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Tagesanbruch: Volksbegehren in Bayern – Direkte Demokratie funktioniert!


Was heute wichtig ist
Direkte Demokratie funktioniert!

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.04.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Markus Söder.Vergrößern des Bildes
Markus Söder. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Markus Söder stand bislang nicht im Ruf, gesteigertes Interesse an Personen zu haben, die nicht Markus Söder heißen. Sein ganzes Streben und Wollen, sagt man ihm in Bayern nach, ist auf drei Buchstaben ausgerichtet: ich. Erst sägte er jahrelang an Horst Seehofers Thron. Nachdem er endlich selbst darauf saß, drosch er viele starke Sprüche. Als er dann von den Wählern abgestraft wurde, begann er Süßholz zu raspeln. Aber jetzt packt er die Geige aus und stimmt ganz neue Töne an. Wer dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden bei seiner gestrigen Rede in München lauschte, traute seinen Ohren nicht: Wir wurden Zeugen einer Unterwerfung.

Mehr als 1,7 Millionen Bürger haben sich am Volksbegehren "Rettet die Bienen" beteiligt, das sind 18,3 Prozent aller Stimmberechtigten in Bayern. Ein Rekord – und eine dröhnende Klage gegen den umweltpolitischen Kurs der Landesregierung. Markus Söder hat sich dieser Klage nun unterworfen: Gemeinsam mit ihren Partnern von den Freien Wählern will die CSU den Gesetzentwurf der Initiatoren des Begehrens nicht etwa als Anregung verstehen. Sondern ihn so, wie er ist, im Landtag beschließen. Mehr noch: Ein hochtrabend "Versöhnungsgesetz" getauftes Füllhorn soll den Umwelt- und Artenschutz im Freistaat massiv verstärken und zugleich Bauern entschädigen. So soll der Anteil des Öko-Anbaus bis zum Jahr 2030 auf 30 Prozent steigen. Kosten des Programms: bis zu 75 Millionen Euro.

Die Volte in Bayern zeigt uns dreierlei: Erstens kann direkte Demokratie funktionieren, wenn Bürger mit ihren Themen den Zeitgeist treffen und sich schlagkräftig organisieren. Geld spielt dann keine Rolle mehr. Zweitens verstehen immer mehr Politiker, dass sie auch zwischen Wahlterminen sehr genau auf die Stimme des Volkes horchen müssen, wenn sie dauerhaft auf ihrem Thron sitzen bleiben wollen. Geld spielt dann keine Rolle mehr. Und drittens ist Markus Söder drauf und dran, sich zu einem empathischen, umsichtigen Landesvater zu wandeln. Geld spielt … genau. Sägen und dreschen war gestern. Heute wird gefiedelt und spendiert.


Es gibt unzählige Sportarten. Und es gibt Fußball. Das schönste Spiel der Welt. Das uns für 90 Minuten die Welt vergessen lässt, das uns in Ekstase versetzt, das uns zwischen Euphorie und Enttäuschung Achterbahn fahren lässt. Gestern Abend in München sind wir wieder Achterbahn gefahren. Welch ein Spiel! Zwei Elfmeter, ein Platzverweis, neun Tore: So eine Dramaturgie kann sich keiner ausdenken, das kann man nur live erleben. Jedenfalls wenn man Fußball liebt. Mein Kollege Noah Platschko hat allen, die das ebenso sehen, eine Stimme verliehen.



Wir sind doch alle Demokraten, oder? Gut. Das wollte ich nur kurz sicherstellen, bevor wir uns der Situation in Algerien zuwenden. Das korrupte Regime dort kann dem Druck der Straße nicht länger standhalten. Der greise Präsident Abdelasis Bouteflika, der seit einem Schlaganfall vor sechs Jahren weder laufen noch sprechen kann, hat abgedankt. Laut Verfassung stehen deshalb binnen drei Monaten Neuwahlen an – doch das hat in Algerien zunächst nicht viel zu bedeuten. Schon früher durfte das Volk regelmäßig Kreuzchen auf Stimmzettel machen, frei und fair war daran nichts. Erst hielt der Präsident selbst, dann die Clique um ihn herum das Land im eisernen Griff.

Durch den Rücktritt des Präsidenten ändert sich daran jetzt: nichts. Deshalb setzen vor allem die jungen Algerier ihre Massenproteste fort. Eine Opposition muss sich nach den langen Jahren der Erstarrung erst noch formieren. Neue Hoffnungsträger? Bislang Fehlanzeige. Wen wirklich freie Wahlen ins Amt spülen werden, sofern die Demonstranten sie durchsetzen können? Ob es weiterhin ohne Gewalt zugeht, auch wenn es nun der gesamten Clique an den Kragen geht? Weiß keiner.

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Was wir auch nicht wissen: ob wir Europäer wirklich so lupenreine Demokraten sind. Die ersten und letzten freien Wahlen in Algerien fanden im Jahr 1991 statt, sind aber über den ersten Urnengang nicht hinausgekommen. Massendemonstrationen hatten die Abstimmung erzwungen, eine schwache Wirtschaftslage nahm vielen Menschen die Perspektive – genau wie heute. Doch als nach dem ersten Wahlgang die Islamisten vorn lagen, war das Entsetzen groß, und die Armee sagte mit dem Segen der europäischen Regierungen weitere Durchgänge ab. "Stabilität" hieß der Altar, auf dem man Volkes Stimme opfern wollte. Der Betrug mündete in einen Bürgerkrieg von unfassbarer Brutalität. Bis zu 200.000 Menschen ließen in dem Gemetzel ihr Leben. Die radikalsten Gruppen, die sich während dieses Konflikts formierten, standen dem "Islamischen Staat" von heute an Grausamkeit in nichts nach.

Auch dieser Tage ist Stabilität oft das erste, was europäischen Politikern zu Algerien einfällt. Mit gutem Grund: Gehen Reformen und Machtwechsel schief, könnte Libyen als Sprungbrett der Menschenschmuggler ernsthafte Konkurrenz bekommen. Nicht nur Migranten aus Afrika würden die algerische Küste nutzen. Auch die Algerier selbst könnten dann den gefährlichen Weg über das Mittelmeer antreten – ohne vorher eine tückische Reise durch die Sahara bewältigen zu müssen. Chaos in Algerien hat für Europa, auch für uns in Deutschland, unmittelbare Konsequenzen. Bisher sorgte die Diktatur für Sicherheit und Stabilität – für uns. Und für Stillstand, Korruption, Hoffnungslosigkeit, Unterdrückung – für die Menschen dort. Wenn nun die Karten neu gemischt werden, für wen wird Europa sein Gewicht in die Waagschale werfen? Wir sind doch alle gute Demokraten. Nicht wahr?


Apropos Demokraten: Bundeskanzlerin Merkel reist heute nach Dublin, um sich im Brexit-Finale ein Bild der Lage zu machen. Der irische Premierminister Leo Varadkar empfängt sie und wird ihr wohl eindringlich erklären, warum eine harte Grenze zu Nordirland eine große Gefahr für den Friedensprozess wäre.


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Das Prozessgebäude neben dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim erzählt deutsche Geschichte. In der Mehrzweckhalle in der Asperger Straße 49 standen in den Siebzigerjahren Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe vor Gericht; es folgten viele weitere Prozesse gegen RAF-Terroristen. Anfang der Neunziger beobachtete ich in dem tristen Betonsaal die Verfahren gegen Susanne Albrecht und andere RAF-Aussteiger, sah Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und andere Mörder, die seit vielen Jahren hinter Gittern saßen. Wir Zuschauer dagegen saßen auf orangefarbenen Plastikschalenstühlen und hörten, wie der kalte Stein der hohen Wände die bohrenden Fragen der Bundesanwälte ebenso zurückwarf wie das eisige Schweigen der Lebenslänglichen. Heute haben die Ex-Terroristen ihre Strafen längst abgesessen und leben wieder in Freiheit – zumindest äußerlich. Wer ihre Biografien verfolgt, stellt aber fest: Die meisten von ihnen werden das innere Gefängnis nicht mehr los. Ebenso wenig wie die Schuld, die sie auf sich geladen haben. Ähnlich ist es mit dem historischen Prozessgebäude: Es ist veraltet, heute öffnet der Neubau seine Türen. Aber seine Geschichten, die bleiben.


"Wir fordern eine ausgewogene und nachhaltigere Verkehrspolitik", schreibt das Bündnis Changing Cities. "Emissionsarme Mobilität, wie zum Beispiel das Fahrradfahren und Zufußgehen, muss endlich stärker berücksichtigt und gefördert werden. Schluss mit dem Vorrang für das Auto." Weil die Politik von Bundesverkehrsminister Scheuer so gar nicht dazu passt, ruft das Bündnis heute Nachmittag zur Großdemonstration in Berlin auf.


WAS LESEN?

Um die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche ist es schlecht bestellt. Immer neue Missbrauchsfälle und der zögerliche Aufklärungswille des Vatikans erschüttern die Kirche. Um dem Übel auf den Grund zu gehen, müsste man es wohl erst einmal besser verstehen: Warum häufen sich die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche? Der Psychologe Joachim Reich hat darauf Antworten, die aufhorchen lassen. Er war selbst Priester, therapiert heute Geistliche und sagt: "Sexuelle Probleme treiben Menschen in den Priesterberuf." Im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" erklärt er, was er damit meint.


WAS AMÜSIERT MICH?

Hatte ich behauptet, das britische Parlament könne zu allem und jedem immer nur nein sagen? Stimmt ja gar nicht!

Ich wünsche Ihnen einen optimistischen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

Korrektur: In der Passage zum Gefängnis Stuttgart-Stammheim stand, das alte Prozessgebäude werde abgerissen. Das ist nicht richtig. Stattdessen wird es generalüberholt und durch einen Neubau ergänzt.

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