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Tagesanbruch: Wir haben jetzt die Chance, Corona zu besiegen


Was heute wichtig ist
Ein noch schlagkräftigeres Virus

MeinungFlorian Harms

04.02.2021Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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In einem Labor in Rheinland-Pfalz wird die britische Coroanvirus-Mutante untersucht.Vergrößern des Bildes
In einem Labor in Rheinland-Pfalz wird die britische Coronavirus-Mutante untersucht. (Quelle: Andreas Arnold/dpa)

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WAS WAR?

Ein geschlagenes Jahr lang prasseln die Corona-Meldungen jetzt schon auf uns ein, von A wie "Antikörpertest" bis Z wie "Zulassungsverfahren". Zehntausende wissenschaftliche Studien, das permanente Nachrichtenfeuerwerk und die ununterbrochene politische Debatte liefern uns täglich Neuigkeiten. Leider trägt das Dauerfeuer nicht unbedingt zu unserer Orientierung bei. Deshalb ist es an der Zeit, nicht einen Einzelaspekt der Forschung unter das Mikroskop zu legen oder das tagesaktuelle Krisenmanagement in Berlin und Brüssel zu bekritteln, sondern einmal den Kopf aus dem Nachrichtengetöse zu heben und mit kühlem Blick einzuordnen, wo wir im Moment stehen. Vier Erkenntnisse stechen dabei heraus:

Erstens: Die Impfung ist nicht der Ausweg aus der akuten Misere, und sie war es auch noch nie. Sie taugt nicht dazu, eine Infektionswelle zu brechen. Es dauert viel zu lange, den Großteil der Bevölkerung mit dem erlösenden Serum zu versorgen – selbst dann, wenn der Gesundheitsminister und die EU-Kommissionspräsidentin alles richtig gemacht hätten und die Pharmafirmen nicht von Produktionsproblemen geplagt wären. Die Impfkampagne wirkt nicht kurzfristig, sondern gibt uns eine langfristige Perspektive, mit der wir die Herdenimmunität erreichen und unser sorgloses Leben zurückgewinnen. Sicher, auf dem Weg dorthin werden die Impfungen helfen, indem sie nach und nach manche der lästigen Beschränkungen überflüssig machen. Und schon jetzt können sie all jenen, die vom Virus am stärksten bedroht sind, das Leben retten. Deshalb ist es so eilig mit dem Impfen. Aber falls sich mit dem Piks in den Arm die Hoffnung verbindet, wir kämen damit aus dem aktuellen Lockdown schnell heraus oder könnten den nächsten sicher abwenden, dann ist das ein Missverständnis. Um das Virus rasch niederzuringen, brauchen wir den Mix der Maßnahmen, die wir kennen – und die viele von uns so unendlich nerven. Aber Jammern hilft dagegen ebenso wenig wie Schimpfen.

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Zweitens: Wie grundlegend sich die Situation in den vergangenen Wochen verändert hat, scheint noch immer nicht überall angekommen zu sein. Inzwischen ist sicher: Die neuen Virusvarianten schicken die Pandemie auf einen gefährlicheren Kurs. Weil die mutierten Erreger sich so viel schneller übertragen, müssen wir uns von den vertrauten Orientierungspunkten verabschieden. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung müssten geimpft sein, um die Herdenimmunität zu erreichen, glaubten wir? Denkste. Schon dieses Ziel war nicht leicht zu erreichen, jetzt müssen noch Millionen Impfwillige hinzukommen. Genauso unerfreulich sieht es bei der Schwelle aus, bis zu der die Kontaktverfolgung noch möglich sein soll: der Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern, einer Zahl, die sich längst in unsere Köpfe eingebrannt hat. Unterhalb dieses Wertes die Pandemie aufzuhalten, indem rechtzeitig die Kontaktpersonen der Infizierten aufgespürt werden, ist schon am ursprünglichen Virus gescheitert: Im Herbst stieg die Inzidenz unaufhaltsam über die magische Marke, als gäbe es die gar nicht. Mit den aggressiveren Mutationen erhöht sich der Druck auf die Gesundheitsämter, ihre Detektivarbeit so schnell wie möglich abzuschließen und dabei niemanden zu übersehen. Es ist kaum vorstellbar, dass das ohne einen strengeren Schwellenwert funktioniert. Das Virus beschleunigt seine Attacken. Unser Weg vom selbstzufriedenen Schulterklopfen bis zum Hilferuf "Schotten dicht!" ist kürzer geworden. Der Weg zur gefürchteten Triage auch.

Drittens: Die Auswahl an Impfstoffen wird immer größer, sie unterscheiden sich aber in der Wirksamkeit. Für Verunsicherung sorgt die Frage, ob auch die weniger beeindruckenden Mittel eine gute Wahl wären oder ob man sie besser meidet. An dieser Stelle können wir uns endlich einmal über eine richtig gute Nachricht freuen: Alle Impfstoffe, die jetzt oder demnächst in Europa zur Verfügung stehen – von Pfizer/Biontech und Moderna über AstraZeneca und Novavax bis zu Johnson & Johnson – verhindern den Tod durch Covid-19, und man landet nach einer Infektion auch nicht im Krankenhaus. Ja, das gilt nach aktuellem Stand der Forschung auch für jene Pechvögel, bei denen die Impfung nicht richtig angeschlagen hat. Und selbst dann noch, wenn man der besonders ansteckenden britischen Virusvariante ausgesetzt ist. Zwar kann die gefährliche Mutante aus Südafrika bei manchen Impfstoffen für ein paar Symptome sorgen, einen kratzenden Hals vielleicht oder Fieber, für mehr aber wohl nicht. Weitere Untersuchungen sind auf dem Weg, die bisherigen Ergebnisse legen aber nahe, dass wir da mit einem blauen Auge davonkommen. In der Praxis bedeutet das: Wer einen Impftermin bekommt – egal, mit welchem Impfstoff – der sollte nicht abwarten, sondern zuschlagen. So empfiehlt es die Bundesregierung, und damit hat sie recht.

Viertens: Ein Szenario kann uns in diesem Jahr übler in die Parade fahren als jedes andere. Aufbauend auf den bisherigen Varianten könnte sich durch Mutation ein noch schlagkräftigeres Virus herausbilden, gegen das die Impfung dann tatsächlich kaum oder gar nicht mehr hilft. Die ersten Schritte auf diesem Weg sind bereits zu beobachten: Wissenschaftler haben die südafrikanische Variante dabei ertappt, die Wirkung der Impfstoffe zu schwächen – zum Glück nur ein wenig. Auch wer bereits eine Corona-Infektion überstanden hat, ist vor dieser fiesen Spielart des Virus nicht sicher geschützt. Die bestehenden Impfstoffe den neuen Tricks des Erregers anzupassen, ist möglich, kostet aber Zeit – nicht nur im Labor, sondern auch für die Anpassung der Produktion und die Zulassung des modifizierten Mittels, dem Wirksamkeit und Sicherheit bescheinigt werden müssen. Diese Verzögerungen können uns das Jahr 2021 kosten. Dann wäre der Sieg über die Pandemie auf nächstes Jahr vertagt. Man mag es sich gar nicht ausmalen.

Schauen wir also lieber auf das Hier und Heute – und darauf, was wir jetzt tun können, um das Risiko zu bannen. Das Coronavirus ist dann am gefährlichsten, wenn es sich rasch vermehren und entsprechend viele neue Mutationen entwickeln kann. Ebenfalls von Vorteil für den Erreger ist, wenn er in der Bevölkerung bereits in vielen unterschiedlichen Versionen kursiert. Die große Auswahl hilft ihm, eine passende Lücke in unserer Abwehr zu finden und den Impfschutz zu überwinden. Wir Zweibeiner tun dem Virus also einen großen Gefallen, wenn wir unseren Laden nicht im Griff haben und uns ein stattliches Niveau von Infektionen akzeptabel erscheint. Das Risiko wird noch größer, wenn das Virus auf eine Bevölkerung trifft, die nur in Teilen geimpft ist. Denn in ihr kann sich das Virus nach wie vor schnell verbreiten – und zugleich von seinen erfolgreichen Schachzügen gegen unseren Impfschutz profitieren. So setzt es sich im Selektionsprozess gegen seine früheren, einfacheren Varianten durch. Darwin hätte seine Freude daran. Wir nicht.

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So sieht es also aus: Wir haben sehr gute Impfstoffe, eine klare Perspektive – und die Gelegenheit, es noch zu versemmeln. Lassen wir hohe Infektionszahlen während einer schleppenden Impfkampagne zu, dann sagt das Virus nicht leise Servus. Sondern Danke. Wir können es uns nicht leisten, im Kampf gegen den Erreger zu schwächeln und zu schlampen. Das ist hart, gibt uns aber auch Orientierung: Wenn wir jetzt alle miteinander noch einmal tief Luft holen, die nötige Disziplin aufbringen und uns in diesem Frühjahr nicht in einen Lockdown-Lockerung-Lockdown-Schlingerkurs hineinmanövrieren, dann werden wir zwar etwas lädiert, aber aufrecht aus dem Corona-Schlamassel hinauskommen. Wer mit diesem Modus unzufrieden ist, darf meinethalben auch zetern und fluchen. Aber halten sollten sich jetzt bitte alle daran – die politischen Entscheidungsträger ebenso wie alle anderen Bürger. Hoffen wir, dass sich diese Erkenntnis im Getöse der Corona-Nachrichten durchsetzen kann.


WAS STEHT AN?

In der US-Politik sehen wir bemerkenswerte Entwicklungen: Die Republikaner ringen mit dem vergifteten Erbe Donald Trumps und fragen sich, ob und wie weit sie sich von ihm absetzen sollen, berichtet unser Korrespondent Fabian Reinbold. Währenddessen schafft der neue Präsident Joe Biden Fakten: Er organisiert den Kampf gegen Corona, lockert die harte Migrationspolitik seines Vorgängers und hat den absurden Mauerbau an der Grenze zu Mexiko gestoppt.

Heute hält er eine Rede zu Amerikas Rolle in der Welt, die erste große außenpolitische Standortbestimmung seit seinem Amtsantritt. Dass er dabei einen konzilianteren Ton anschlagen wird als der Donner-Donald, ist so sicher wie wohltuend – auf Kuscheldiplomatie sollte sich die Bundesregierung aber nicht einstellen: Das Zwei-Prozent-Ziel bei der Rüstungsknete der Nato-Länder verfolgt Herr Biden genauso wie Herr Trump, das europäische Investitionsabkommen mit der künftigen Weltmacht China sieht er kritisch, und Deutschlands Ostseeröhre mit Putins Russland hält er ebenfalls für keinen guten Deal. Kurz: Berlin und Washington können nun endlich wieder miteinander reden – werden dabei aber wohl ziemlich oft streiten.


Noch läuft das Impfen hierzulande schleppend, doch je mehr Menschen die Spritze bekommen, desto lauter ertönt eine heikle Frage: Sollen Geimpfte wieder normal leben dürfen – also früher als andere wieder Restaurants, Kinos, Theater und Fitnessstudios besuchen? Zwar ist noch nicht abschließend geklärt, inwiefern Geimpfte trotzdem andere anstecken können, eine britische Studie bescheinigt dem Impfstoff von Astrazeneca aber immerhin einen "substanziellen Effekt" auf die Verbreitung. Weitere Untersuchungen laufen.

Skeptiker wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) warnen trotzdem vor einer "Spaltung der Gesellschaft" – Lockerungspropheten wie FDP-Chef Christian Lindner pochen dagegen auf das Grundgesetz: Bewegungsfreiheit ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht, schreibt er in einem Gastbeitrag für t-online. Nicht die Freiheit ist die Ausnahme, sondern ihre Beschneidung. Heute will sich der Deutsche Ethikrat dazu äußern. Am Ende dürfte sich die normative Macht des Faktischen durchsetzen: Haben erst Millionen Menschen den Piks erhalten, wird sich der harte Lockdown kaum aufrechterhalten lassen, bis im Herbst hoffentlich alle willigen Bürger geimpft sind.


WAS LESEN?

Die Skepsis gegen den russischen Impfstoff Sputnik V war groß, auch hier im Tagesanbruch. Nun zeigt eine Zwischenbilanz: Er ist bemerkenswert effizient und könnte auch Deutschland helfen. Die "Süddeutsche Zeitung" erklärt uns die Hintergründe.


Diabetes, Asthma, Krebs: Viele Risikopatienten fragen sich, wann sie mit einer Corona-Impfung rechnen können. Bislang gab es nur vage Informationen, welche Vorerkrankungen zu welcher Impfgruppe gehören. Jetzt hat die Ständige Impfkommission eine aktualisierte Liste veröffentlicht, die Ihnen meine Kollegin Melanie Weiner erläutert.


Erinnern Sie sich noch an den Streit um die Uploadfilter? Genau, das war lange vor Corona. Klingt kompliziert, hat aber weitreichende Folgen – und wird jetzt konkret: Internetriesen wie Google oder YouTube sollen künftig verantwortlich sein, wenn Nutzer urheberrechtlich geschützte Texte, Bilder oder Videos hochladen. Nun hat das Bundeskabinett die neuen Regeln verabschiedet. Die "taz" hat die Details.


WAS AMÜSIERT MICH?

Angela Merkel hat die beneidenswerte Fähigkeit, mit unheimlich vielen Worten unheimlich wenig sagen zu können. Ihren jüngsten Auftritt in der ARD-Sendung "Farbe bekennen" hat der geschätzte "Spiegel"-Kollege Stefan Kuzmany auf unnachahmliche Art protokolliert. Ich habe herzlich gelacht.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen schreibt meine Kollegin Anna Aridzanjan den Tagesanbruch, am Samstagmorgen hören Sie dann wieder den Wochenend-Podcast von Marc Krüger und mir.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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