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Corona-Regeln nach Gipfel: Mit möglichst vielen Paragrafen Versäumnisse wettmachen


Tagesanbruch
Phase drei hat begonnen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.03.2021Lesedauer: 9 Min.
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Skelett vor einem geschlossenen Restaurant in Hannover: Der Betreiber demonstriert dagegen, dass ihm die Stammgäste "wegsterben".Vergrößern des Bildes
Skelett vor einem geschlossenen Restaurant in Hannover: Der Betreiber demonstriert dagegen, dass ihm die Stammgäste "wegsterben". (Quelle: Julian Stratenschulte/dpa-bilder)

Guten Morgen,

hier ist Ihr Tagesanbruch von t-online. Heute geht es um eine neue Lehre aus der Corona-Krise, einen Schrank und ein bemerkenswertes Gedicht:

WAS WAR?

Am Tag danach hat sich der Rauch über dem Schlachtfeld gelichtet. Die Versehrten lecken ihre Wunden, ganz heil ist keiner geblieben. Auch einen Sieger gibt es nicht, wenngleich jeder der Kombattanten den Anschein erweckt, er habe sich durchgesetzt. Deutschlands rund zwei Dutzend Corona-Chefbekämpfer haben rund 83 Millionen Bürgern neue Regeln verpasst, sie haben fast zehn Stunden miteinander gerungen, sie haben sich angegiftet und einander Vorwürfe gemacht, sie haben sich mit Müh und Not zu einem Kompromiss durchgerungen, sie haben gestern auf allen Kanälen versucht, das Ergebnis zu erklären, aber so richtig verstehen tut es auch 30 Stunden später kaum jemand. Wers nicht glaubt, kann einfach mal den nächstbesten Passanten auf der Straße fragen: Wissen Sie, was nun erlaubt ist und welche Lockdown-Regeln gerade gelten? Eben.

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Die neue Strategie lautet: Versäumnisse sollen mit möglichst vielen Paragrafen wettgemacht werden. Das ist neu. Nach Ausbruch der Pandemie schlug sich Deutschland ein halbes Jahr lang bewundernswert, bewies Disziplin und besaß genug Geld, um die größten Schäden zu lindern. Aber dann zog der Leichtsinn ein, ein bisschen auch die Überheblichkeit, vor allem aber fehlte das Wichtigste, was es in einer Krise von historischen Ausmaßen braucht: Ärmel-hoch-Mentalität, Managerfähigkeiten, schnelle Entscheidungen und konsequente Taten.

Das Ergebnis sehen wir nun, in der dritten Phase: Das stolze Industrieland Deutschland, das sich früher mit China und Amerika maß, wird abgehängt und durchgereicht. In China ist Corona praktisch vorbei, die Wirtschaft beginnt wieder zu brummen, die Ambitionen wachsen in den Himmel. Die USA impfen ihre Bevölkerung im Rekordtempo und heilen die Schäden aus der Trump-Zeit, das alte Selbstbewusstsein der Führungsnation erwacht wieder. Und hierzulande? Wird viel geredet, aber zu wenig gemacht. Immer mehr Menschen sind frustriert, immer mehr Firmen, Restaurants und Geschäfte taumeln in Richtung Pleite, das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Regierenden schwindet. Die neuen Inzidenzwerte 50 und 100 wirken willkürlich und riskant, die großspurig angekündigte Testoffensive dürfte frühestens im April bundesweit anlaufen, die Verteilung der Impfstoffe stockt weiterhin, unkonventionelle Ideen zur Beschleunigung werden zerredet, verkompliziert oder ignoriert.

Schaut man sich die Lage an und hört zugleich die Selbstdarstellungsexperten Spahn und Söder reden, wie sie vieles ankündigen und ihr Selbstlob geschickt in den Medien platzieren, dann kann man schon ins Grübeln kommen, ob wir eigentlich die richtigen Leute auf den Chefsesseln haben, um das Land aus der Krise zu führen. Wenn man vernimmt, dass die Bundeskanzlerin ihren vorsichtigen Kurs gegen die Ministerpräsidenten nicht mehr durchsetzen kann und sich im Zweifel mit einer halbgaren Lösung zufriedengibt, dann wächst sich das Grübeln zur Sorge aus.

Ist das jetzt, im Frühjahr 2021, der historische Moment, an dem Deutschland endgültig abgehängt wird, an dem China seine Überlegenheit über Europa demonstriert, mit allen Folgen, die das nach sich ziehen kann? Wenn eine Diktatur besser mit einer Weltkrise zurechtkommt als eine Demokratie, was macht das mit der Attraktivität der politischen Systeme? Die Zustimmung der Bevölkerung zum Regierungskurs war in China nie höher als jetzt, und die Propaganda befeuert sie täglich. China hat schnell und entschlossen gehandelt, China ist medizinisch, technologisch und organisatorisch effizienter, China hat das bessere System: So schallt die Kunde nicht nur durch Asien, sondern auch bereits durch Afrika und Europa. Herr Orbán aus Ungarn und Herr Vučić aus Serbien applaudieren fleißig.

Das wird Folgen haben. Man wird sich daran erinnern, wenn das nächste Mal eine Investition getätigt, ein Vertrag verhandelt oder ein Verbündeter gesucht wird. So gesehen ist die Corona-Pandemie das Beste, was Chinas globalen Expansionsplänen passieren konnte. Einem überzeugten Demokraten hingegen muss diese Entwicklung Sorgen bereiten, und wer nach den Gründen sucht, landet nicht nur bei den staatlichen Strukturen, sondern immer wieder auch bei den handelnden Akteuren: Haben wir das falsche politische Personal? Warum gehen nicht mehr Leute mit Macherqualitäten in die Politik? Warum scheint es heute wichtiger zu sein, was einer sagt, als was er tut? Ich hatte mal einen Chef, dessen Motto lautete: "Ich brauche Leute, die nicht lang schnacken, sondern anpacken. Wenn ein Schrank in den fünften Stock hoch soll, dann schleppen wir ihn hoch, fertig! Wer dazu nicht bereit ist, den brauche ich hier nicht." War ein guter Chef.

Haben wir in Deutschlands Politik zu viele schlechte Chefs? Bevor Sie jetzt eifrig nicken, wechseln Sie bitte für einen Augenblick mit mir die Perspektive: Stellen Sie sich bitte einen großen Schreibtisch vor, der über und über mit Akten vollgepackt ist. Sie wollen sich gerade über das erste von 25 Dokumenten mit dem Stempel "Eilt!" beugen, da schwingt die Tür auf und zwei Mitarbeiter stürzen herein. Sie klatschen Ihnen noch zwei weitere Aktenstapel auf den Tisch, und dann erzählen sie Ihnen zwanzig Minuten lang, wo es überall hakt: Es fehlen Masken, es fehlen Tests, es fehlen Impfstoffe, und nun verlangen die Hersteller auch noch mehr Geld, die Kanzlerin lässt fragen, was denn nun ist, das Referat B4 braucht dringend die Entscheidung zur Vorlage 27/9, außerdem hat die EU-Kommissarin angerufen, die will das nun alles selbst machen, da müssen Sie dringend gegenhalten, Chef, ach übrigens, der Finanzminister hat sich im Frühstücksfernsehen über Sie mokiert, dem müssen Sie auch mal einen vor den Latz geben, twittern Sie doch mal was, ja, und der Typ von der Boulevardzeitung hat gerade nachgefragt, ob Sie ihm die vertrauliche Unterlage für den Gipfel vorab stecken, er würde dafür eine tolle Story über Ihr tolles Krisenmanagement schreiben, und …

Und so weiter. Sie sehen: Es ist kein Zuckerschlecken, Minister zu sein. Und nein, diese kleine Szene ist keine maßlose Übertreibung, allenfalls ein wenig komprimiert. Wer viel Verantwortung trägt, der braucht neben Organisationsgeschick und starken Nerven auch eine dicke Haut. In Diktaturen wird von oben bestimmt, wer entscheiden darf, in Demokratien von unten. Und wenn sonst niemand bereit ist, für Mandate und Ämter zu kandidieren, sich die Ochsentour durch Ortsvereine, Kreisverbände, Parlamente, Ausschüsse, Sitzungssäle und Talkshows anzutun, dann bleiben eben jene übrig, die sich dafür nicht zu schade sind. Alle anderen aber sollten sich bewusst sein, dass sie ebenfalls eine Verantwortung tragen: Eine Demokratie ist nur so gut wie ihre Demokraten, sie lebt vom Mitmachen. Sie braucht Leute, die nicht lang schnacken, sondern den Schrank in den fünften Stock hochtragen. Kritisieren ist einfach, engagieren ist schwer. Vielleicht sollten sich künftig mehr Macher für den schweren Weg in politische Spitzenämter entscheiden: Auch das könnte eine Lehre aus der Corona-Krise sein. Und sie wäre sogar positiv.

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WAS STEHT AN?

Seine erste Auslandsreise seit Beginn der Corona-Pandemie führt Papst Franziskus heute in den Irak – zugleich ist er das erste Oberhaupt der katholischen Kirche, das den Staat an Euphrat und Tigris besucht. "Die wohl riskanteste Reise" des inzwischen 84-jährigen Argentiniers nennt der "Tagesspiegel" den viertägigen Trip und hat damit in doppelter Hinsicht recht: Zum einen hat sich das Land noch längst nicht vom Kampf gegen den "Islamischen Staat" erholt, Zellen der Dschihadisten sind weiter aktiv. Ende Januar töteten zwei Selbstmordattentäter in Bagdad mehr als 30 Menschen und verletzten mehr als 100 schwer. Zum anderen wird natürlich auch der Irak von der Seuche gebeutelt – Veranstaltungen wie die für Sonntag in Erbil geplante Stadionmesse bergen daher nicht nur Gefahren für den (bereits geimpften) Pontifex, sondern auch für die Gläubigen. Trotz der Risiken wollten beide Seiten unbedingt an der Visite festhalten. Premier Mustafa al-Kadhimi möchte beweisen, dass sein Staat wieder halbwegs stabil ist. Und Franziskus geht es darum, das Aussterben des Christentums im Nahen Osten zu verhindern: Seit dem Sturz Saddam Husseins haben 80 Prozent der ehemals 1,5 Millionen Christen das Land verlassen. So gesehen kommt seine Reise keinen Tag zu früh.


Gewinnt Dominik Grafs Erich-Kästner-Adaption "Fabian" den Goldenen Bären? Oder "Nebenan", das Regiedebüt des Schauspielers Daniel Brühl? Oder doch "Ich bin dein Mensch", die Roboter-Geschichte von Maria Schrader? Hach, was wären das normalerweise heiß diskutierte Fragen, zumal bei so vielen deutschen Produktionen im Wettbewerb! Doch weil die 71. Berlinale bislang als digitaler Branchentreff daherkommen musste und außer der Jury nur ein paar Journalisten die Filme sehen konnten, hält sich auch die Aufregung in Grenzen, wenn heute um 12 Uhr die Preisträger verkündet werden. Einen Blick auf die Entscheidung können wir natürlich trotzdem schon riskieren (schauen Sie mal hier), denn – kleiner Hoffnungsschimmer – im Juni soll ein öffentliches Festival folgen.


Kennen Sie Christian Baldauf? Dann sind Sie nicht allein. Selbst in Rheinland-Pfalz, wo der CDU-Mann bei der Landtagswahl am 14. März SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer herausfordert, hat fast die Hälfte der Menschen noch nie vom Spitzenkandidaten der einstigen Regierungspartei gehört. Heute Abend könnte sich das ändern: Um 20.15 Uhr treffen Regierungschefin und Oppositionsführer im TV-Duell aufeinander, der SWR überträgt live.


WAS LESEN?

Markus Söder und Olaf Scholz haben sich während der Corona-Videokonferenz mächtig in die Haare gekriegt. Was sind die Hintergründe des Streits? Unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert klären Sie auf.


Unter den Corona-Schwerkranken auf den Intensivstationen seien besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund, daher müsse in Moscheen "beinharte Sozialarbeit" geleistet werden: Eine seltsame Aussage von Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts, raunt durch die Medien. Unsere Kolumnistin Lamya Kaddor hat dazu einiges klarzustellen.


Der Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson könnte bald verfügbar sein – und er hat entscheidende Vorteile. Meine Kollegin Melanie Weiner erklärt sie Ihnen.


Ab Mai will die Bundesregierung deutsche Medien mit 220 Millionen Euro fördern. Wird Wirtschaftsminister Peter Altmaier damit zum Totengräber der Pressefreiheit? Wolfgang Büchner, ehemaliger "Spiegel"-Chefredakteur, kommentiert die seltsame Idee.


WAS AMÜSIERT MICH?

Heute habe ich zwei Schmankerl für Sie. Der liebe Mario Lars hat nämlich zufällig jemanden auf der Straße getroffen:

Und dann hat mich eine E-Mail der Leserin Astrid Mazur-Schaar erreicht. "Seit Monaten begleitet mich Ihr Tagesanbruch durch die Pandemie und bringt die Lage auf den Punkt", schreibt sie (sehr nett). Sie bedankt sich und fügt hinzu: "Heute aber hat mir Ihr Text gezeigt, dass auch ich – weder Virusleugnerin noch Maßnahmengegnerin – allmählich an meine Geduldsgrenzen stoße. Und so inspirierte mich Ihr Leitartikel zu einem Gedicht, das ich Ihnen nachfolgend zukommen lasse." Und weil Frau Mazur-Schaar so nett ist, hat sie mir gestattet, ihr Gedicht hier zu veröffentlichen:

Pandemie-Management

Wir wollen aus dem Lockdown raus!
Nicht im Kreis herum, sondern geradeaus.
Wir wollen eine sinnvolle Politik –
ja, da übe ich nun vehement Kritik –
die nicht ständig immer nur etwas verspricht
und dann doch wieder jedes Versprechen bricht.

Wo waren die Masken gleich zu Beginn?
Welcher Vollpfosten war da Berater*in,
als es hieß, die würden ja doch nichts bringen
beim Viren-Infektionsstopp-Gelingen?

Danach hat man lange herumgeblödelt
und im Sommer wertvolle Zeit vertrödelt.
Wurden Schulen in der Zeit etwa nachgerüstet?
Hier hat sich doch fast jeder nur mit "man sollte" gebrüstet.
Sind Gesundheitsämter inzwischen digital vernetzt?
Gemach, gemach, hier wird nicht gehetzt.

Man wartet immer erst, ob man auch wirklich steht,
bevor man den nächsten Schritt plant, statt ihn endlich geht.
Dass man zwischenzeitlich die Straße planiert…
Fehlanzeige, da ist nichts passiert.

Im Herbst kam ein Lockdown, zunächst mal nur "light",
ein Blödsinn, der wirklich zum Himmel schreit.
Als ob ein bisschen schnäuzen die Nase frei macht.
Das Virus hat sich ins Fäustchen gelacht.
Es ist auch klammheimlich heftig mutiert.
Bei uns ist außer Lockdown kaum was passiert.

Hier in Deutschland regiert in der Pandemie
weiter das Kleinklein der föderalen Egomanie.
Man erkennt, wir sind als Volk nicht vereint.
In jedem Bundesland wird "wir sind besser" gemeint.

Wie kommt man an einen Impftermin?
Endlich machen Endlos-Warteschleifen Sinn.
Ist Impfstoff noch übrig, weil ihn manche nicht wollen,
bleibt der Rest im Kühlschrank. Die Minister schmollen.
Wieso habt ihr euch Impfmobile nicht geliehen?
Wann wollt ihr die Arztpraxen endlich einbeziehen?

Wieso sorgtet ihr nicht für die nötigen Infrastrukturen,
bevor wir von geplanten Gratis-Schnelltests erfuhren?
Deutschland war doch mal Organisationsweltmeister.
Die Regierung aber bewegt sich zäh wie Kleister.

Bitte öffnet überall alles mit Hygienekonzept.
Sorgt dafür, dass man nirgends eine Impfung verschleppt.
Notfalls muss man sie halt einfach nur dem Nächsten geben.
Lasst die Menschen im Freien bitte wieder leben.
Und macht vor allem endlich einen sinnvollen Plan,
den man kapiert und an den man sich halten kann.

Eleganter kann man das kaum sagen, oder? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen dynamischen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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