfüllen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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